Es waren die größten Proteste in Russland seit 2012. Zehntausende waren landesweit auf den Straßen, um ihren Unmut gegenüber der Politik zum Ausdruck zu bringen. Darunter vor allem Schüler, Jugendliche und Studenten.
Die Regierung schien überrascht vom Ausmaß der Proteste und die Sicherheitskräfte griffen hart durch. Allein in Moskau wurden zeitweise mehr als Tausend Menschen festgenommen, Oppositionsaktivist Nawalny ist zu 15 Tagen Arrest verurteilt worden. Nicht wenige Regierungskritiker rechnen jetzt mit neuen staatlichen Einschüchterungsversuchen.
Ist die Protestbewegung damit am Ende? Wie wird sich die Regierung bei weiteren Kundgebungen verhalten? Droht eine Repressionswelle? Woher kommt die Wut der Menschen? Und wie reagiert der Westen?
Darüber diskutierten:
- Gesine Dornblüth, freie Journalistin und ehemalige Deutschlandradio-Korrespondentin in Moskau
- Andrej Hunko, Mitglied des Bundestages für Die Linke
- Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa
Das Ausmaß der Proteste war "überraschend für den Kreml, die politische Elite und auch für Nawalny selber", meint die Journalistin Gesine Dornblüth. Allgemein seien viele davon ausgegangen, dass die russische Jugend wie auch die ältere Bevölkerung sich unpolitisch oder loyal zur Regierung verhalten würden. Aber die Demonstrationen zeigen, dass der Kreml den Draht zur Bevölkerung verloren hätte, meint Dornblüth.
Nawalny sei es gelungen, vor allem über das Internet eine "Gegenöffentlichkeit" aufzubauen und mit seinen Anti-Korruptions-Videos den "Ton des Volkes" zu treffen, so Osteuropa-Experte Manfred Sapper. "Deswegen reagiert das Regime so panisch. Das sind junge Menschen, die seit 17 Jahren nur Putin kennen" und jetzt auf die Straße gehen würden. Auf diese dezentrale Form des Widerstands hätte die Regierung – die im Westen stabiler erscheine als sie es wirklich ist – bisher keine Antwort gefunden, so Sapper weiter.
Bei weiteren Protesten nehmen die Repressionen zu
Für einen "differenzierten Blick" plädiert Andrej Hunko. Er meint, dass der Protest sich vor allem gegen Ministerpräsident Dmitri Medwedew, seine vermeintliche Sammlung von Häusern, Jachten und Weinbergen und gegen das politische Schweigen richte – nicht gegen die komplette russische Regierung. Er warnt auch davor, Nawalny als Hoffnungsträger aufzubauen. Der Oppositionsaktivist sei immer wieder mit umstrittenen rechten und nationalistischen Äußerungen aufgefallen, meint Hunko.
Sollte es zu weiteren Protesten kommen, wird der Staat die Zügel weiter anziehen, vermutet Dornblüth. Die Repressionen werden zunehmen. Auch sieht sie die Anti-Korruptions-Organisation von Alexej Nawalny in Gefahr: "Es deutet viel darauf hin, dass die bald geschlossen wird."
Russland an seine Verpflichtungen erinnern
Sapper glaubt: Das Regime braucht die Macht, um sich selbst zu bereichern. Etwa 10.000 Leute profitierten aus den Öl- und Gaseinnahmen - Ansätze von Spaltung in der Elite sehe er nicht.
Der Westen solle diese politischen Entwicklungen nicht einfach hinnehmen, ergänzt Manfred Sapper. Man müsse Russland immer wieder an seine Verfassung und die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft im Europarat erinnern. Dornblüth wirbt dafür, über den Tellerrand zu schauen und nicht nur die Teile der russischen Gesellschaft anzusprechen, die schon prowestlich denken würden. Man müsse mit den Menschen den Dialog suchen, die unter Umständen konformistisch, unpolitisch oder pro Putin sind. "Auch wenn das unerquicklich ist".