Die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan spricht im Sender rbb etwa von einem "Sound einer ganzen Zeit". Die Musik sei für die Demonstrierenden im Iran dazu da, den Widerstand aufrechtzuerhalten und zu zeigen, dass die Emotion nicht nur die einer kleinen Schicht sei. Zudem sei die Musik ein "Fenster nach draußen", um Menschen weltweit mitzunehmen und zu sagen: "Vergesst uns nicht." Neben Songs des Rappers Toomaj Salehi und der Sängerin Golazin Ardestani steht vor allem das Lied "Baraye" von Shervin Hajipour sinnbildlich für all diese Aspekte.
"Für das Tanzen auf den Straßen, für die Freiheit"
"Baraye" bedeutet auf Deutsch "für" oder "wegen". Die Tweets, die Shervin Hajipour vertont hat, thematisieren die roten Linien des Regimes: Für das Tanzen auf Straßen. Wegen der Angst sich zu küssen. Wegen der Sehnsucht nach einem normalen Leben. Für Studierende, für die Zukunft. Für inhaftierte Intellektuelle. Für ein Mädchen, das sich wünschte, ein Junge zu sein.
Und schließlich: "Baraye zan, zendegi, azadi" - für Frau, Leben, Freiheit. Die drei Wörter waren von Beginn an der wichtigste Slogan der Proteste. Der Iran-Experte Karim Sadjadpour schrieb schon kurz nach Veröffentlichung des Liedes: "Die beste Möglichkeit, den Aufstand im Iran zu verstehen, ist kein Buch oder Essay, sondern Shervin Hajipours Song." Die Journalistin und Iran-Expertin Natalie Amiri sagte dem Deutschlandfunk: "All das, was die Islamische Republik dem Volk in den 43 Jahren ihres Bestehens angetan hat, kommt in dem Lied vor."
Shervin Hajipours Lied wurde binnen 48 Stunden rund 40 Millionen Mal angeklickt und gilt als viralster Song der iranischen Geschichte. Der Post bei Instagram wurde später gelöscht, Shervin Hajipour wurde festgenommen und kam auf Kaution frei. Ihm wird nun Propaganda gegen das Regime vorgeworfen. Auf Instagram distanzierte er sich von seinem Lied, seither schweigt er. Daraufhin schlugen viele in den sozialen Netzwerken vor, seinem Lied eine Zeile hinzuzufügen: "Because of forced Instagram Stories", wegen erzwungener Stories bei Instagram.
Klassenzimmer, Campus, Café und Hausdach
"Baraye" ist zum Leitmotiv der Proteste geworden. Das Lied wird im Iran auf Hausdächern, in Autos und in Cafés gespielt. Schülerinnen schreiben die Worte auf die Tafeln im Klassenraum. Studierende singen das Lied auf dem Campus, Frauen singen es im Angesicht der Einsatzkräfte des Regimes. Es gibt zahllose Videos in den sozialen Netzwerken, die das dokumentieren.
Die Politologin Gilda Sahebi fasst mit ihrem Tweet in Worte, welche Bedeutung das Lied im Iran erlangt hat:
Nur ein Beleg dafür, dass der Song die Grenzen der Islamischen Republik hinter sich gelassen hat. Immer mehr Artikel würdigen das Lied und ordnen es ein - so schrieb etwa der britische Economist: "Iran’s repressive regime is being rocked by a song". Weiter heißt es: "Schläge, Verhaftungen und Schüsse haben es nicht geschafft, die Hymne zum Schweigen zu bringen".
Coldplay spielt "Baraye" in Buenos Aires
Mehr und mehr wird das Lied im Ausland gesungen, in erster Linie auf Solidaritätskundgebungen für die Proteste im Iran. Die iranisch-amerikanische Sängerin Rana Mansour veröffentlichte eine englische Version. Das Lied wurde auch als Choreographie bearbeitet und von einem niederländischen Ensemble getanzt. Besonders eindrücklich: das Konzert der Band Coldplay in Buenos Aires, das live in alle Welt gestreamt wurde.
Die britische Band spielte das Lied an zwei Abenden nacheinander - und auf der Bühne sang die iranische Exil-Schauspielerin Golshifteh Farahani den Text im Original auf Farsi. Baraye ist inzwischen so populär, dass der Song fast 100.000 Mal für die neue Kategorie "Best Song for Social Change" der renommierten Grammy-Musikpreise vorgeschlagen wurde.
Es gibt noch viele Baraye-Geschichten zu erzählen. Der Song wurde auch als Comic animiert. In Frankreich haben rund 50 Frauen und Männer - meist prominente Kulturschaffende - das Lied vertont, alle singen auf Farsi. Das Video hat die bekannte franko-iranische Künstlerin Marjane Satrapi ("Persepolis") gemacht, das Arrangement kommt von dem Musiker Benjamin Biolay. Und schließlich: Am 10. November wollen 18.000 Menschen das Lied in der Kölner Lanxess Arena singen, beim Jubiläumskonzert "30 Jahre Arsch huh - Wachsam bleiben!"
"Normal" von Toomaj Salehi
Und Baraye ist nicht der einzige Song, der mit den Protesten im Iran in Verbindung steht. Der iranische Rapper Toomaj Salehi etwa ist gerade erst verhaftet worden. Inzwischen kursiert auch von ihm ein Video, in dem er - ganz offensichtlich unter Zwang - davon spricht, "einen Fehler gemacht" zu haben. Seine Angehörigen berichten sogar von Folter. Toomaj Salehi zählt zu den prominentesten Unterstützern der Proteste und prangert die Missstände in seiner Heimat offen an - etwa Korruption und Machtmissbrauch. Hier sein Song "Normal":
"Es ist mein Recht" von Golazin Ardestani
Letztes Beispiel: das Lied "Hagham-e" von Golazin Ardestani. Der feministische Song gilt als eines der populärsten Lieder der iranischen Frauenbewegung. Der Kampf für das elementare Recht der Kleiderwahl steht hier für den Kampf für Frauen- und Freiheitsrechte. Die Verszeile „Dass der Wind auf der Straße durch meine Haare weht, ist mein Recht“ knüpft an die Parolen der iranischen Aktivistin Masih Alinejad (Biographie „Wind in meinen Haaren“ ) an. Golazin Ardastani, die in London lebt, war Mitglied der ersten Mädchen-Band Irans. Sie wird mit dem Satz zitiert: "The Islamic Republic must be afraid of my generation. We'll fight the regime."