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Protestkultur in Südostasien
Der Hunger nach Demokratie

Drei ausgestreckte Finger und Tee mit Milch - in Thailand, Myanmar, Hongkong und Taiwan demonstrieren junge Leute auf der Straße und im Netz und nutzen ähnliche Symbole. Thailand-Korrespondent Saksith Saiyasombut spricht im Dlf über "ein neues politisches Bewusstsein, bei gleicher Alltagskultur".

Saksith Saiyasombut im Gespräch mit Kolja Unger |
Proteste in Bangkok, Thailand. Die Menschen halten die Hände mit dem Drei-Finger-Gruß in die Luft, 15.10.2020
Der Drei-Finger-Gruß aus "Hunger Games" ist seit 2014 Protestsymbol in Thailand und wurde auch in Myanmar übernommen. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sakchai Lalit)
Seit einem dreiviertel Jahr beobachtet der Thailand-Korrespondent Saksith Saiyasombut die Proteste gegen die Militärregierung in Bangkok:
"Ich kann mich noch erinnern, wie nach einer Demonstration, bei der Wasserwerfer zum Einsatz gekommen sind, sich die Demonstrierenden mit Gummi-Schlauchboot-Enten beschützt haben und dann wurden diese gelben Gummi-Enten zum Maskottchen für den Widerstand."
Die Demonstrierenden hätten ein wenig an Humor eingebüßt, bedauert er.
Saiyasombut ist in Bremen als Kind thailändischer Eltern geboren und aufgewachsen. Seit elf Jahren berichtet er über das politische und soziokulturelle Geschehen in Thailand und seit fünf Jahren aus Bangkok für den panasiatischen Nachrichtensender CNA. Anders als viele internationale Journalisten spreche er die Sprache und brauche auch für die kulturellen Nuancen keine Übersetzer. Da er selbst in Deutschland "in einem Land mit einer demokratischen Historie" aufgewachsen sei, falle es ihm auch leichter, dies nach außen zu vermitteln, so Saiyasombut.

Interesse nur an Kuriosem

An der westlichen Berichterstattung über Südostasien störe ihn, dass sie oft nur stattfinde, wenn "etwas Kurioses" passiere. Etwa als Premierminister Prayut Chan-o-cha sich Anfang März auf einer Pressekonferenz zu einer wütenden Aktion gegen die Journalisten hinreißen ließ. "Das ging viral und viele Leute sehen diesen Schnipsel und denken sich 'Haha, ein kauziger alter Mann, der die erste Reihe mit Alkoholspray besprüht!' Das greift für mich zu kurz. Man könnte sich ja mal überlegen, was hat der für ein Verhältnis zur Presse, dass er so etwas macht?"

Protestkultur in Thailand und Myanmar – Ein Geben und Nehmen

Außerdem würden die Proteste in Thailand, Myanmar, Taiwan und Hongkong häufig in einen Topf geworfen. Das liegt natürlich auch an Gemeinsamkeiten innerhalb der Protestkultur:
"Man hat sich gegenseitig inspiriert", sagt Saiyasombut etwa in der Übernahme des Drei-Finger-Grußes aus dem Film "Hunger Games" erst für die Proteste in Thailand und nun auch in Myanmar.
"Hunger Games“ in Myanmar Drei Finger für die Demokratie. Drei ausgestreckte Finger der rechten Hand – ursprünglich der Rebellengruß aus der Filmreihe "Hunger Games" sind in Myanmar zum Symbol gegen die Militärdiktatur geworden. Für Südostasienexpertin Julia Behrens ähneln die Proteste "einem Katz- und Maus-Spiel".
Dies sei "ein typisches Beispiel für 'Live imitates Arts'". Auch an Hongkong habe man sich für die Proteste in Thailand stilistisch orientiert. "Und während der Proteste in Mynamar gab es ja auch viele Leute, die mit Töpfen und Pfannen gegen den Militärputsch demonstriert haben und das haben sich dann die Protestierenden in Thailand wiederum abgeguckt und kopiert."

Verschiedene Milch-Tee-Varianten

Dies wäre sicherlich ohne soziale Medien so nicht möglich gewesen. "Die jungen Leute informieren sich über Social Media, sie organisieren sich über Social Media und machen Aktivismus über Social Media." Hier gebe es auch eine Interkonnektivität zu den anderen Ländern.
Demonstranten in Myanmar halten Schilter hoch. Sie protestieren gegen den Militärputsch.
Entwicklung in Myanmar passt in das Gesamtbild Südostasiens Die Entwicklung weise in eine andere Richtung als in die Demokratisierung, sagte Andreas Lorenz. "Ich fürchte, dass der Traum, ein demokratisches Myanmar zu bekommen, erst einmal ausgeträumt ist."
Die sogenannte Milk-Tea-Alliance zwischen Neticens, also Netz-Bürger aus Thailand, Taiwan, Myanmar und Hongkong, sei im Internet entstanden, nämlich "typisch fürs Internet durch einen Shit-Storm-Streit zwischen Thailand und China, bei dem Taiwan und Hongkong Thailand zur Seite gesprungen sind", erläutert Saiyasombut. Die Solidarität in diesen auf Netzplattformen ausgetragenen Streits wurde durch Memes, also verschiedene geteilte Bilder mit Milch-Tee-Varianten ausgedrückt.
Milch-Tee-Getränke, wie zum Beispiel Bubble-Tea seien in vielen Ländern der Region sehr beliebt, so Saiyasombut, "einige interpretieren sie auch als Gegenthese zu China, wo Tee nicht mit Milch getrunken wird." Die in China fehlende Milch wurde in den Memes der Milk-Tea-Aliance zu einem subtilen Symbol für andere Dinge, die von den Protestierenden bemängelt werden: "Es hat was mit Demokratie zu tun, es hat was mit freier Meinungsäußerung zu tun und mit einer gewissen Freiheit von der Volksrepublik China."
Was alle vier Länder in unterschiedlichen Maßen und aus unterschiedlichen Gründen erleben oder erlebt haben, ist ein wachsender wirtschaftlicher, politischer und militärischer Einfluss Chinas in der Region.

Unterschiedliche Grade an Gewalt

Gleichzeitig gibt es aber auch starke Unterschiede etwa in den politischen Kulturen der Länder. Anders als Myanmar war Thailand stets unabhängig von der französischen Kolonialmacht und entwickelte sich 1932 in einen modernen, demokratischen Staat. Dennoch hat das Land bisher 13 Militärputsche erlebt.
Myanmar habe aber stets viel härter mit Militärdiktaturen gekämpft. Das Militär herrscht dort de facto seit 1962 und hat nach zehn Jahren, in denen es einen zivilen Regierungschef gab, nun, Anfang Februar wieder die gesamt Macht gewaltsam für sich beansprucht. In Myanmar habe es auch stets Proteste gegen das Militär gegeben, so Saiyasombut, "die wurden aber viel blutiger niedergeschlagen. Da wird mit viel viel härteren Bandagen gekämpft."
Staatsstreich In Myanmar hat wieder das Militär die Macht übernommen. Dabei gab es erst seit zehn Jahren einen zivilen Präsidenten als Staatsoberhaupt. Davor herrschte schon rund 50 Jahre lang eine Militärjunta. Was hat der Staatsstreich zu bedeuten?
Die Gewalt in Myanmar habe ganz andere Ausmaße als in Thailand. Bereits nach einem Monat habe es im Nachbarland "täglich Tote gegeben. Die Polizei und das Militär schießen auf Demonstranten", grenzt Saiyasombut die Gewalteskalation in Myanmar von der in Thailand ab.

Das neue politische Bewusstsein

Dass junge Menschen unter 30 sich in dem Maß politisch engagierten, habe es seit 20 Jahren in Thailand nicht gegeben und die Art, wie sie es tun, stelle auch ein Novum dar. Die Vorstellung der jungen Leute sei viel demokratischer als alles, was man bislang in Thailand habe.
"Für viele war die Zeit vor den letzten beiden Militärputschen 2014 und 2006 ein Experiment in Sachen Demokratie, das nie wirklich beendet wurde", so Saiyasombut. Die meisten dieser jungen Menschen wollten nun eine liberale Demokratie nach westlichen Vorbild, "mit Checks and Balances, mit Leuten, die man belangen kann, wenn etwas falsch läuft."

Drei Kernforderungen

Das versuchen die Protestierenden nun zu erstreiten. Ihre Ziele fasst Saksith Saiyasombut in drei Kernforderungen zusammen: "Der Rücktritt von Ministerpräsident Prayut Chan-o-cha, eine Verfassungsänderung und die Reform der Monarchie". Letzteres sei ein Novum. Bislang habe noch keine politische Bewegung den König in Frage gestellt.
Ministerpräsident Prayut Chan-o-cha ist 2014 als damaliger Armee-Chef, durch einen Putsch an die Macht gekommen ist. 2017 hat seine Regierung eine Verfassung erlassen, der trotz der Einführung freier Wahlen 2019, ihr mittels eines von ihr bestimmten Senats in einem Zweikammersystem die Vormacht sichert. "Eine von vielen Schikanen, wie die Kritiker sagen", kommentiert Saiyasombut. "Im Grunde werden die politischen Nachkommen der Militärregierung so in Stein gemeißelt und es wurde auch schwierig gemacht, die Verfassung zu ändern oder eine neue aufzusetzen."

Der Beginn einer Veränderung

Trotzdem müsse man feststellen, dass die Demonstrationen bereits einiges verändert habe, nämlich "dass junge Leute über ihre eigene Zukunft diskutieren und auch kämpfen." Ob und mit welcher Härte die Regierung in Zukunft auf die Proteste reagieren werde, wage er nicht zu beurteilen. Dem Motto der Demonstrierenden "Es endet mit unserer Generation", aber widerspricht er: "Ich glaube nicht, dass es mit dieser Generation endet, sondern das der Beginn einer Veränderung mit dieser Generation angefangen hat."