Ein milder Herbsttag im Siebengebirge. Dunst liegt über den nahen Hügeln, während Birgit Strässer ihr Pferd von der Weide zum nahen Reitstall führt.
"Super, hier ist mein wunderschöner großer Friese, und den habe ich seit knapp 15 Jahren", erzählt die 56-jährige Rheinländerin.
Reiten mochte sie schon als Kind. Irgendwann habe sie sich schließlich den Traum vom eigenen Pferd erfüllt. Bis vor einigen Jahren das Glück abrupt endete:
"Seit 2012 bin ich teilquerschnittgelähmt, mein linkes Bein ist komplett über das Gesäß gelähmt."
Eine misslungene Rücken-OP hat sie in diese Situation gebracht. Ein Schock, binnen weniger Wochen änderte sich das Leben der Verwaltungsfachangestellten von Grund auf:
Eine misslungene Rücken-OP hat sie in diese Situation gebracht. Ein Schock, binnen weniger Wochen änderte sich das Leben der Verwaltungsfachangestellten von Grund auf:
"Die Mobilität war so sehr eingeschränkt, dass ich die letzten vier Jahre fast nur noch im Rollstuhl sitzen konnte, ich konnte nur noch ganz wenige Schritte laufen."
Geschichte reicht zurück bis in das letzte Jahrhundert
Eine Katastrophe für Birgit Strässer. Aufgeben wollte sie sich aber nicht. Sie recherchierte im Internet und traf sich zu langen Gesprächen mit Orthopädietechnikern der Firma Protheofit im nahen Troisdorf. Von dort kam der Vorschlag, einen sogenannten C-Brace auszuprobieren, ein – wie es im Sozialversicherungsjargon heißt – "Hilfsmittel" des Unternehmens Otto Bock. Dessen Geschichte reicht zurück bis zu den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts.
"1919 nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine große Zahl von Kriegsversehrten ohne Beine, ohne Arme," sagt Mark Schneider, Pressesprecher von Otto-Bock-Healthcare.
"Otto Bock, der Gründer und Namengeber des Unternehmens, man muss sich das als eine Art Start-up vorstellen, hat sich dem angenommen als Orthopädietechniker und hat zum ersten Mal Passteile aus Holz, so vorgefertigte Teile benutzt, die dann angepasst wurden. Das hat neue Möglichkeiten in Geschwindigkeit und Zahl der Prothesen ermöglicht, war eigentlich die erste Revolution in der modernen Prothetik, und das ging alles in Berlin los."
Es waren damals unruhige Zeiten. Otto Bock kam bei einer Schießerei fast selber zu Tode. Grund genug, noch im selben Jahr in seine Heimat Thüringen zu ziehen. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges blieb er in Königsee, wo er seine Firma weiter aufbaute – wie viele andere Unternehmer auch, beschäftigte er zeitweise Zwangsarbeiter. Dann schlug das Zeitgeschehen wieder zu: Er wurde von den russischen Besatzern entschädigungslos enteignet. Wieder ein Grund für einen Ortswechsel, dieses Mal ins niedersächsische Duderstadt, wo er "Otto-Bock-Healthcare" zu einem führenden Konzern ausbaute. Bis zum Mauerfall, als die Firmenleitung beschloss, die enteigneten Thüringer Produktionsgebäude von der Treuhand zurückzukaufen:
"Und dort ein ganz neues Geschäftsfeld aufzubauen, das wir heute "Human Mobility" nennen, das Geschäft mit Rollstühlen."
Gehinderungen und Lähmungen durch Geräte kompensieren
Die Otto-Bock-Gruppe ist weltweit aktiv und produziert technische Hilfsmittel aller Art: Künstliche Hände und Knie, Prothesen für Amputierte, Orthesen für Gelähmte, Rollstühle usw. 2015 erwirtschafteten 7600 Mitarbeiter rund eine Milliarde Euro, Tendenz steigend. Die Geschäfte laufen auch deshalb so gut, weil die Ingenieure von Otto Bock früh die Möglichkeiten der Computertechnik erkannt haben.
Zu den bekanntesten Produkten zählt sicher C-Brace, ein System, mit dem bestimmte Gehbehinderungen und Lähmungen kompensiert werden können. Menschen, die sich wie die Rheinländerin Birgit Strässer vorher kaum oder nur stark eingeschränkt fortbewegen konnten, können wieder laufen.
"Das C-Brace ist die erste stand- und schwungphasengesteuerte Ganzbeinorthese", erklärt Patrick Punzet, Physiotherapeut bei der Protheofit GmbH Troisdorf, und zeigt auf das gelähmte Bein von Birgit Strässer. Bis zum Fuß steckt es in einer festgezurrten Halterung, der Orthese. Diese bewegt letztlich das gelähmte Bein, und zwar so, wie ein Nichtgelähmter es bewegen würde. Dafür sind in der Fußplatte und in der Beinhalterung Mikroprozessoren eingebaut, die registrieren, dass Birgit Strässer zum Beispiel aufstehen und gehen will. Erkennt der Rechner das, setzt er über Hydrauliksysteme die Orthese in Bewegung.
"Am Anfang kam ich mir wahnsinnig unsicher vor, mein Oberkörper wackelte auch irgendwie hin und her wie bei einem Hula-Hoop-Reifen. Es hat aber relativ schnell Klick in meinem Kopf gemacht." Birgit Strässer kann wieder gehen, vor allem aber kann sie wieder reiten!
"Das Ziel wird sein, und das ist keine Utopie mehr: Ich werde in absehbarer Zeit selbständig durch Hilfe meiner Therapeuten, die mit gezeigt haben, wie es geht, mein Pferd zu satteln, ohne dass ich meinem Rücken schade, und werde, vielleicht demnächst auch alleine aufsteigen."