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Protokolle eines Wohnunglücks
Ror Wolf: "Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie" Tagebuch 1966–1996

Neue Nachrichten aus der vermieteten Welt – Ror Wolfs erstmals veröffentlichte Tagebücher zeigen den heiklen Alltag eines unermüdlichen Schriftstellers und chronisch Wohnungssuchenden.

Von Wolfgang Schneider |
Ror Wolf: "Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie"
Ror Wolf schreibt in seinen Tagebüchern offen und rückhaltlos über sich, Kollegen, Freunde und den Literaturbetrieb. (Buchcover: Schöffling & Co.)
Die literarische Moderne, zu deren späten Ausläufern das Werk Ror Wolfs gehört, war eine Absetzbewegung von den realistischen Erzähl­­konventionen des 19. Jahrhunderts. Aber paradoxerweise besitzt kaum jemand eine solche Schwäche für diese bürgerliche Epoche wie der Schriftsteller und Künstler Ror Wolf.
Für sein albtraumschönes Collagen-Werk hat er die Illustrationen und Stiche der „Gartenlauben“-Zeit verwendet. Die Interieurs sind darauf so gediegen wie möglich, Männer sehen jederzeit wie huttragende „Herren“ aus. Die bürgerlichen Szenerien werden mit bedrohlichen Naturpanoramen surreal zusammengeschnitten. Hinter dem schweren Sofa bricht ein Vulkan aus, hundsgroße Insekten lassen sich auf ohnmächtig hingestreckten Menschen nieder; Wasserfluten schwemmen einen Gründer­zeitpalast hinweg.
Kalamitäten, Gefahren und bizarre Unglücke – Ror Wolfs Gedichte, Prosa und Bildwerke frönen der Katastrophenphantasie. Aber auch sein Alltag war katastrophenaffin, wie das nun aus dem Nachlass veröffentlichte Tagebuch 1966-1996 zeigt. Unter dem 27. Oktober 1976 heißt es:
„Plötzlich 15 Uhr: ein gewaltiger Erdstoß, vermutlich der Beginn eines Erdbebens, auf jeden Fall scheint der hintere Balkon abgebrochen zu sein. Aber er ist beim Nachschauen immer noch vor dem Fenster. Später will ich ins Bad, die Tür geht nicht auf: der Spiegelschrank ist herabgefallen.“ 
Alles andere als bekenntnisfreudig setzen die Aufzeichnungen ein – mit knappsten Notizen über Manuskriptablieferungen, Radiotermine, Lesungen. Ein großer Teil der Aufzeichnungen ist dem Tagesgeschäft des Schriftstellers gewidmet, Honorare, Literaturbetrieb, Autorentreffen et cetera.

Die Unbehaustheit in der Welt

Bald aber drängen sich andere leidvolle Themen mächtig dazwischen. Allen voran: Wolfs Wohn-Unglück. 1971 zieht er in ein unfertiges Frankfurter Hochhaus, 21. Stock. 
„Ein schleimiger Rundblick. Ölgestank aus den Raffinerien in der Ferne. Das unablässige Vorbeischieben von Automobilen, das Rauschen, die Autobahnen Kreuzungen die Kreisel die Brücken, tags nachts morgens abends von allen Seiten nach allen Seiten. Öltanks, Schornsteine, schleimiger oder sülziger Himmel.“
Die menschliche Unbehaustheit in der Welt – dieses philosophische Motiv wird bei Ror Wolf sehr konkret und existentiell. Wieder und wieder zieht er um. Der kleine Enthusiasmus, endlich auf dem, wie er schreibt „vergangsterten Wohnungsmarkt“, eine bessere Bleibe gefunden zu haben, verflüchtigt sich aber regelmäßig schnell. 1977 zieht er nach Mainz-Gonsenheim. Es ist vom ersten Tag an eine Wohnkatastrophe, die das Tagebuch eindringlich beschreibt. Mit dem trampelnden und heimwerkenden Nachbarn ist kein Frieden zu finden.
„Der Ingenieur Trost über uns bohrt und hämmert nach Herzenslust, vor allem Nachts. Der Bunker-Beton drückt mich zusammen. Die Müllabwurfschächte stinken. Die Aufzüge wimmern. Die amerikanischen Panzer schon in der Frühe und gelegentlich nachts… Ein Auto brennt ab vor dem Haus. Der Schweißfußgeruch der ganzen Welt.“
Ringsum sind amerikanische Truppen stationiert, knatternde Nahkampfübungen finden statt, im amerikanischen Teil des Hochhauskomplexes brechen wiederholt Feuer aus. Das Leben erscheint Wolf bisweilen wie ein befremdliches „Missverständnis“.
Schon Wolfs Prosadebüt „Fortsetzung des Berichts“ aus dem Jahr 1964 war ein Buch voller Wucherungen ins Absurde, das mit Kafka und Beckett verglichen wurde. Es verweigerte sich geläufigen Sinnerwartungen und epische Handlungsbögen – die waren bis auf weiteres unter dem Druck der Moderne zusammengebrochen. Wolf montierte Beschreibungen, Redensarten, Wortschwälle und Gebrauchtexte – Spracharbeit im Sinn der sechziger Jahre, die noch experimentelle Strenge atmeten, bevor der Avantgarde in den Siebzigern allmählich die Luft ausging und sich auch Wolfs Prosabücher wie „Pilzer und Pelzer“ oder „Die Gefährlichkeit der großen Ebene“ nur noch schlecht verkauften.

Verlagsquerelen

Der Autor haderte mit seiner Betreuung bei Suhrkamp. Verlagschef Siegfried Unseld konterte:
„Ihr Vorwurf ist der alte, klassische: Die Bücher eines Autors gehen nicht, und schuld ist der Verlag…“
Wolfs Bücher träfen den Nerv mancher Kritiker, aber nicht den des Publikums. Der Schriftsteller macht seinem Ärger im Tagebuch Luft:
„Der Verleger Unseld gehört seiner ganzen Natur nach zu den Gewinnern, und zwar zu der Sorte von Gewinnern, die gänzlich unfähig sind, sich einen Begriff zu machen von der Lage der partiell Erfolglosen. Angst hält er für Feigheit. Der Misserfolg stößt ihn ab. Er hält Misserfolg für Schwäche, Untüchtigkeit, für eine unanständige Krankheit.“
Mit Klaus Schöffling fand Ror Wolf schließlich einen Verleger, der sich ausdauernd um seine Werke bemühte.

Die welke Welt der DDR

Geboren wurde er als Richard Georg Wolf 1932 im thüringischen Saalfeld. Wegen seiner bürgerlichen Herkunft verweigerte man ihm in der DDR einen Studienplatz. Er arbeitete als Betonbauer und Eisenbieger, bis er 1953 in die Bundesrepublik übersiedelte. In die DDR reiste er zuerst wieder 1975 zur Beerdigung seiner Mutter. Das Tagebuch hält Eindrücke vom Grenzübergang fest:
„Beim Hineinfahren in die DDR ging das Aufklappen des Kofferraums ganz liebenswürdig vor sich. Der Offizier der Volksarmee an der Grenze war der freundlichste Offizier der Welt. Oh: Sie sind Schriftsteller? Ein hochinteressanter Beruf. Gute Reise und schöne Tage. Die Polizistin fragte ganz sanft, ganz entwaffnend: Sind sie im Besitz von Waffen? Und schon fuhr ich waffenlos weiter. – Und beim Hinausfahren hat man dann das Auto auseinandergerupft: Los, Sitze raus! Kofferraum Koffer Handschuhfach Brieftasche und sofort, alles schmetternd befehlshaberhaft reitstiefelhosenmäßig.“
In Saalfeld findet er alles „zugebunden und eingetrocknet“. Die Gegenstände in den Schaufenstern sind staubig, die DDR-Fähnchen welk, die Propaganda-Transparente verwaschen. Eine stillgestellte Welt. 1983 fährt er noch einmal nach Saalfeld. Das Tagebuch bietet sehr spezifische Eindrücke vom Niedergang der DDR:
„Wir essen etwas sehr Heißes im HO Imbiss, etwas bratwurstähnliches, ohne Überzeugung. Der hiesige Wurstverfall ist außerordentlich… Das Fleisch schmeckt hier so, als sei es bereits im Verfaulen, man rechnet eigentlich immer mit etwas Furchtbaren nach dem Essen… Hoppmanns erscheinen zum Kaffee. Die Torte schmeckt nach Brathering."
Die subtile Grotesk-Komik, die Wolfs Werke auszeichnet, findet sich auch in seinen Tagebüchern, weniger als literarisches Mittel denn als Qualität, die der widerspenstigen Realität selbst anzuhaften scheint.

Bruchstücke einer Autobiographie

Wolf plante zuletzt eine autobiographische Schrift, von der nur ein unveröffentlichtes Fragment existiert. Die Tagebücher sollten als Material dazu dienen. Jetzt bieten sie biographische Schlaglichter auf einen Autor, der lange dazu neigte, seine Lebensspuren zu verwischen. Wenn Wolf den Blick auf seine Herkunftswelt richtet, zeigt sich das Bild einer durch Kriegsgefangenschaft und DDR-Haft beschädigten Familie:
„Eines Tages kam meine Mutter aus dem Gefängnis zurück; sie redete nicht mehr sehr viel, sie saß viel im Sessel oder stand ratlos im Badezimmer. Und dann tauchte mein Vater auf, den ich jahrelang nicht gesehen hatte, mit kahlgeschorenem Kopf und einer wattierten Jacke. Und alle drei saßen wir da und wussten nicht, was wir sagen sollten. Es gab auch nicht viel zu sagen.“
Ror Wolf hat nie einen Liebesroman geschrieben. Stoff dazu hätte er gehabt. In den Tagebüchern ist eine unbekannte, affärenfreudige Seite des verheirateten Autors zu entdecken. Am ausführlichsten schildert er das wechselhafte, von der Lust am gegenseitigen Verletzen geprägte Verhältnis mit einer Frau E. Gemeinsam gehen sie auf Reisen, verbringen Nächte in Hotels. Man liest starke Szenen mit subtilen Beobachtungen und scharfkantigen Formulierungen. Einmal versucht der Autor, seine Beziehung zu Frau E. auf den Begriff zu bringen, aber der Satz wird darüber immer länger:
„Ein hochappetitliches Abenteuer; bei allen Bösartigkeiten amüsant und abwechslungsreich und aufregend und eigentlich ganz hübsch verrückt mit Verknotungen und Verwicklungen und Abbrüchen und Wiederanfängen und stöhnend und keuchend und zuweilen zart und gelegentlich ungemein schmackhaft und heimtückisch und gewaltsam hinterlistig schadenfroh unaufhaltsam bis an die Ränder des großen Vergnügens mit allen sich ausstreckenden Behaglichkeiten schlürfend und wippend mit ungeheurer Geschwindigkeit über die Straßen an allem vorbei undsofort undsoweiter…“
Wolfs Gesamtwerk ist zugleich monoman und von erstaunlicher Vielfalt. Die zahlreichen Balladen und Moritaten sind in der Neuauflage der Gesammelten Gedichte zu genießen. Sie mischen das Fatale à la Wilhelm Busch mit Loriots Knigge-Ton und dadaistischen Anwandlungen. Für Jan Wilm, der zum 90. Geburtstag eine angenehm unakademische Einladung zur Ror-Wolf-Lektüre geschrieben hat, ist das Prinzip der Collage – über die rein bildnerischen Werke hinaus – das grundlegende ästhetische Verfahren auch der Prosa, Hörspiele und Gedichte. Das Zusammenschneiden und Nebeneinanderstellen von Unzusammenhängendem ist eine zugleich destruierende und konstruktive Methode. Wolfs Alter Ego Raoul Tranchirer trägt das Zerschneidende ja schon im Namen. Eine andere Qualität ist aber ebenso grundlegend: der Humor, mit dem Ror Wolf die Welt als Vielfalt von Sprachspielen in Szene setzt. Die Freiheit des Schriftstellers besteht darin, die Regeln dieser Spiele zu bestimmen.
Ror Wolf: Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebücher 1966-1996.
Herausgegeben von Klaus Schöffling.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main. 344 Seiten, 32 Euro.

Jan Wilm: Ror. Wolf. Lesen.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main. 190 Seiten, 23 Euro.