Uli Blumenthal: Ein reich verzierter Hocker aus Kamerun, eine männliche Holzfigur aus Tansania oder eine Halskette der Herero aus Namibia. Objekte wie diese gelangten während der deutschen Kolonialzeit in die Sammlungen des Übersee-Museums Bremen. In einem auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekt "Koloniale Spuren im Übersee-Museum Bremen. Afrika-Sammlungen als Gegenstand der Provenienz-Forschung" untersucht Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, Arbeitsbereich Globalgeschichte der Universität Hamburg, seit 2017 die Herkunft und Geschichte der Sammlungen aus Kamerun, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika und ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Wie sieht die Arbeit beim Forschungsprojekt "Koloniale Spuren im Übersee-Museum Bremen. Afrika-Sammlungen" als Gegenstand der Provenienz-Forschung konkret aus?
Jürgen Zimmerer: Wir haben ein Team von drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, davon zwei aus Deutschland, ein Kollege aus Kamerun, die eben drei Sammlungen unter die Lupe nehmen, aus Kamerun, Namibia und aus Tansania, und im Grunde die Sammlungen inventarisieren und dann versuchen, über Quellen traditioneller Art in Deutschland, aber eben auch über Interviews und Feldforschung in den ehemaligen Kolonialgebieten mehr über die Herkunft dieser Objekte zu erfahren und im Grunde über das reine Auffinden der Provenienz der Sammlungen Methoden zu entwickeln, wie man mit kolonialer Provenienz insgesamt umgeht. Weil die Frage der Provenienz kolonialer Objekte eine sehr drängende ist. Die europäischen Museen sind eigentlich voll, und es gibt praktisch kaum Überlegungen und Versuche, wie man das in den Griff bekommt, denn viele dieser Sammlungen sind extrem schlecht dokumentiert.
Gespräche mit Menschen vor Ort
Blumenthal: Mit diesem Ansatz, den Sie verfolgen betreten Sie Neuland in der Erforschung einer Sammlungsgeschichte. Worin besteht dieser neue Ansatz und dieses Neuland, das Sie jetzt gemeinsam betreten?
Zimmerer: Dieses Neuland besteht darin, dass wir uns bewusst nicht nur auf die spektakulärsten Objekte, die Benin-Bronzen zum Beispiel, konzentrieren, sondern auf Sammlungen, die eben schlecht dokumentiert sind, weil diese Dokumente nie erfasst wurden oder verloren gingen. Und wir kombinieren im Grunde historische Quellenarbeit mit ethnologischen Ansätzen, um zu sagen, wenn wir ein Objekt oder ein Set von Objekten einer bestimmten Region zuordnen können, dass wir dann in diese Region reisen und praktisch im Gespräch mit Menschen dort, mit Nachkommen der Gebergesellschaften zu sagen, was ist eigentlich an lokaler Erinnerung bei euch noch da? Wisst ihr noch, wie das erworben wurde, wisst ihr noch, was diese Strafexpedition, die da 1907, 1909, 1904 oder wann auch immer, vor über hundert Jahren hier durchzog, was ist bei euch noch an Wissen da, und wie können wir rekonstruieren, wie diese Objekte im Grunde nach Europa kamen?
Und hier interessiert uns eben nicht nur, was die klassische Provenienzforschung interessiert – wie hat das Museum es erworben, von einem Kaufmann, von einem Kapitän, sondern eben auch vor allem der Übergang aus afrikanischer Hand in europäische Hand, also der ursprüngliche Wechsel. Wie gewaltförmig war der, wie fair war der? Und das unter der Annahme, dass der Kolonialismus ein System extremer Ungleichheit auch ist und im Grunde die Freiheit der Agierenden, der Kolonisierten, einfach beschränkte, weil der koloniale Staat entweder Druck anwandte oder dieser Druck im Hintergrund einfach präsent war, und dann auch die Deutungshoheit hatte, ob etwas legal erworben wurde oder nicht.
Blumenthal: Wie repräsentativ ist dieses Forschungsprojekt, das Sie die nächsten Jahre verfolgen, allgemein für die Provenienzforschung? Ist jedes Museum, ist jede Forschungseinrichtung, jede Sammlung, sind die in der Lage, solche Projekte zu stemmen, oder ist das so eine Art Pilotprojekt?
Zimmerer: Ich würde sagen, es ist ein Pilotprojekt in zweierlei Hinsicht. Zum einen die Ressourcenfrage, zu sagen, Museen können das nicht selbst stemmen. Aber weit wichtiger für den Gesamtkontext, und der gewinnt ja an Bedeutung vor allem auch mit dem Humboldt-Forum und mit diesen großen Sammlungen, ist, dass das Museum im Grunde eine unabhängige Instanz, nämlich die Universität hier ranlässt, und nicht im Grunde sagt, wir erforschen das alles innerhalb des Hauses mit unseren eigenen Leuten.
Denn es geht ja im Grunde darum, die Rolle auch der Museen insgesamt im Kolonialismus auszuloten und eben auch diesen Erwerbungskontext für ethnologische Museen generell in Frage zu stellen oder zu hinterfragen und hier eine unabhängige Stimme zuzulassen. Ist natürlich ein Schritt, der notwendig ist, denn in Analogie würde man sagen, man lässt ja auch nicht die Erben von Gurlitt selbst erforschen, wie der Erwerbungskontext von Sammlungen war. Und hier ist man also dann doch in Bremen weiter als in allen anderen Häusern, in denen überhaupt Provenienzforschung stattfindet.
"Ich sehe da jetzt eine Bereitschaft, etwas aufzuklären"
Blumenthal: Beim Zweiten Transnationalen Herero- und Nama-Kongress Anfang April in Hamburg hat Kultursenator Carsten Brosda die Volksgruppen der Herero und Nama um Vergebung gebeten. Wie steht die Politik zu dieser Form der Provenienzforschung des kolonialen Erbes? Was ist da an politischem Bewusstsein vorhanden, oder wo fehlt es an politischem Willen?
Zimmerer: Das politische Bewusstsein wurde in den letzten Monaten, im letzten Jahr geweckt über die Diskussion vor allem über das Humboldt-Forum, sodass sich ja auch im Koalitionsvertrag jetzt die Erforschung der Provenienz als Aufgabe wiederfindet. Allerdings würde ich sagen, ist das immer noch auch sehr als Rettung für das Humboldt-Forum gedacht, das ja durch das lange Ignorieren dieses kolonialen Kerns ins Schlingern geraten ist. Ich sehe da jetzt eine Bereitschaft, etwas aufzuklären.
Das Problem dabei ist eben diese Unabhängigkeit der Aufklärer, die auch im Grunde mit den Ergebnissen, die sie finden, frei an die Öffentlichkeit treten müssen oder die das können müssen. Und da ist im Grunde die Politik noch vage. Da sehe ich eher, dass man sagt, man verlagert Mittel in die Museen, um ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Aber wie gesagt, um Glaubwürdigkeit auch zu gewinnen, geht das eigentlich nur über unabhängige Aufklärer.
Blumenthal: Schluss mit dem falschen Frieden. Diese Aussage stammt von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Der Kolonialismus, so sagt er, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und eine wahre Barbarei gewesen. Und in fünf Jahren, so sein Plan, sollen die Voraussetzungen geschaffen werden für zeitweilige oder endgültige Restitutionen. Ist das realistisch, dieser Anspruch, der hier in Frankreich nach vorn getragen wird?
Zimmerer: Man wird sehen, ob in fünf Jahren das zu schaffen sein wird. Wahrscheinlich nicht, weil die Aufgabe gigantisch ist. Das Entscheidende an Macrons Äußerung ist, dass hier ein Regierungschef im Grunde diese Verantwortung und diese Problematik erkennt und ergebnisoffen zur Diskussion stellt – er sagt, ja, wir restituieren – und einen Beirat unabhängig einsetzt, der da Vorschläge erarbeitet. Während in Deutschland im Grunde man so weit ist, zu sagen, man verschiebt das auf eine europäische Kommission, wie der Präsident der Stiftung preußischer Kulturbesitz im Januar vorgeschlagen hat, weil man eine europäische Einigung braucht, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird, wenn man überhaupt alle europäischen Staaten an einen Tisch bringt und zu einer einheitlichen Position führt.
Dass Macron einfach sagt, ich führe im Grunde durch gutes Beispiel, indem ich einfach mal beginne, das ist etwas, das auf jeden Fall hier auch die deutsche Politik unter Druck setzt. Und man hätte sich gewünscht, es wäre letztes Jahr im Zuge der Debatten um das Humboldt-Forum passiert. Man hätte das Humboldt-Forum von Haus aus stärker positioniert eigentlich auch als Welt-Diskussionsforum mit so einem Vorschlag. Also, es kann gar nicht überbewertet werden, auch wenn man sehen wird, wie das im Einzelnen dann aussieht und wie lange das dauert und auf welche Widerstände Macron da treffen wird.
"Das wäre jetzt ein Paukenschlag"
Blumenthal: Wäre es ein Paukenschlag, wenn man bei der Eröffnung des Humboldt-Forums nicht die Originale ausstellen würde, sondern die Kopien, und damit auch gleichzeitig sagt, selbst das Stadtschloss ist eine Kopie, und wir stellen auch sozusagen als Anerkennung der Ansprüche aus unserem kolonialen Erbe jetzt nur noch die Kopien aus und entscheiden dann über die Rückgabe der Originale. Wäre so was überhaupt realistisch?
Zimmerer: Das wäre eine große Geste, weil man hat ja im Humboldt-Forum die absurde Situation, dass man einen Kult der Authentizität des Originals hat im Haus. Man will die Originale ausstellen in einem gefälschten Schloss, in einem Gebäude, das keine Authentizität hat. Das wäre jetzt ein Paukenschlag. Da, glaube ich, würde man auf einen Schlag die Diskussion in Deutschland fokussieren und sagen, ja, wir wollen jetzt nicht nur Preußentum verherrlichen, wir wollen nicht nur einen ethnologischen Blick irgendwie weitertransportieren und im Grunde ein Narrativ der Kulturgesellschaft Deutschland postulieren, sondern man würde tatsächlich sagen, wir führen die Debatte an, wir kennen sie, wir erkennen sie an, und wir stellen uns dieser Frage.
Blumenthal: In Ihrem Forschungsprojekt "Koloniale Spuren" im Überseemuseum Bremen, gehen Sie da auch der Frage nach, wie kann oder wie muss man diese Provenienzforschung, die Sie treiben, in musealen Präsentationsformen für die Öffentlichkeit kommunizieren und transparent machen? Ist das auch ein Gegenstand Ihrer Forschung?
Zimmerer: Grundlage des Projekts an sich ist die Überlegung, wir machen die Provenienzforschung, um sie eben auch darzustellen. Weil wir in der Provenienzforschung auch gesehen haben, dass die Provenienzforschung sehr tief in die Geschichte des Kolonialismus eingreift. Das heißt, man muss den Kolonialismus verstehen, um diese verschiedenen Erwerbungskontexte verstehen zu können. Und das ist im Grunde zurückzuspiegeln in die Ausstellung, weil die ethnologischen Museen vor allem eine Rolle hatten bei der Unterstützung des kolonialen Projekts im 19. und 20. Jahrhundert.
Das muss eben mit reflektiert werden, und das kann man machen, indem man einfach sagt, die Objekte in den Museen haben einen problematischen Erwerbungskontext, und sie haben ihn, und das muss man eben hinschreiben, solange man nicht nachgewiesen hat, dass der Erwerbungskontext nicht problematisch ist. Man muss im Grunde die Beweislast umkehren, weil das Machtungleichgewicht im Kolonialismus so groß war, dass man eigentlich von einem unrechtmäßigen Kontext ausgehen muss, bis das Gegenteil bewiesen ist. Denn man kann auch nicht sagen, man zeigt gar nichts mehr. Das heißt, man zeigt es, weist auf den problematischen Kontext hin und lädt alle Herkunftsgesellschaften eben ein, in eine ergebnisoffene Diskussion über die Zukunft dieser Objekte zu gehen. Das heißt, man muss erst mal die Sammlungen der Welt zeigen, denn man weiß nicht, was in den Magazinen, was in den Museen eigentlich schlummert. Das heißt, niemand kann sich auch, keine Herkunftsgesellschaft kann sich dazu positionieren, wenn sie gar nicht wissen, was da ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.