Andrzej Bart war vierzig Jahre alt, als er das Buch publizierte, das ihm erstmals die Aufmerksamkeit der Kritik einbrachte. Es hieß "Rien ne va plus" und erzählte von einem Gemälde, das innerhalb von zweihundert Jahren so oft den Besitzer wechselt, dass es dadurch Zeuge aller Schlüsselmomente der neueren polnischen Geschichte wird. Die Kritiker waren dermaßen beeindruckt, dass sie den Namen Andrzej Bart für das Pseudonym eines etablierten Autors hielten. Erst als er leibhaftig erschien, um einen Preis entgegenzunehmen, waren alle Zweifel zerstreut. Das war genau vor zwanzig Jahren. Seitdem hat Bart fünf weitere Romane geschrieben, und jedes Mal hat die Geschichte dabei eine zentrale Rolle gespielt. Allerdings besteht er darauf, sie auf eine ganz eigene Weise zu definieren.
"Ich beschäftige mich in meinen Büchern mit der Geschichte, man könnte sogar meinen, ich schreibe historische Romane. Doch Letzteres trifft nicht ganz zu. Ich benutze die Geschichte nur als eine Art Kostüm. Ob es "Rien ne va plus", "Die Fliegenfängerfabrik" oder ein anderes Buch ist – ich erzähle jedes Mal von mir und der Realität, die ich kenne. Ich kleide aber meine Figuren in historische Kostüme, damit das, was ich beschreibe, interessanter wirkt als die Welt vor dem Fenster. Diese Welt gefällt mir nämlich nicht besonders. In den zweitausend oder fünftausend Jahren der Vergangenheit finde ich viel mehr Material. Und ich finde dort einen Spiegel, den ich dem heutigen Leser vorhalten kann."
Die Vergangenheit, in die Andrzej Bart in der "Fliegenfängerfabrik" eintaucht, liegt etwa siebzig Jahre zurück. Und der Mann, den er hier zu seinem Hauptprotagonisten macht, ist eine der umstrittensten Gestalten dieser Zeit: der Vorsitzende des Judenrates im Ghetto von Lodz, Chaim Rumkowski – von den Ghettoinsassen "König Chaim der Erste" oder "Chaim der Schreckliche" genannt. Ein Emporkömmling, dem die Macht dermaßen zu Kopf gestiegen war, dass er sich wie ein absoluter Herrscher gab. Aber auch ein genialer Organisator, der das Ghetto in eine perfekt funktionierende Maschinerie verwandelte und so einige Tausend Menschen vor der Vernichtung bewahrte. Und um dessen eigenen Tod bis heute seltsame Gerüchte kursieren.
"Der Name Rumkowski tauchte in meinem Leben zum ersten Mal auf, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Damals erzählten sich die Erwachsenen seine Geschichte beziehungsweise die schwarze Legende, die mit ihm verbunden war, nur im Flüsterton – laut wurde nicht darüber gesprochen. Für ein Kind war diese Legende natürlich faszinierend. Sie besagt nämlich, dass Rumkowski aus dem Ghetto nach Auschwitz kam und dort von jüdischen Häftlingen, die aus Lodz stammten und einem Sonderkommando angehörten, zuerst respektvoll im Lager herumgeführt und dann bei lebendigem Leibe in einen Krematoriumsofen geworfen wurde. Bei einem Kind hinterlässt so etwas eine tiefe Narbe im Gehirn. Denn es kann sich vorstellen, dass eine böse Hexe etwas mit einem Ofen zu tun hat, aber nicht ein echter, lebendiger Mensch. Diese Geschichte hat mich also stark geprägt und all die vielen Jahre begleitet."
Auch als Schriftsteller hat Andrzej Bart lange gebraucht, um sich an den Fall Rumkowski heranzutrauen. Zum Glück für die Leser. Denn ohne sein heutiges Wissen wäre es, wie er selbst sagt, ein ganz anderer Roman geworden. Vor allem hätte er kaum diese Form gefunden, die sein Buch so faszinierend macht. Er inszeniert nämlich einen Prozess gegen Rumkowski, der teils realistische, teils traumatische Züge trägt: Die Menschen, die den Gerichtssaal bevölkern, sind teils seiner Fantasie, teils dem Geschichtsbuch entsprungen, wobei es im letzteren Fall keine Zeitgrenzen gibt. Neben einem anonymen Zuschauer sitzt also Hans Biebow, der deutsche Kommandant des Ghettos. Der Kinderarzt Janusz Korczak wechselt sich im Zeugenstand mit der Philosophin Hanna Arendt ab. Und Regina, Rumkowskis Frau – und eine der drei Erzähler des Romans – glaubt, an der Gestalt des Richters eine eigenartige Aura auszumachen...
"Er trug keine Toga oder sonst ein Attribut der Macht, doch sofort verstummten alle Gespräche. Selbst wenn er saß, schien er größer zu sein als alle anderen, doch musste das eine Täuschung sein. Die weiße Aureole seiner Haare ging auf wunderbare Weise in einen ebenso weißen Bart über, und die Augen unter den buschigen Brauen warfen abwechselnd drohende oder milde Blicke in die Runde, meist aber gelangweilte, als beschäftige ihn die Aufgabe, die er übernommen hatte, nicht gar zu sehr."
Es sind nicht allein die Figur des Richters und die zeitlose Zusammensetzung des Publikums, die dem Prozess die Züge des Jüngsten Gerichts verleihen. Es fängt schon mit dem Fremden an, der bei dem Haupterzähler und Alter Ego des Autors auftaucht und dessen Art und Aussehen haben etwas Teuflisches an sich. Er bittet ihn, einen Breslauer Schriftsteller, in seine Heimatstadt Lodz zu fahren und von einem dortigen Prozess zu berichten. So beginnt die Rekonstruktion der Geschichte Rumkowskis, die bei allem Erfolg wie eine shakespearesche Tragödie anmutet: Es gelang ihm zwar, das Ghetto in eine autonome Stadt zu verwandeln, in der es Schulen, Krankenhäuser, Kinderheime und vor allem Fabriken und Betriebe gab, die sehr effizient arbeiteten. So konnte er ihm die längste Existenz in Europa sichern. Doch er konnte dabei weder sich noch seine Familie retten. Und schon gar nicht die Menschengruppe, die am schnellsten den Tod fand, weil sie zu der Eigenart des Ghettos gar nicht passte: Juden aus dem Westen, durch die plötzlich zwei Welten zusammenstießen, die einander weder mochten noch brauchten.
"Der deutsche Jude, abschätzig "der Jecke" genannt, mit seiner Kenntnis Hegels und Goethes, in seinen teuren Jacketts und Westen, war für einen osteuropäischen Juden etwas Abstoßendes, weil er nicht religiös war. Das war das größte Verbrechen, das man sich hier vorstellen konnte: die nur gelegentliche, sporadische Religiosität des westlichen Juden. Und was passiert in Lodz? In dieses zum Bersten volle Ghetto, in dem eine Zwiebel mehr wert ist als eine goldene Uhr, werden zwanzig Tausend Juden aus dem Westen hineingepfercht."
Die Transporte kamen aus Wien, Berlin oder Prag – und mit ihnen zahllose Wissenschaftler, Juristen und Künstler. Die Cousinen von Sigismund Freund und die Schwestern von Franz Kafka waren auch dabei. Die schöne Dora, die der Erzähler aus dem Gerichtssaal zu einem Spaziergang durch Lodz entführt, zeigt ihm die Orte, an denen sie lebten. Nur für kurze Zeit, denn nach wenigen Monaten wurden sie alle ins Vernichtungslager Kulmhof gebracht und mit Autoabgasen getötet. Sie waren zu nichts fähig, was für das Ghetto von Nutzen sein konnte.
Wie entscheidet man über den Nutzwert eines Menschen? Darf man ein Leben opfern, um ein anderes zu retten? Muss man zu einem Despoten werden, um Macht wirksam auszuüben? Der Stimmenchor in Rumkowskis fiktivem Prozess kreist um solche Fragen, aber auch um elementare Begriffe wie Anstand und guter Geschmack. Denn nach Ansicht von Andrzej Bart ging es oft um nichts Anderes.
"Wir sind in einer schlimmen Lage: Es herrscht Krieg. In dieser schrecklichen Situation suchen wir nach gewissen Normen. Denn wir sitzen alle im selben Boot, jedem von uns droht ständig ein Peitschenhieb. Also sollten wir uns auch als gleich empfinden." So dachten die Leute im Ghetto. Rumkowskis Dummheit – denn anders kann man es nicht nennen – bestand also darin, dass sein Wunsch nach Privilegien und besseren Lebensbedingungen, nach Tanzen, Urlaub, Sonne und gutem Essen, stärker war als seine Vernunft. Dass er nicht verstand, dass man sich in diesen schrecklichen Zeiten und ausgerechnet im Ghetto so nicht verhalten durfte."
Rumkowskis Realitätsverlust nahm verschiedene Formen an: eine eigene Kutsche, Briefmarken mit seinem Abbild, Paraden ihm zu Ehren. Und dennoch: "Man kann kein schuldloser Regent sein. Allzu offensichtlich ist der Wahnsinn des Herrschens." Diese Worte, die einst im Prozess gegen Ludwig XVI. gefallen sind, sagt Rumkowskis Anwalt in seinem Schlussplädoyer. Allerdings nicht um ihn zu rechtfertigen, im Gegenteil – um schließlich selbst zu seinem Ankläger zu werden.
War es wert, Zeit für meinen Mandanten zu verlieren? Ja, und nochmals ja! Es war notwendig, ihm die falsche Überzeugung aus dem Kopf zu schlagen, er sei ein guter, fürsorglicher Jude gewesen, denn in Wirklichkeit war er nur ein aufgeblasener Dummkopf. Ich beantrage deshalb das härteste Urteil: Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewig als den in Erinnerung behält, der er war!
Die Worte des Anwalts werden von einer Geste begleitet, die den Angeklagten zusätzlich demütigen soll: Er entreißt ihm seinen Stock und schlägt damit auf einen Stuhl ein, der direkt neben ihm steht. Und obwohl er damit bewirkt, dass der alte Mann halb bewusstlos zu Boden sinkt, hat dieses wütende Eindreschen etwas Hilfloses an sich. Die Geschichte weiß immer noch nicht, wie sie mit Chaim Rumkowski umgehen soll. Und Andrzej Bart weiß es offenbar auch nicht – trotz aller Sorgfalt, mit der er ihn in seinem eindrucksvollen Buch porträtiert. Vielleicht betont er deshalb mit solchem Nachdruck, dass das Urteil des Anwalts auch sein eigenes sei.
"Ein Schriftsteller besitzt gewissermaßen göttliche Attribute. In einem meiner früheren Romane hatte ich eine Protagonistin sterben lassen, doch ihr Tod deprimierte mich dermaßen, dass ich sie in einem anderen Roman ein zweites Mal leben und eine andere Wahl treffen ließ. Um mir allerdings das Recht zu nehmen, über Chaim Rumkowski – also eine historische Gestalt – ein Urteil zu sprechen, musste ich selbst ziemlich lange leben. Auch um sicher zu sein, dass es ein gerechtes Urteil sein wird. Und heute bin ich absolut sicher, dass ich ein solches Urteil gefällt habe."
Andrzej Bart: Die Fliegenfängerfabrik
Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011
264 Seiten, 19.95 Euro
"Ich beschäftige mich in meinen Büchern mit der Geschichte, man könnte sogar meinen, ich schreibe historische Romane. Doch Letzteres trifft nicht ganz zu. Ich benutze die Geschichte nur als eine Art Kostüm. Ob es "Rien ne va plus", "Die Fliegenfängerfabrik" oder ein anderes Buch ist – ich erzähle jedes Mal von mir und der Realität, die ich kenne. Ich kleide aber meine Figuren in historische Kostüme, damit das, was ich beschreibe, interessanter wirkt als die Welt vor dem Fenster. Diese Welt gefällt mir nämlich nicht besonders. In den zweitausend oder fünftausend Jahren der Vergangenheit finde ich viel mehr Material. Und ich finde dort einen Spiegel, den ich dem heutigen Leser vorhalten kann."
Die Vergangenheit, in die Andrzej Bart in der "Fliegenfängerfabrik" eintaucht, liegt etwa siebzig Jahre zurück. Und der Mann, den er hier zu seinem Hauptprotagonisten macht, ist eine der umstrittensten Gestalten dieser Zeit: der Vorsitzende des Judenrates im Ghetto von Lodz, Chaim Rumkowski – von den Ghettoinsassen "König Chaim der Erste" oder "Chaim der Schreckliche" genannt. Ein Emporkömmling, dem die Macht dermaßen zu Kopf gestiegen war, dass er sich wie ein absoluter Herrscher gab. Aber auch ein genialer Organisator, der das Ghetto in eine perfekt funktionierende Maschinerie verwandelte und so einige Tausend Menschen vor der Vernichtung bewahrte. Und um dessen eigenen Tod bis heute seltsame Gerüchte kursieren.
"Der Name Rumkowski tauchte in meinem Leben zum ersten Mal auf, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Damals erzählten sich die Erwachsenen seine Geschichte beziehungsweise die schwarze Legende, die mit ihm verbunden war, nur im Flüsterton – laut wurde nicht darüber gesprochen. Für ein Kind war diese Legende natürlich faszinierend. Sie besagt nämlich, dass Rumkowski aus dem Ghetto nach Auschwitz kam und dort von jüdischen Häftlingen, die aus Lodz stammten und einem Sonderkommando angehörten, zuerst respektvoll im Lager herumgeführt und dann bei lebendigem Leibe in einen Krematoriumsofen geworfen wurde. Bei einem Kind hinterlässt so etwas eine tiefe Narbe im Gehirn. Denn es kann sich vorstellen, dass eine böse Hexe etwas mit einem Ofen zu tun hat, aber nicht ein echter, lebendiger Mensch. Diese Geschichte hat mich also stark geprägt und all die vielen Jahre begleitet."
Auch als Schriftsteller hat Andrzej Bart lange gebraucht, um sich an den Fall Rumkowski heranzutrauen. Zum Glück für die Leser. Denn ohne sein heutiges Wissen wäre es, wie er selbst sagt, ein ganz anderer Roman geworden. Vor allem hätte er kaum diese Form gefunden, die sein Buch so faszinierend macht. Er inszeniert nämlich einen Prozess gegen Rumkowski, der teils realistische, teils traumatische Züge trägt: Die Menschen, die den Gerichtssaal bevölkern, sind teils seiner Fantasie, teils dem Geschichtsbuch entsprungen, wobei es im letzteren Fall keine Zeitgrenzen gibt. Neben einem anonymen Zuschauer sitzt also Hans Biebow, der deutsche Kommandant des Ghettos. Der Kinderarzt Janusz Korczak wechselt sich im Zeugenstand mit der Philosophin Hanna Arendt ab. Und Regina, Rumkowskis Frau – und eine der drei Erzähler des Romans – glaubt, an der Gestalt des Richters eine eigenartige Aura auszumachen...
"Er trug keine Toga oder sonst ein Attribut der Macht, doch sofort verstummten alle Gespräche. Selbst wenn er saß, schien er größer zu sein als alle anderen, doch musste das eine Täuschung sein. Die weiße Aureole seiner Haare ging auf wunderbare Weise in einen ebenso weißen Bart über, und die Augen unter den buschigen Brauen warfen abwechselnd drohende oder milde Blicke in die Runde, meist aber gelangweilte, als beschäftige ihn die Aufgabe, die er übernommen hatte, nicht gar zu sehr."
Es sind nicht allein die Figur des Richters und die zeitlose Zusammensetzung des Publikums, die dem Prozess die Züge des Jüngsten Gerichts verleihen. Es fängt schon mit dem Fremden an, der bei dem Haupterzähler und Alter Ego des Autors auftaucht und dessen Art und Aussehen haben etwas Teuflisches an sich. Er bittet ihn, einen Breslauer Schriftsteller, in seine Heimatstadt Lodz zu fahren und von einem dortigen Prozess zu berichten. So beginnt die Rekonstruktion der Geschichte Rumkowskis, die bei allem Erfolg wie eine shakespearesche Tragödie anmutet: Es gelang ihm zwar, das Ghetto in eine autonome Stadt zu verwandeln, in der es Schulen, Krankenhäuser, Kinderheime und vor allem Fabriken und Betriebe gab, die sehr effizient arbeiteten. So konnte er ihm die längste Existenz in Europa sichern. Doch er konnte dabei weder sich noch seine Familie retten. Und schon gar nicht die Menschengruppe, die am schnellsten den Tod fand, weil sie zu der Eigenart des Ghettos gar nicht passte: Juden aus dem Westen, durch die plötzlich zwei Welten zusammenstießen, die einander weder mochten noch brauchten.
"Der deutsche Jude, abschätzig "der Jecke" genannt, mit seiner Kenntnis Hegels und Goethes, in seinen teuren Jacketts und Westen, war für einen osteuropäischen Juden etwas Abstoßendes, weil er nicht religiös war. Das war das größte Verbrechen, das man sich hier vorstellen konnte: die nur gelegentliche, sporadische Religiosität des westlichen Juden. Und was passiert in Lodz? In dieses zum Bersten volle Ghetto, in dem eine Zwiebel mehr wert ist als eine goldene Uhr, werden zwanzig Tausend Juden aus dem Westen hineingepfercht."
Die Transporte kamen aus Wien, Berlin oder Prag – und mit ihnen zahllose Wissenschaftler, Juristen und Künstler. Die Cousinen von Sigismund Freund und die Schwestern von Franz Kafka waren auch dabei. Die schöne Dora, die der Erzähler aus dem Gerichtssaal zu einem Spaziergang durch Lodz entführt, zeigt ihm die Orte, an denen sie lebten. Nur für kurze Zeit, denn nach wenigen Monaten wurden sie alle ins Vernichtungslager Kulmhof gebracht und mit Autoabgasen getötet. Sie waren zu nichts fähig, was für das Ghetto von Nutzen sein konnte.
Wie entscheidet man über den Nutzwert eines Menschen? Darf man ein Leben opfern, um ein anderes zu retten? Muss man zu einem Despoten werden, um Macht wirksam auszuüben? Der Stimmenchor in Rumkowskis fiktivem Prozess kreist um solche Fragen, aber auch um elementare Begriffe wie Anstand und guter Geschmack. Denn nach Ansicht von Andrzej Bart ging es oft um nichts Anderes.
"Wir sind in einer schlimmen Lage: Es herrscht Krieg. In dieser schrecklichen Situation suchen wir nach gewissen Normen. Denn wir sitzen alle im selben Boot, jedem von uns droht ständig ein Peitschenhieb. Also sollten wir uns auch als gleich empfinden." So dachten die Leute im Ghetto. Rumkowskis Dummheit – denn anders kann man es nicht nennen – bestand also darin, dass sein Wunsch nach Privilegien und besseren Lebensbedingungen, nach Tanzen, Urlaub, Sonne und gutem Essen, stärker war als seine Vernunft. Dass er nicht verstand, dass man sich in diesen schrecklichen Zeiten und ausgerechnet im Ghetto so nicht verhalten durfte."
Rumkowskis Realitätsverlust nahm verschiedene Formen an: eine eigene Kutsche, Briefmarken mit seinem Abbild, Paraden ihm zu Ehren. Und dennoch: "Man kann kein schuldloser Regent sein. Allzu offensichtlich ist der Wahnsinn des Herrschens." Diese Worte, die einst im Prozess gegen Ludwig XVI. gefallen sind, sagt Rumkowskis Anwalt in seinem Schlussplädoyer. Allerdings nicht um ihn zu rechtfertigen, im Gegenteil – um schließlich selbst zu seinem Ankläger zu werden.
War es wert, Zeit für meinen Mandanten zu verlieren? Ja, und nochmals ja! Es war notwendig, ihm die falsche Überzeugung aus dem Kopf zu schlagen, er sei ein guter, fürsorglicher Jude gewesen, denn in Wirklichkeit war er nur ein aufgeblasener Dummkopf. Ich beantrage deshalb das härteste Urteil: Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewig als den in Erinnerung behält, der er war!
Die Worte des Anwalts werden von einer Geste begleitet, die den Angeklagten zusätzlich demütigen soll: Er entreißt ihm seinen Stock und schlägt damit auf einen Stuhl ein, der direkt neben ihm steht. Und obwohl er damit bewirkt, dass der alte Mann halb bewusstlos zu Boden sinkt, hat dieses wütende Eindreschen etwas Hilfloses an sich. Die Geschichte weiß immer noch nicht, wie sie mit Chaim Rumkowski umgehen soll. Und Andrzej Bart weiß es offenbar auch nicht – trotz aller Sorgfalt, mit der er ihn in seinem eindrucksvollen Buch porträtiert. Vielleicht betont er deshalb mit solchem Nachdruck, dass das Urteil des Anwalts auch sein eigenes sei.
"Ein Schriftsteller besitzt gewissermaßen göttliche Attribute. In einem meiner früheren Romane hatte ich eine Protagonistin sterben lassen, doch ihr Tod deprimierte mich dermaßen, dass ich sie in einem anderen Roman ein zweites Mal leben und eine andere Wahl treffen ließ. Um mir allerdings das Recht zu nehmen, über Chaim Rumkowski – also eine historische Gestalt – ein Urteil zu sprechen, musste ich selbst ziemlich lange leben. Auch um sicher zu sein, dass es ein gerechtes Urteil sein wird. Und heute bin ich absolut sicher, dass ich ein solches Urteil gefällt habe."
Andrzej Bart: Die Fliegenfängerfabrik
Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011
264 Seiten, 19.95 Euro