Auf diesen Prozess hat Hedy Bohm ein Menschenleben lang gewartet. 70 Jahre nach dem Ende ihrer Leidenszeit in Auschwitz sitzt die alte Dame in Lüneburg einem Wald von Kameraobjektiven und Mikrofonen gegenüber:
"Ich hätte nie gedacht, dass ich zu meinen Lebzeiten noch einmal einen solchen Prozess erleben würde. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich dabei sein darf."
50 Auschwitz-Überlebende vertreten die Rechtsanwälte Thomas Walter und Cornelius Nestler als Nebenkläger. Doch nur zwölf von ihnen sind noch in der Verfassung, um dem Prozess in Lüneburg beizuwohnen. Ein Greis ist auch der Angeklagte. Hedy Bohm wird im Prozess gegen den 93-jährigen Oskar Gröning aussagen. Als SS-Sturmmann soll Gröning nicht selbst getötet haben.
Der gelernte Bankkaufmann war Buchhalter in Auschwitz. Im Sommer 1944 soll er im Konzentrationslager dabei geholfen haben, das Gepäck der ankommenden Häftlinge, jüdische Ungarn zumeist, beiseitezuschaffen und nach Geld zu durchsuchen. Über die für die Berliner Zentrale geraubten Devisen hat er Buch geführt. Mit seinem Dienst in der Verwaltung und auf der Rampe von Auschwitz habe der Angeklagte zum reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschinerie beigetragen, heißt es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hannover.
"Justiz hat über fünf Jahrzehnte versagt"
Hedy Bohm sagt, vor allem mit Blick auf die Zukunft hätte der Prozess eigentlich schon vor Jahrzehnten geführt werden müssen:
"Wer heute Verbrechen verübt, muss wissen, es gibt Gesetze, und er wird sich eines Tages rechtfertigen müssen. Und niemals wieder darf sich einer darauf berufen, er sei ja nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen."
Ein erstes Ermittlungsverfahren gegen Gröning und Dutzende weitere Männer aus der Häftlingsgeldverwaltung hatte die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main 1985 eingestellt. Verfahren wie jenes, das am Morgen vor dem Landgericht in Lüneburg beginnen soll, wurden erst möglich, weil die Justizbehörden seit dem Urteil gegen den ehemaligen KZ-Wachmann John Demjanjuk von 2011 nicht mehr auf dem Nachweis einer direkten Beteiligung an den Mordtaten bestehen.
Doch es dauerte Jahre, bis die Ermittler handelten. Erst im Februar letzten Jahres durchsuchten sie in elf Bundesländern die Häuser und Wohnungen ehemaliger Auschwitz-Wachleute. Rechtsanwalt Nestler spricht von einem Skandal:
"Die Justiz hat über fünf Jahrzehnte lang versagt, indem sie Verfahren, die sie eigentlich hätte durchführen müssen, nicht durchgeführt hat. Das Wichtigste an dem Verfahren ist, dass die Nebenkläger, unsere Mandanten, Gerechtigkeit dadurch bekommen, dass sie die Möglichkeit haben, noch einmal an so einem Verfahren teilzunehmen, ihre Geschichte zu erzählen. Und dass sie vor allem auch sehen, dass jeder, der an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt war, sich der Verantwortung stellen muss."
Späte Genugtuung für Auschwitz-Überlebende
Gröning hat seine Erlebnisse in Auschwitz aufgeschrieben, die Abläufe später auch in Vernehmungen geschildert. Die Ermittler schließen daraus, dass er vom Massenmord wusste. Für Nebenklage-Anwalt Nestler wird das Verfahren auch um die Frage kreisen:
"Ob man in Auschwitz mitmachen konnte, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Das ist das, was Herr Gröning ja sagt. Und in vielerlei Hinsicht gebührt ihm auch Respekt. Er ist eben einer von denen, die ihre Anwesenheit in Auschwitz zugegeben haben."
Beihilfe zum Mord sei seinem Mandanten nicht vorzuwerfen, erwidert Grönings Verteidiger Hans Holtermann. Der Hannoveraner Rechtsanwalt argumentiert, sein Mandant sei immer erst nach dem Abschluss der Selektionen an der Rampe erschienen. Der Angeklagte lebte lange unbehelligt in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide, weshalb das Landgericht Lüneburg zuständig ist.
Auch die Auschwitz-Überlebende Eva Fahidi ist aus Budapest angereist, um das Verfahren durchzustehen. Den Journalisten sagt die alte Dame, sie empfinde so etwas wie späte Genugtuung:
"Weil ich da bin. Es ist mehr als ein Wunder. Ich hab das Gefühl, mir war das Leben noch etwas schuldig und jetzt habe ich es!"