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Prozess in Frankreich
Zehn Jahre nach den Vorstadtunruhen

Im Oktober 2005 brannten in Frankreich die Banlieues. Zündfunk für die soziale Revolte war der Tod von zwei Minderjährigen in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. Jetzt stehen zwei Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht. Doch auch soziale Apartheid könnte eine Rolle gespielt haben.

Von Bettina Kaps |
    Im Oktober 2005 kam es zu Unruhen in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois.
    Im Oktober 2005 kam es zu Unruhen in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. (picture alliance/dpa/Matthieu De Martignac)
    "Zehn Jahre nach der Tat! Ganz offensichtlich wollte man verhindern, dass dieser Fall jemals vor Gericht verhandelt wird", sagt Rechtsanwalt Jean-Pierre Mignard. Der bekannte Jurist vertritt die Familien der beiden Jungen, die im Oktober 2005 zu Tode kamen. Vier Mal hatte die Staatsanwaltschaft beantragt, das Verfahren einzustellen.
    "Man hat sich wohl gesagt: Vielleicht tut die Zeit ihren Dienst, vielleicht geben die Familien auf oder sie entziehen uns, ihren Rechtsanwälten, das Vertrauen. Zehn Jahre, das ist unglaublich. Hier geht es um Familien, die wenig Geld haben und sich keine aufwendigen Verfahren leisten können."
    Dabei sind die Fakten unbestritten – Mignard bedankt sich ausdrücklich bei der Aufsichtsbehörde der Polizei: Sie habe hervorragende Arbeit geleistet und den Tathergang völlig unparteiisch ermittelt.
    Ein Großeinsatz mit Folgen
    Es war am 27. Oktober 2005. Einige Jungen aus der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois gingen vom Fußballspiel nach Hause. Als ein Polizeiauto auftauchte, rannten sie sofort weg. Die Polizisten aber wollten sie abfangen und kontrollieren, sie forderten Verstärkung an. Fünf Einsatzwagen mit 14 Beamten verfolgten die Minderjährigen. Drei der Jungen flüchteten in eine Strom-Umspannstation. Ein Polizist, der sie beobachtet hatte, sagte über Funk: "Ich gebe nichts auf ihre Haut"
    Diesen Satz werde er nie vergessen, sagt Adel Benna, der Bruder des verstorbenen Zied, bei einer Pressekonferenz in der Anwaltskanzlei.
    "Das hat uns besonders weh getan, dieses 'Ich gebe nichts auf ihre Haut'. Der Polizist hat weder das Elektrizitätswerk angerufen noch die Feuerwehr, das hat uns extrem schockiert."
    Bouna Traoré, 15 Jahre alt, und Zied Benna, 17 Jahre, starben durch Stromschlag, nur Muhittin Altun konnte sich mit schweren Verbrennungen retten. Dem Polizisten und seiner Kollegin, die den Funkspruch aufgenommen hatte, wird jetzt wegen "unterlassener Hilfeleistung" der Prozess gemacht.
    Ein vermeidbares Drama
    Rechtsanwalt Jean-Pierre Mignard betont, dass es ihm nicht um die Köpfe der beiden Beamten gehe. Der Prozess müsse vielmehr aufzeigen, welche Umstände zu diesem fürchterlichen Unfalltod geführt haben.
    Es wäre nie zu diesem Drama gekommen, wenn es in Clichy-sous-Bois keine soziale Apartheid gegeben hätte, sagt der Jurist. Er greift bewusst den drastischen Begriff auf, mit dem Premierminister Manuel Valls vor Kurzem die Zustände in vielen französischen Vororten beschrieben hatte. Apartheid, erklärt Mignard, heiße
    "Zwei getrennte Welten, die sich nicht kennen und die vor einander Angst haben. Die Jungen haben sich nichts vorzuwerfen, trotzdem rennen sie vor der Polizei weg. Die Polizisten verfolgen die Jungen, ohne zu wissen, warum. Es ist absurd und endet tragisch. Eigentlich handelt es sich hier um ein Verbrechen der Gleichgültigkeit. Ich helfe nicht, weil mir der Andere fremd ist, weil er mein Feind sein könnte."
    Der Rechtsanwalt will darauf hinwirken, dass der Prozess die Fronten nicht weiter verhärtet, sondern versöhnend wirkt. Das erhofft sich auch Siaka Traoré, der Bruder des verstorbenen Bouna.
    "Wir haben Rechte und Pflichten, wie alle anderen Bürger, aber unsere Rechte werden oft vergessen. Wir wollen erreichen, dass das Gesetz jetzt zu unseren Gunsten eingesetzt wird, dass die Rechtsprechung kein Privileg für gewisse soziale Schichten ist. Wenn wir diesen Prozess gewinnen, wird unser Vertrauen in die Gesellschaft wachsen."
    Alleingelassen
    Vor Gericht wird auch Muhittin Altun aussagen. Der Überlebende ist inzwischen 26 Jahre alt und psychisch gestört, sagt sein Anwalt. Das hat seinen Grund: Nach dem schrecklichen Unfall war der Junge nie psychisch behandelt worden. Er selbst und die Familien der Toten haben bisher auch nicht die geringste Entschädigung erhalten.
    Da es sich um einen sensiblen Fall handelt, wurde der Prozess nach Rennes verlegt. Ein Unterstützungsverein in Clichy-sous-Bois hat Geld gesammelt und einen Bus gemietet, damit sich Angehörige und Zeugen die Reise in die Bretagne überhaupt leisten können. Den Polizisten drohen maximal fünf Jahre Gefängnis.