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Psychiatrien im Nationalsozialismus
Feige Angriffe auf die Schwächsten

Im Nationalsozialismus wurden Hunderttausende psychisch kranke Menschen ermordet - von anerkannten Reformpsychiatern. Eine Ausstellung in Berlin dokumentiert dieses dunkle Kapitel der Wissenschaft. Über Einzeloporträts der Mediziner will Kuratorin Petra Lutz die Gedankengänge und Abhängigkeiten deutlich machen, die zu den Gräueltaten führen konnten.

Petra Lutz im Gespräch mit Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: Die Stiftung "Topografie des Terrors" in Berlin dokumentiert nicht nur die Orte des nationalsozialistischen Schreckensregimes in der Hauptstadt. Sie ist immer wieder auch der Ort für Wechselausstellungen, die sich mit jener Zeit und jenem Thema befassen. Seit dieser Woche werden dort Geschichte, Schicksal und Leiden der Psychiatrieopfer gezeigt: Der bis zu 400.000 Menschen, die ab 1934 zwangssterilisiert wurden, und jener über 200.000 Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten der Nazis ermordet wurden – von willfährigen Ärzten, Pflegern und Schwestern. Erarbeitet hat die Ausstellung für die "Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde" die Kuratorin Petra Lutz, und an sie geht zunächst einmal die Frage: Wie gut ist dieser Teil der deutschen Geschichte denn historisch aufgearbeitet? Worauf konnten Sie Ihre Ausstellung gründen?
    Petra Lutz: Das ist ein Teil der Geschichte, der sehr lange nicht aufgearbeitet worden ist. Das hat eigentlich erst in den 1980er-Jahren angefangen. Inzwischen, kann man sagen, gibt es wirklich ein solides Fundament historischen Wissens, ohne das wir diese Ausstellung auch gar nicht hätten machen können.
    Koldehoff: Ist schon 1933 klar geworden, dass diese Menschen irgendwann mal umgebracht würden?
    Lutz: Ich glaube nicht, dass das für die damals Lebenden klar gewesen ist. Man sieht natürlich im Nachhinein die Linien, die da hinführen. Ich glaube nicht, dass es zu dieser Zeit eine Zwangsläufigkeit gegeben hat, sondern dass sich da bestimmte Bestrebungen in der Psychiatrie und die politische Situation und die Bestrebungen der Politik sehr ergänzt und gegenseitig potenziert haben.
    Koldehoff: Waren sich die Täter damals bewusst, dass sie Taten begehen, dass sie Verbrechen begehen, oder glaubten die, dass die tatsächlich was Gutes fürs Volk und für die Wissenschaft tun?
    Lutz: Das frappierende und eben auch vielleicht das besonders Beängstigende ist, dass viele der hauptsächlich beteiligten Ärzte, Psychiater, damals sehr fortschrittliche Ärzte waren, sich als sehr fortschrittliche Ärzte verstanden haben und einen großen Anspruch hatten, eigentlich die Psychiatrie zu reformieren, die Patienten jetzt zu heilen und nicht mehr nur wegzusperren, aber mit dem Faktum, dass sie nicht alle heilen konnten, dass es weiterhin Unheilbare gab, offenbar nicht umgehen konnten, und dass wir praktisch viele Täter haben, die sicherlich subjektiv der Meinung gewesen sind, gute Psychiater gewesen zu sein.
    Koldehoff: Wie können Sie so was als Kuratorin in einer Ausstellung zeigen? Welche Möglichkeiten haben Sie da?
    Lutz: Wir machen in der Ausstellung sehr viel an Einzelfällen fest. Gerade jetzt das, was ich geschildert habe, dass gerade Reformpsychiater oft diese Morde dann begangen haben, zeigen wir zum Beispiel an Valentin Faltlhauser, vor 1933 als Reformpsychiater sehr anerkannt, hat Arbeitstherapien mit eingeführt, und nach 1933 schon von Anfang an maßgeblich an Zwangssterilisationen beteiligt und dann an allen Mordaktionen, die gewesen sind. In seiner eigenen Anstalt in Kaufbeuren sind Tausende Patienten umgekommen, ermordet worden, und er war auch Gutachter für die Gasmorde.
    Reflexionen von heutigen Psychiatern
    Koldehoff: Wenn man mit Mitarbeitern in Gedenkstätten spricht, dann thematisieren die im Moment das Aussterben der Opfergeneration. Es gibt niemanden mehr, der authentisch von dieser Zeit berichten kann, weil er sie noch miterleben musste. Wie ist das in Ihrem Bereich? Gibt es noch Psychiatrieopfer aus der NS-Zeit, die in Ihrer Ausstellung beispielsweise oder in Dokumenten eins zu eins berichten können, was ihnen angetan wurde?
    Lutz: Wir arbeiten sehr viel mit Dokumenten, wo Opfer erzählen, was ihnen angetan worden ist. Schon die historischen Dokumente sind natürlich da nur sehr begrenzt, weil die Ermordeten können nicht mehr sprechen. Aber Zeugnisse von Zwangssterilisierten, oder auch ein Zeugnis von einer Patientin, die in einer Mordanstalt gewesen ist und aber dort wieder wegverlegt worden ist, aber dann aus ihrer Sicht die Vorgänge dort geschildert hat, die zeigen wir. Es gibt noch Menschen, die zwangssterilisiert worden sind, die sind aber jetzt sehr alt und treten eigentlich nicht mehr öffentlich auf.
    Koldehoff: Wie reagiert die Ärzteschaft heute auf eine solche Ausstellung? Erleben Sie da eine Aufgeschlossenheit, was das Thema angeht?
    Lutz: Die Ausstellung ist ja von der Ärzteschaft initiiert worden, also von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, und ich habe das so erlebt, dass es da ein großes Anliegen ist, diese Dinge jetzt nicht nur für sich aufzuarbeiten, sondern auch dann in eine Öffentlichkeit zu bringen. Das sind relativ neue Entwicklungen.
    Koldehoff: Gibt es eigentlich Bezugspunkte aus der Geschichte zur Gegenwart, die Sie auch thematisieren?
    Lutz: Wir enden mit 15 Interviews, wo wir ganz unterschiedliche Menschen gefragt haben, wie sie eigentlich dieses Geschehen heute für sich reflektieren, Ärzte, Psychiater, Angehörige von Patienten oder auch Mitglieder des Ethikrates, weil wir davon ausgehen, dass dieses Geschehen mit heute sehr viel zu tun hat, dass das aber jeder für sich individuell reflektieren muss und dass man jetzt - das übersteigt die Möglichkeit von einer Ausstellung - Stellung nimmt dazu, wie wir das jetzt auf die Gegenwart beziehen müssen. Wir finden, man muss es auf die Gegenwart beziehen.
    Koldehoff: Und damit meinen Sie die Frage, die immer wieder in der Gegenwart diskutiert wird, inwieweit Menschen mit Behinderungen eventuell schon, bevor sie geboren werden, dann eben nicht mehr zum Leben kommen.
    Lutz: Das ist eine Diskussion, die heute geführt wird. Der große Unterschied ist natürlich, dass Menschen, die heute ein behindertes Kind abtreiben, ja eine individuelle Entscheidung treffen. Das ist natürlich was qualitativ ganz anderes als Zwangssterilisationen. Aber man kann sich die Frage stellen, mit welchem Blick wird denn hier entschieden, was jetzt Kinder sind, die man gerne haben möchte, und was Kinder sind, die man nicht haben möchte, ob es bei den Kriterien, die man da anlegt, Bezugspunkte gibt und ob man jetzt angesichts dieser Geschichte nicht eigentlich sagen müsste, es kann eigentlich solche Kriterien nicht geben, weil man da wieder nach dem Wert des Menschen fragt.
    Koldehoff: Petra Lutz war das, die Kuratorin der Berliner Ausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet – Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus", zu sehen in der Topografie des Terrors.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.