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Psychische Störungen bei Kindern

Ein Schwerpunktthema des diesjährigen Kongresses zur Kinder- und Jugendmedizin waren die "neuen" Kinderkrankheiten. Es ging vor allem um die Zunahme von Suchterkrankungen und psychischen Störungen.

Von Patric Seibel |
    Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen Störungen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Prof. Norbert Wagner, ist besorgt über die aktuellen Zahlen zur Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung bei Kindern:

    "Die liegt deutlich über zehn Prozent, also wahrscheinlich bei 15 Prozent, manche sagen bei 20 Prozent."

    Die Ursachen sind zwar vielfältig und individuell verschieden. Aber die Ärzte und Experten machen vor allem veränderte gesellschaftliche Bedingungen für die bedenkliche Entwicklung verantwortlich. Soziale Unsicherheit, prekäre Arbeitsverhältnisse, instabile Familienstrukturen, Armut.

    "Wenn Sie eine Situation haben, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit, Alkoholmissbrauch, möglicherweise bis hin zur Verwahrlosung des Kindes oder sogar Kindsmissbrauch, ist das Risiko für das Kind, psychisch zu erkranken, exorbitant hoch."

    Häufig sind schon die Eltern betroffener Kinder psychisch krank. Eine Situation, die Kinderpsychiater Dr. Christian Fricke nur zu gut kennt. An seinem Hamburger Institut werden Kinder gemeinsam mit ihren Eltern behandelt. Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter und Familientherapeuten arbeiten Hand in Hand. Denn hier zählt jeder Tag. Je später Betroffene Hilfe bekommen, desto schwieriger ist es, sie noch zu erreichen.

    "Es ist natürlich so, dass sich dann im Lauf der Kindheit, oft auch durch schwierige familiäre Verhältnisse, oft teufelskreisartig die Verhaltensstörungen verschlimmern und wir dann Kinder sehen, die eben kaum noch zu führen sind, die überhaupt keine Grenzen akzeptieren, die auch hoch aggressiv sind."

    Andere Eltern sind zwar nicht psychisch krank, aber stark verunsichert im Umgang mit ihren Kindern. Sie verstehen sie nicht, können ihre Signale nicht deuten. Oft entwickeln sich gravierende Probleme bereits im Säuglingsalter. Das sind schwierige Fälle für Dr. Fricke und sein Team. Hier ist psychologische Detektivarbeit gefragt:

    "Die Arbeit mit so einem kleinen Kind sieht natürlich so aus, dass man das erstmal intensiv beobachten muss. Und man muss die Signale, die das Kind aussendet, natürlich als Fachmensch beobachten und deuten lernen und dann mit den Eltern erarbeiten, wie sie mit diesen Signalen adäquat umgehen können. Kinder zeigen natürlich sozusagen indirekt ihre Störungen und Probleme."

    Vermeiden beispielsweise Kinder den Blickkontakt bei gleichzeitiger sozialer Offenheit, kann dies auf eine Bindungsstörung zu den Eltern hindeuten. Glauben die Experten, die Signale, die die Kinder aussenden, entschlüsselt zu haben, können sie ihr Wissen an die Eltern weitergeben. Diese werden, oft auch mit Videoanalysen, gecoacht, um ein gesundes Verhältnis zu ihren Kindern zu finden.

    Prof. Norbert Wagner schlägt vor, auch die Praxen der Kinderärzte nach diesem Muster zu Ambulanzzentren zu erweitern: mit Sozialarbeitern, Familienhebammen, Kinder- und Jugendpsychiatern. Auf diese Weise, so hofft er, könnte man auch Problemfamilien erreichen.

    Norbert Wagner hält verbesserte Prävention für den Schlüssel, um die neuen Kinderkrankheiten in den Griff zu bekommen. Dazu gehöre auch eine kindgerechte Gesellschaft. Er schlägt vor, auf politischer Ebene einen Anwalt für die Belange der Kinder zu installieren – nach dem Modell des Wehrbeauftragten der Bundeswehr.

    "Vielleicht brauchen wir tatsächlich auch für diese Bundesrepublik einen Kinderbeauftragten, der die gleiche Kompetenz hat wie der Wehrbeauftragte, das heißt, dass sie oder er auch bei Gesetzesvorhaben tatsächlich intervenieren kann und sagen kann: Habt ihr daran gedacht, was hat das für Auswirkungen für Kinder?"