Archiv

Psychoanalytiker nach der Wahl
"Wir müssen lernen, schärfer mit dem Populismus umzugehen"

Er halte es nicht für schlecht, dass die AfD in den Bundestag gekommen ist, sagte der israelisch-schweizerische Psychologe Carlo Strenger im Dlf. Man müsse den Dialog mit Gruppen wie der AfD suchen, aber sie auch viel härter angreifen, wenn sie ihre Pseudoargumente vorgebracht hätten.

Carlo Strenger im Gespräch mit Birgid Becker |
    AfD-Anhänger und andere Wähler am 21.09.2017 in Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD.
    Viele Menschen - nicht nur in Deutschland - fühlten sich irgendwie zurückgelassen, sagt der Psychologe Carlo Strenger. (picture alliance / Stefan Sauer/dpa-Zentralbild/dpa)
    Birgid Becker: Drei von fünf AfD-Wählern, so lehren uns die Wahlforscher, stimmten nicht für die Partei, weil sie von Programm und Partei überzeugt seien, sondern weil sie enttäuscht seien von den anderen und von Kanzlerin Merkel genug haben. Klar: Zwölf Jahre sind lang. Aber muss man genug haben von einer überstandenen Finanz- und Wirtschaftskrise, einer glimpflich verlaufenen Eurokrise, einer Flüchtlingskrise, die ihren Höhepunkt überschritten hat?
    Die Schriftstellerin Juli Zeh fragte ratlos nach dieser Wahl: "Wie gut muss es einem Land eigentlich noch gehen? Wieviel mehr an Freiheit und Sicherheit und Wohlstand und Demokratie und Bildung und Zivilisiertheit muss man noch erreichen, damit Menschen sich nicht mehr von fremdenfeindlichen Szenarien aufhetzen lassen?" – Das war die Frage von Juli Zeh.
    Vielleicht braucht es in dieser Ratlosigkeit den Rat des Psychoanalytikers. Vielleicht gehört der Wahlbürger einfach auf die Couch.
    Carlo Strenger, den israelisch-schweizerischen Psychologen, habe ich vor der Sendung um eine Ferntherapie gebeten. Was stimmt nicht, wenn in mehrheitlichem Wohlstand die Verbitterung wächst?
    Carlo Strenger: Ich glaube, die Gründe sind ziemlich vielschichtig. Es beginnt mal damit, dass die Globalisierung dazu geführt hat, dass die Zusammenhänge, in denen wir alle leben, immer undurchsichtiger werden. Und viele Menschen (nicht nur in Deutschland) fühlen sich irgendwie zurückgelassen, nicht notwendigerweise in einem konkreten Sinn, wie Sie sagen. Ich habe mehrere Kommentatoren gelesen, die gesagt haben, das große Problem Deutschlands ist, dass es eigentlich keine Probleme hat.
    Das zweite ist, dass natürlich immer mehr Menschen (weltweit, nicht nur in Deutschland) fühlen, dass die Politik sich da irgendwo in Eliten abspielt, die mit dem Volk nichts zu tun haben, und das macht dann Platz für die Populisten, die sagen, wir sind die Stimme des Volkes, was nun immer das Volk sein möge. Das ist eine Fiktion.
    Das extremste Beispiel sind natürlich die Vereinigten Staaten, die einen absolut inkompetenten Mann zum Präsidenten gewählt haben, weil der mit so einer Rohheit gesprochen hat, der einfach eine gewisse Schicht in der amerikanischen Gesellschaft angesprochen hat: So, jetzt kommt einer, der ist wie wir, und nicht so ein Berufspolitiker, der ständig nur mit den Insider-Kreisen in Washington beschäftigt ist.
    "Merkel hat eigentlich eine Nicht-Kampagne geführt"
    Becker: Nun hat der Populist in den USA eine Mehrheit bekommen. Die Rechtspopulisten bei uns stehen immer noch einer Mehrheit von 87 Prozent an Wahlbürgern gegenüber, die sich nicht für diesen Weg entschieden haben. Gehen Sie denn so weit zu sagen, dass die USA uns nur vormachen, was uns noch blüht?
    Strenger: Ich hoffe sehr, dass das nicht der Fall ist. In den USA kommt noch ein zweiter Teil dazu, und das ist, dass die weiße untere Mittelklasse sich vollkommen deklassiert fühlt. Weil in den Vereinigten Staaten im Gegensatz zu Deutschland es eigentlich keine Arbeiterklasse im alten Sinne mehr gibt. Produktion macht in den USA nur noch 8,7 Prozent des Bruttosozialprodukts aus. Das ist in Deutschland nicht der Fall. In Deutschland gibt es weiterhin Produktion in großem Ausmaß und die Fachhandwerker haben einen Stolz auf ihren Beruf und finden nicht, dass sie vom System einfach in einen Status von niemand zu sein geworfen worden sind. Deswegen würde ich doch hoffen, dass der Reiz, auf populistische Stimmen zu gehen, in Deutschland niedriger ist als in den USA.
    Becker: Herr Strenger, in Ihren Büchern betonen Sie, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei, dass Demokratie oder, auch auf die Gefahr hin, jetzt pathetisch zu klingen, dass freiheitliche Ordnung Verteidiger braucht. Nun schwingen sich ja gerade aber Rechtspopulisten zu Verteidigern der Freiheit auf, oder zu Verteidigern des Rechts, und untergraben dabei die freiheitlichen Werte, die sie angeblich schützen wollen. Wie unterscheidet man die falschen von den richtigen Verteidigern, oder warum klingen die richtigen Verteidiger, die demokratisch etablierten, warum klingen die oft so verzagt?
    Strenger: Ich glaube, unter anderem deswegen, weil sie dieses Thema überhaupt nicht aufgenommen haben. Wenn Sie sich die großen Volksparteien, vor allem CDU und SPD, die die großen Verlierer dieser Wahl sind, wenn Sie sich anschauen, Merkel hat eigentlich eine Nicht-Kampagne geführt. Ein Deutschland, in dem wir gern und gut leben. Das klingt ungefähr wie eine Reklame für ein Restaurant, für gutes deutsches Essen, das wir gerne und gut essen. Gerade heute wäre es enorm wichtig, den Menschen bewusst zu machen, was für ein enormes Geschenk wir haben, wie zerbrechlich das ist, wie komplex das Gebäude der Institutionen und der kulturellen Normen ist, die erlauben, dass Menschen im Westen oder in der freiheitlichen Welt ihr Leben so gestalten können, wie sie es gerne möchte, und dass ihr Recht, das zu tun, geschützt ist, und gleichzeitig sind sie auch geschützt vor äußerer Gewalt, ob sie nun vom Staat oder von Individuen kommt.
    Ich habe in den letzten Jahren immer wieder gesagt, es wäre enorm wichtig, dass die gemäßigten Parteien klarmachen, was westliche Werte sind, warum sie uns so wichtig sind, warum jeder, jeder in der Gesellschaft etwas Enormes verlieren würde, wenn die beschädigt würden, und damit auch den rechtspopulistischen Diskurs, der sagt, wir sind die Vertreter des Westens und der Freiheit, zum Beispiel gegen den Islam, warum das reiner Schmäh ist, wenn Sie mir den relativ nicht sophisticated Ausdruck erlauben.
    "Die meisten Muslime sind ziemlich gut integriert"
    Becker: Aber, Professor Strenger, wie macht man das? Wenn Sie zu Recht auf diesen Riss zwischen objektiver Lage und subjektivem Missbehagen hingewiesen haben, dann scheint das ja mit der Kraft der Argumente, der Kraft der Worte nicht recht zu gelingen.
    Strenger: Ich bin insofern sehr realistisch, als ich auch nie denke, dass Worte, seien es nun die Worte der Politik, oder die Worte der Kommentare, der Kommentatoren oder Intellektuellen oder was auch immer, dass die alles ändern können. Ich glaube, die Unsicherheit, welche die Globalisierung geschafft hat, ist: Wie geht es weiter, was sind die Kräfte, die die Wirtschaft verändern, die plötzlich Migrationsflüsse herbeibringen von einem Ausmaß, wie wir es noch nie gesehen haben – und wenn Sie mich fragen ist das, was wir bisher gesehen haben, nur ein kleines Vorspiel zu dem, was noch kommen wird.
    Der große Vorteil der Populisten ist immer, dass sie eine einfache Schwarz-weiß-Antwort haben: Das Problem ist der Islam. Nur ist das nun wirklich ein Witz, weil gesamthaft ist in der Europäischen Union der Anteil der Muslime bei fünf Prozent. Da von Islamisierung zu sprechen, ist ein Treppenwitz. Und die Projektionen, die demografischen Projektionen zeigen, dass diese Tendenz zirka 2030, 2035 bei acht Prozent ihr Maximum erreichen wird.
    Becker: Von Überfremdung kann da nicht die Rede sein.
    Strenger: Davon zu sprechen und davon, dass die westliche Kultur jetzt vom Islam überrannt wird - - Wir dürfen auch nicht vergessen: Gerade in Deutschland sind ja die meisten Muslime ziemlich gut integriert. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass ein großer Teil aus der Türkei und aus den Balkan-Ländern kommt. Das heißt, Deutschland hat mit Sicherheit kein Islamisierungsproblem.
    Grundangst vor dem Anderen stecke uns in den Genen
    Becker: Während Sie das jetzt sagen und Ihrerseits auf die Kraft der Argumente setzen, räumen Sie doch zugleich ein, dass diese Kraft sehr begrenzt ist und vielleicht schwach gegenüber Argumenten, die viel plumper und eindimensionaler daherkommen.
    Strenger: Ja, gerade als Psychoanalytiker, der auch evolutionstheoretisch denkt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit unseren Cousins, den Schimpansen, 98 Prozent unseres genetischen Grundmaterials gemeinsam haben. Und wenn zwei Gruppen von Schimpansen aufeinandertreffen, dann geht eine Schlacht los und die gewinnende Gruppe, da töten die Männchen alle anderen Männchen, also von der anderen Gruppe, alle kleinen Kinder, nehmen die Weibchen, um sie neu zu befruchten und zu besamen. Diese Grundangst vor dem anderen ist etwas, was in unserer Genetik drinsteckt.
    Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Toleranz, Weltverständnis, das in Betracht nehmen von großen Zusammenhängen, das ist etwas, was uns nicht angeboren ist. Das ist etwas, was wir nur durch ein hartes zivilisatorisches Training uns aneignen können. Das hat man früher im Deutschen die humanistische Bildung genannt; ich mag da den englischen Ausdruck liberal education, den ich wörtlich übersetzen würde als Erziehung zur Freiheit.
    Wir haben diese Erziehung zur Freiheit auf dem Altar der wirtschaftlichen Hypereffizienz geopfert. Man fragt nicht mehr, ist das Erziehungssystem, ob es jetzt um Mittelschule oder Hochschule geht, wieviel trägt es dazu bei, dass wir kompetente Bürger erziehen, die sowohl Freiheit verstehen und schätzen als auch, warum sie wichtig ist, und wie komplex es ist, frei zu sein, dass das eine Trainingsleistung ist und nicht etwas, was wir einfach mitbekommen haben. Da ist auch ein Versagen unseres Bildungswesens mit zur Verantwortung zu ziehen.
    Dialog mit AfD, aber "mit voller Wucht von Argumentation"
    Becker: Könnten Sie so was wie eine Art Schlussthese zu dieser jetzigen Situation ziehen? Was wäre jetzt angeraten? Was müsste passieren, um das Schimpansentum in uns zurückzudrängen?
    Strenger: Es wird Ihnen vielleicht paradox vorkommen. Ich glaube nicht, dass es schlecht ist, dass die AfD in den Bundestag reingekommen ist. Aus langzeitiger Erfahrung in vergleichender politischer Forschung wissen wir, dass Gruppen, die parlamentarisch nicht vertreten sind, dann in ein Randgebiet gedrängt werden. Da kommt es dann eher zu Gewalt und zu etwas, was überhaupt nicht in die Gesellschaft eingebunden ist.
    Ich glaube, dass man mit Gruppen wie der AfD Dialog machen muss. Ich glaube aber auch, dass man mit der vollen Wucht von Argumentation da reingehen muss. Man muss dann, wenn Pseudoargumente vorgebracht werden von der populistischen Rechten, sie viel härter angreifen. Das ist bisher nicht gemacht worden. Man muss sprechen mit den Kontrahenten, aber man muss auch vollkommen klarmachen, wo ihre Argumentationsformen, ihre Denkweise, ihre Ausdrucksweise einfach dem Standard, dem Minimalstandard einer modernen westlichen Zivilisation nicht genügt.
    Das heißt Einbindung des anderen einerseits und andererseits immer wieder darauf nicht nur einfach in Verteidigungsposition zu gehen. Das war ja das große Problem. Zum Beispiel die CDU hat ständig nur Angst gehabt, dass die Wähler zur AfD wegrennen, und dann mildert man sie ständig. Und diese Milderung ist, glaube ich, falsch. Wir müssen lernen, schärfer mit dem Populismus umzugehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.