1948, am Tag nach Heiligabend, notiert Wilhelm Reich in sein Tagebuch:
"Gelegentlich sollte ich meine frühen Aussagen über die Religion revidieren, die ich unter dem Einfluss eines missverstandenen Materialismus gemacht habe."
Psychoanalyse, Sexualforschung und Kirchenkritik
Da war er rund 50 Jahre alt. Wilhelm Reich, geboren am 24. März 1897 im galizischen Dobzau, wird mit 25 Jahren Doktor der Medizin. Schon während des Studiums tritt er der "Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft" bei. Er wird zum besten Schüler Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse. Reich systematisiert die psychoanalytische Technik zu einer "Widerstands- und Charakteranalyse". Er setzt der Therapie erstmals ein eindeutiges Ziel: Sie soll zur "Orgasmusfähigkeit" führen. Der nicht-neurotische Orgasmus sei, so Reich, "in der Hauptsache Ausdruck ungehemmter, eindeutig gerichteter Hingabe an einen Partner".
Reich gilt als erster Vertreter des Freudomarxismus. Als Freudomarxist äußert er sich auch erstmals zur Religion. Im Anschluss an das berühmte Marx'sche Diktum, Religion sei das Opium des Volkes, schreibt er, dass "die Religion eine phantasierte Ersatzbefriedigung für wirkliche Befriedigungen biete". Die Kirche institutionalisiere unbewusste anti-ödipale Phantasien und sei deshalb die "internationale sexual-politische Organisation des Kapitals".
Religiöses Erleben als Einheitserfahrung
Die Psychoanalyse arbeitet mit der Hypothese einer psycho-sexuellen Energie. Freud nannte sie "Libido". Reich war Materialist. Er suchte daher nach einer naturwissenschaftlichen Begründung der Libido. Reichs Experimente führten ihn von der Psychologie über die Biologie zur Physik.
1940 entdeckt Reich eine massefreie Energie, die er "Orgon" nennt. Diese Orgon-Energie bilde nicht nur die Materie, sie sei auch das Bewegungsgesetz, das allen Strukturen des Organischen zugrunde liege. Mit der Entdeckung des Orgons ändert sich auch Reichs Verständnis von Religion.
Den Kern des religiösen Erlebens sieht Reich nun so: Menschen erfahren die eigene organismische Energie und eine allgegenwärtig schöpferische Energie des Ursprungs als Einheit. Diese Erfahrung werde als jenseitige Sehnsucht empfunden, als "unio mystica", als Vereinigung der Seele mit Gott.
Der Sozialwissenschaftler Ingo Diedrich hat eine zusammenschauende Darstellung der Forschungsweise Wilhelm Reichs verfasst. Er beschreibt Reichs veränderte Ansicht so:
"Diese reale Erfahrung wird halt verdreht in der religiösen Projektion nach Außen. Und eigentlich steckt in jeder großen Religion ein realer Kern drin, und der war ihm sehr sympathisch und sehr wichtig geworden. Das Erkennen des realen Kerns auch eben im Katholizismus."
Sympathie für Leiblichkeit und Hingabe Jesu
Tatsächlich hatte Reich 1953 in einem Interview erklärt:
"Ich sympathisiere eher mit der christlichen Gedankenwelt und dem Katholizismus. Nicht, dass ich sie gutheiße oder daran glaube. Ich glaube nicht an diese Dinge. Aber ich verstehe sie gut. Die Christen haben die tiefste Perspektive, die kosmische."
Jesus war für Wilhelm Reich der Inbegriff des hingabe- und liebesfähigen Charakters. Ingo Diedrich:
"Gott ist Mensch geworden. Also die zentrale Aussage des Neuen Testamentes ist für Reich sehr konkret und sehr ja eng eigentlich gesehen. Gott, das Leben, das Orgon zeigt sich im Menschen Jesu sehr konkret, anfassbar, berührbar und nicht irgendwie abstrakt - und das ist schon einzigartig in der geschichtlichen Darstellung."
Vor diesem Hintergrund wird auch Reichs besondere Nähe zum Katholizismus deutlich.
Der evangelische Theologe Robert Eidam schreibt über Reichs Christologie:
"In Jesus ist Gott als Mensch vollkommen verwirklicht. Dies ist die Besonderheit Jesu. Die Menschlichkeit Christi besteht in seinen göttlichen Eigenschaften. Insofern ist die Leibhaftigkeit Jesu seine Gottheit. Jesus vertritt keine spezifische Lehre. Seine Person 'ist' seine Lehre."
Der Christusmord
1951 beginnt Reich mit der Arbeit an seinem Buch "The Murder of Christ", in deutscher Übersetzung: "Christusmord". Darin nimmt er sich einer Frage an, die die Sühneopfer-Theologie offen lässt: Warum wird Jesus ermordet? Reichs Antwort: Jesu Liebe und Lebendigkeit wecke bei all jenen, die ihm begegnen, Hoffnungen und Sehnsüchte. Doch sie könnten die tiefe innere Bewegung, von der sie ergriffen werden, nicht ertragen. In Reichs Worten:
"Wer zu lange in einem dunklen Keller gelebt hat, hasst die Sonne. Es kommt sogar vor, dass das Auge das Licht nicht mehr ertragen kann; so entsteht der Hass auf das Sonnenlicht."
Es entsteht Enttäuschung, aus der Enttäuschung wird Hass. Das "Hosianna" mündet ins "Kreuzige ihn!" Der "Christusmord" wiederhole sich bis heute, so Ingo Diedrich über das Denken Wilhelm Reichs:
"Es ist das ständige Töten, Kleinmachen von dem Leben, von der Liebe, von allem, was eigentlich sehr normal ist in der lebendigen Welt, was wir Menschen aber nicht aushalten."
Als Therapeut unterschied Reich zwischen natürlichen, primären Bedürfnissen und sekundären asozialen Trieben. Sie entstünden aus der Unterdrückung primärer Bedürfnisse.
Zurück zur "ursprünglichen Bedeutung Christi"
Reich hatte die Hoffnung, der Katholizismus werde zurückkehren zu dem, was er als die "ursprüngliche Bedeutung Christi" bezeichnete. Er war zuversichtlich:
"Der Katholik wird seine Haltung zur natürlichen Genitalität revidieren müssen und wird lernen, zwischen Pornographie, 'Wollust' und der natürlichen Umarmung zu unterscheiden."
2010 kommentierte Benedikt XVI. seine Enzyklika "Deus Caritas est" mit den Worten:
"Wichtig ist, dass der Mensch die Sexualität als eine positive Gabe begreifen darf. Durch sie nimmt er selbst am Schöpfertum Gottes teil. Es stimmt, dass in der Christenheit immer wieder auch Rigorismen eingerissen sind und die Tendenz zur Negativwertung, mit der es zu einer Verbiegung, zu einer Verängstlichung des Menschen kam. Heute ist zu erkennen, dass wir wieder zur eigentlichen christlichen Haltung finden müssen, wie es sie in der Urchristenheit und in den großen Augenblicken der Christenheit gab: die Freude und das Ja zum Leib, das Ja zur Sexualität."
Glaube an das "Gesetz von Leben und Liebe"
1957 stirbt Wilhelm Reich in einer Gefängniszelle - er hatte gerichtliche Anordnungen zu seinen Therapiemethoden missachtet. Aus der Gefängniszelle heraus ermahnte Reich seinen Sohn Peter, "nicht nur zu weinen, wenn die Gefühlsschmerzen zu stark werden, sondern auch zu beten".
In einem anderen Brief an Peter schreibt er:
"Du hast gelernt, auf Gott zu vertrauen, so wie wir ihn verstehen, als universelles Sein und als Gesetz von Leben und Liebe."
Bei seinem Begräbnis erklang das "Ave Maria". Das war Wilhelm Reichs letzter Wille.