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Psychogramm eines Verzweifelten

Jan Karski war polnischer Widerstandskämpfer und Zeuge der Vernichtungspolitik im Warschauer Ghetto. Schauspielers und Regisseurs Arthur Nauzyciel stützt sich bei der Inszenierung des Stücks auf das umstrittene Buch von Yannick Haenel.

Von Eberhard Spreng |
    Das Modell einer Filmkamera auf einem alten Holzstativ ist auf der Vorderbühne installiert, dazu ein Couchtisch und zwei Sessel. Auf einem sitzt der Schauspieler und Regisseur Arthur Nauzyciel, der gut dreißig Jahre, nachdem ihm sein Onkel, der Auschwitzüberlebende Charles Nauzyciel vom Leben in den Todeslagern berichtet hatte, die Schoah zum Gegenstand seiner Theaterarbeit macht. Er stützt sich dabei auf das umstrittene Buch von Yannick Haenel über den polnischen Widerstandskämpfer Jan Karski. Und er folgt dabei textnah dessen dreiteiligem Aufbau vom Dokument über die nacherzählte Biografie bis zur Fiktion. Claude Lanzmanns Film "Shoah" hatte ursprünglich den in den Nachkriegsjahrzehnten irgendwann verstummten Karski wieder zum Sprechen gebracht und Roman und Theater beginnen mit der Nacherzählung der Interviewsituation. Allein auf der Bühne referiert Nauzyciel die Szene in zeremoniellem Verkündungston. Im zweiten Teil, da wo Haenel Karskis "Bericht an die Welt" nacherzählt, ruckelt eine Videokamera zu einer Stimme aus dem Off über einen Stadtplan aus der Zeit des Warschauer Ghettos, bevor Laurent Poitrenaux im dritten Teil in einem langen Monolog ein Psychogramm des Jan Karski entwickelt.

    "Comment un monde qui a laissé faire l'extermination der juifs peut-il se prétendre libre ? Comment peut-il prétendre d'avoir gagné quoi que ce soit?"

    In einem Opernfoyer sitzt dieser Theater-Karski allein auf einer Bank, zusammengesunken, ein Depressiver mit schleppender Diktion und mit betont unbeholfenen und trägen Bewegungen. Aus dem Saal dringt eine Arie, er ist ein Verstoßener, ein Heimatloser in der Gesellschaft der Überlebenden. Karski hatte den westlichen Alliierten 1942 vom Warschauer Ghetto und einem Vernichtungslager berichtet und die Judenvernichtung doch nicht verhindern können. Bei Nauzyciel wird die Reaktion darauf zur melodramatischen Innenschau, zum ziemlich spekulativen Psychogramm eines Verzweifelten. Mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Nazi-Terrors sucht Arthur Nauzyciel nach neuen Formen der Vermittlung.

    "Wir sind mit den Erzählungen von lebenden Zeugen aufgewachsen. Heute sterben sie allmählich aus, in zehn bis 15 Jahren wird kein Zeitzeuge aus dieser Epoche mehr leben. Nach dem Dokumentarischen, dem Film u.ä. stellen wir uns jetzt die Frage, wie ihr Zeugnis weitergegeben werden kann und welche Rolle Literatur und Theater dabei spielen können. Die Inszenierung ist ein Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden."

    Erbost hatte Claude Lanzmann in der Zeitschrift "Les Temps Modernes" auf die Vereinnahmung seines Films "Shoah" durch Haenels literarisches Projekt reagiert. Historiker hatten dem Autor zudem spekulative, geschichtsfälschende Züge vorgeworfen. Nauzyciels Theater mit dem seinerseits provozierend antidokumentarischen Titel "Jan Karski – mein Name ist Fiktion" ist in diesem Generationendisput um die Erinnerungskultur ein weiterer Anlass für Streit. Denn die Flucht ins Romaneske, in die Fiktion, ins Menschelnde, Melodramatische, Spekulative und damit weg von den kalten Fakten ist nicht zu übersehen. Dieses Theater lässt den 2010 verstorbenen Jan Karski in einem trüben Mythos verschwinden.

    "Si le mort se met à parler, à l'époque ou nous sommes, citoyen Podsekalnikow : Ce qu'un vivant peut penser seul un mort peut le dire."

    Einen größeren Kontrast hätte das Festival an seinem Eröffnungsabend nicht schaffen können: In Nikolai Erdmans politischer Satire "Der Selbstmörder" heißt es zynisch-programmatisch: "Nur ein Toter kann aussprechen, was ein Lebender denkt." Das sagt der Vertreter der russischen Intelligenzia, der den armen arbeitslosen Podsekalnikow zum Märtyrer machen will. Das Gerücht, dass er sich umbringen wolle, machte zuvor die Runde. Aber auch andere gesellschaftliche Gruppen hätten den angeblichen künftigen Selbstmörder gerne für ihre Zwecke vereinnahmt. Und die schrille Romantikerin Kleopatra Maximowna sähe ihn gerne tot in der Rolle des abgewiesenen Liebhabers, um ihre Chancen bei einem anderen Herren zu erhöhen. Patrick Pineau inszeniert die in der frühen Stalin-Zeit verbotene Farce im Boulbon-Steinbruch mit großem Spaß an grotesken Auftritten und greller Komik. Er selbst verkörpert übrigens den Todgeweihten, der erst den Spaß an der plötzlichen gesellschaftlichen Bedeutung und dann das Hängen am kleinen unwichtigen Leben entdeckt.

    Erdmans Hymne ans Leben endet nach Auftritten eines kleinen Zigeunerorchesters, dem komischen Pomp einer fiktiven Beerdigung und nach vielen vital-komödiantischen Passagen in Podsekalnikows schüchterner Bitte: Man möchte doch nur leise sagen dürfen, dass das Leben manchmal hart ist. So versöhnt Avignon sein Publikum dann doch noch, unter Sternen, mit einer Hymne an das Leben.