Ahmad Mansour lebt seit gut 15 Jahren in Deutschland. Geboren wurde er 1976 in einer kleinen arabischen Stadt in Israel. Als junger Mann fühlte er sich hingezogen zu Muslimen, die ihren Glauben fundamentalistisch verstehen. Heute arbeitet er als Psychologe daran, die Radikalisierung junger Muslime zu verhindern. Ahmad Mansour scheut die Auseinandersetzung nicht – egal ob im Internet oder in Talkshows.
Andreas Main: Herr Mansour, es ist schon komisch, als wir uns Mitte Februar verabredet haben, um uns jetzt, im Juni, für dieses Gespräch zu treffen in unserem Berliner Funkhaus, da gab es noch die eine oder andere Islamdebatte. Dem Corona-Virus sind weltweit hunderttausende Menschen zum Opfer gefallen und – so zumindest der subjektive Eindruck – auch diese Islamdebatten. Ist das für Sie ein erfreulicher Nebeneffekt der Pandemie? Oder entfällt Ihr Geschäftsmodell der kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam?
Ahmad Mansour: Also, von Geschäftsmodell will ich nicht sprechen. Es geht um Auseinandersetzung mit bestimmten gesellschaftlichen Themen, die sehr, sehr wichtig sind – für unsere Gesellschaft, für unsere Entwicklung, für unsere Kinder, für das Zusammenleben, für die Vielfalt in dieser Gesellschaft. Da kann ich auch nicht von erfreulichen Nebenwirkungen der Corona-Pandemie sprechen. Die habe ich nicht gesehen. Das waren Einschränkungen. Das waren gesundheitliche Probleme. Das waren Verluste von Menschenleben. Da kann man nicht etwas Positives sehen.
Was mich aber stört, ist die eindimensionale Betrachtung unserer Wahrnehmung, die eindimensionale Debattenkultur, die wir haben. Es ist natürlich wichtig, dass wir gerade über Corona sprechen. Aber wir haben auch andere Probleme in dieser Gesellschaft. Dazu gehört Radikalisierung von muslimischer Seite, aber auch vor allem von Rechtsradikalen.
Wir dürfen nicht die Terroranschläge vergessen, die wir in den letzten Monaten in diesem Land gehabt haben. Und wir müssen irgendwann auch zurück zum Nachdenken kommen, nachdem wir diese Auseinandersetzung, diese Herausforderung bewältigt haben, um dann zu schauen: Wie wollen wir zusammenleben? Auch nach Corona. Und da ist die Islamdebatte und vor allem die Frage: Was sind die Werte, die wir als Gesellschaft haben sollten, die uns einigen, die uns zusammenbringen, die wir unseren Kindern beibringen? Wenn wir das nicht tun und immer wieder nur reagieren auf Ereignisse, werden wir in zehn Jahren aufwachen und sagen: Wo sind wir hier? Warum entwickeln sich manche Sachen, wie sie sich entwickeln gerade?
"Die Mitte schweigt"
Main: Sie sprachen eben von der Eindimensionalität unserer Debattenkultur. Das ist natürlich erst mal auch eine Kritik an der Medienlandschaft. Oder haben Sie noch andere Erklärungen? Was ist für Sie die Erklärung dafür, dass wir an manchen Punkten so eindimensional sind und dann bestimmte Fragen, wie die, die Sie angesprochen haben, zur Seite drängen?
Mansour: Also, ich glaube, die Erklärung kann auch nicht eindimensional sein. Das heißt, es sind nicht nur die Medien, die dafür verantwortlich sind, sondern es ist unsere Wahrnehmung. Es ist die Art und Weise, wie wir Themen abarbeiten. Wenn wir einen Terrorismus von Rechtsradikalen haben, dann diskutieren wir über Rechtsradikale, als ob das die einzige Gefahr wäre, die wir in dieser Gesellschaft haben. Und keiner ist bereit, über Islamismus oder Linksextremismus zu sprechen.
Ich meine aber – und das ist sehr provokativ, aber vielleicht bringt das den einen oder anderen zum Nachdenken -, dass es Themen gibt, die für uns sehr bequem sind, die wir moralisierend darstellen und aufnehmen können, und andere Themen, die ein bisschen zu kognitiver Dissonanz führen. Und die wollen wir vermeiden.
Der Rechtsradikalismus ist ein Thema, wo jeder weiß, wo er steht. Mindestens die Vernünftigen, die Demokraten sozusagen. Beim Thema Islam ist dieser Diskurs ein bisschen anders. Bin ich fremdenfeindlich, wenn ich bestimmte Islamverständnisse kritisiere? Bin ich dann auf der Seite von Rechtsradikalen oder AfD-Anhängern, wenn ich sage, Islam braucht eine Reform, der Islam ist mit Demokratie nicht vereinbar nach der Art und Weise, wie wir gerade den Islam erleben und ausleben? Und solche Fragen sind nicht einfach zu beantworten.
Ich merke, dass vor allem die Mitte schweigt, solche Themen vermeidet und sehr dankbar ist, dass wir ganz neue Herausforderungen gerade haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir Herausforderungen in dieser Gesellschaft haben von allen Seiten. Wenn wir die Demokratie stärken wollen, dann geht es darum, auch Muslime zu erreichen, aber auch natürlich Radikale aller Arten zu erreichen. Und wir müssen einen Weg finden, solche Debatten mehrdimensional zu betrachten und zu schauen: Wie können wir diese Gesellschaft demokratischer machen und wie können wir eine Debattenkultur schaffen, die nicht in Blasen stattfindet, nicht in links und rechts und die Mitte ist nicht mehr da. Und jeder bestätigt sich gegenseitig in seiner Blase und feiert sich gegenseitig. Aber ein Austausch, ein Diskurs, ein Austausch von Argumenten findet überhaupt nicht statt, sondern jeder bleibt in seiner Blase und ist froh, dass er die Wahrheit besitzt.
"Das ist gefährlich für unsere Debattenkultur"
Main: Und wer nicht in der Blase ist, wird dann von denen in der Blase in die eine oder andere Blase versucht abzuschieben.
Mansour: Genau. Oder man schweigt, weil man nicht in einer Blase sein will. Man vermeidet die Themen. Und das ist meine größte Kritik an der vernünftigen Mitte in dieser Gesellschaft. Es gibt Menschen, die natürlich differenziert mit solchen Themen umgehen. Es gibt Menschen, die Sehnsucht nach Lösungen haben. Die wollen ihre Kinder in einer Gesellschaft großziehen, die demokratisch, die vielfältig, die offen, aber auch kritisch sind gegenüber bestimmten Problemen, die wir in dieser Gesellschaft haben. Aber Schweigen ist attraktiver, denn dadurch kriege ich nicht diese Wut, diese Kritik aus den Blasen, die immer passiert, wenn jemand einen Zentimeter abweicht von dem, was die Blasen als Wahrheit oder als Mainstream betrachten. Und das ist gefährlich für unsere Debattenkultur.
"Der Islamismus ist noch nicht besiegt"
Main: Es sind ja auch nicht alle Streitpunkte zum Beispiel zwischen Islamverbänden und der Gruppe der Kritiker corona-bedingt verschwunden. Was ist die zentrale Herausforderung, die im Schatten einer Pandemie gerade ein wenig ignoriert worden ist? Was ist gerade das heiße Eisen?
Mansour: Dass wir immer noch in einer Gesellschaft leben, wo Jugendliche sich radikalisieren. Das merkt man, wenn man die Diskurse in sozialen Medien anschaut, wenn man die Entwicklungen in den Schulen anschaut, wenn man merkt, was Jugendliche als Jugendkultur betrachten. Da merke ich, wie vor zwei, drei Jahren, dass die Salafisten immer noch da sind, dass die Radikalen immer noch da sind, dass sie identitätsstiftend arbeiten, dass sie Orientierung und Halt anbieten.
Ich halte es für gefährlich, dass wir jetzt nicht hinschauen und sagen: Wir haben den IS besiegt und deshalb haben wir auch den Islamismus hier in Deutschland besiegt. Haben wir nicht!
Das ist eine Herausforderung, die uns auch in den nächsten Jahren begleiten wird. Und ich brauche Politiker, ich brauche Pädagogen, ich brauche Sozialarbeiter, die diese Wahrnehmung haben, die bereit sind, die Probleme zu verstehen und vor allem bereit, auch Lösungen und Konzepte zu entwickeln, um diese Jugendlichen zu gewinnen. Es geht mir nicht darum, jemanden abzustempeln. Es geht nicht darum, dass wir die Jugendlichen aus der Gesellschaft sozusagen verbannen. Es geht darum, alles zu tun, um diese Menschen für unsere Demokratie zu gewinnen.
Main: Nun arbeiten Sie aber schon viele Jahre, seit Sie nach Deutschland gekommen sind, in der Präventionsarbeit, versuchen, junge Menschen zu entradikalisieren oder sie gar nicht erst in die Radikalisierung abrutschen zu lassen. Und Sie sind nicht der Einzige. Da muss es doch irgendwelche Erfolge geben. Sehen Sie auch positive Entwicklungen?
Mansour: Natürlich, jeden Tag.
Main: Dann nennen Sie die.
Mansour: Ich würde diese Arbeit nicht machen, wenn ich nicht das Gefühl habe, dass ich und meine Kollegen auch etwas ändern. Wir sehen die Jugendlichen, die im Gefängnis vor uns sitzen, sehr skeptisch, mit einer Körperhaltung, die anti ist, die sagt: "Was wollen Sie von mir? Und das sind die Bösen - und ich bin doch gut. Und der Islam wird hier beschmutzt." Und weiß ich nicht was.
Und ich weiß, welche Diskussionen wir mit diesen Jugendlichen führen, vor allem, wenn diese Jugendlichen das Gefühl haben, wahrgenommen zu werden, akzeptiert zu werden, wenn man zeigt, dass ihre Meinung auch eine Legitimation hat, wenn man sie zum Nachdenken bringt. Und, wenn wir dann zwei, drei Monate die gleichen Jugendlichen treffen und merken, wie sie jetzt denken, wie kritisch sie bestimmte kulturelle, religiöse Rituale betrachten, dann ist das ein riesiger Erfolg. Aber wissen Sie, Prävention ist nicht etwas, was sich nach zwei, drei Monaten zeigt. Und das ist das größte Problem, das wir haben. Politiker wollen Ergebnisse sehen. Sie wollen eine halbe Millionen Euro investieren und zwei Jahre später sehen, dass die Jugendlichen auf einmal alle Demokraten geworden sind.
"Prävention ist eine Generationenaufgabe"
Main: So nach dem Motto: "Jetzt schreiben Sie mal schnell einen Bericht, Herr Mansour, in dem steht, dass alles besser geworden ist!"
Mansour: Genau, ja. Aber es funktioniert bei Prävention nicht so, sondern Prävention ist eine Generationenaufgabe. Man merkt es vielleicht in zehn, 20 Jahren. Und ich kenne Lehrer und Lehrerinnen, die intensiv mit Jugendlichen gemacht haben, mit ihren Schülern und Schülerinnen. Und zehn Jahre später zeigen sie mir Nachrichten oder E-Mails, die ehemalige Schüler ihnen geschrieben haben, wie großartig das war mit denen und wie beeinflusst sie geworden sind dadurch, dass sie damals diesen Satz oder das andere Wort von dem Lehrer oder der Lehrerin gehört haben. Aber in dem Moment merkt man das nicht. Man merkt es viel später. Und deshalb müssen wir diese Arbeit machen, intensivieren und hoffen, dass die nächste Generation anders wird, demokratischer wird, und dass wir die Ergebnisse unserer Demokratieförderung später auch in unserer Gesellschaft sehen können.
Main: Wie ist das? Seelsorger konnten während der Pandemie kaum in Altenheime, waren zeitweise ausgesperrt. Sie als Psychologe in der Präventionsarbeit, Sie konnten ja wahrscheinlich auch nicht in Gefängnisse gehen. Oder war das trotzdem möglich?
Mansour: Nein, nein, konnten wir nicht. Nicht nur wir, sondern alle, die von außerhalb kommen. Das heißt, alle – Präventionsarbeit, alle Besucher, sogar die Familien durften diese Menschen nicht besuchen. Das waren keine einfachen Zeiten für Insassen, aber auch für Gefängnisse insgesamt.
Es lockert sich gerade. Also, ich bin der Hoffnung, dass wir in ein, zwei Monaten wieder diese Arbeit aufnehmen können. Hoffentlich kommt die zweite Welle nicht. Aber die Menschen, die diese Arbeit machen, vermissen diese Auseinandersetzung in Gefängnissen. Und ich glaube sehr, dass diejenigen, die da sitzen, auch eine gewisse Auseinandersetzung, ein gewisses Interesse an der Haltung dieser Menschen auch vermissen. Sie werden wahrscheinlich sehr gerne weiterhin mit uns arbeiten wollen.
"Dieses Kuscheltierphänomen"
Main: Herr Mansour, Sie engagieren sich seit Jahren für einen Islam, der aus Ihrer Sicht Integration fördert statt zu behindern. Ist es nicht ein Beispiel gelungener Integration, wie Moscheen und Muslime in Corona-Zeiten mitgezogen haben, um das Virus aufzuhalten?
Mansour: Darf ich eine Gegenfrage stellen? Würden Sie genau diese Frage an Kirchenvertreter oder jüdische Verbände stellen, würden Sie ihnen sagen, dass das eine gelungene Integration ist oder eine gelungene Integration der Religionsgemeinschaften ist, weil sie das getan haben, was man von ihnen erwartet in solcher Zeit?
Main: Ist meine Frage also per se rassistisch gewesen?
Mansour: Ich sage nicht, das ist rassistisch. Ich sage, dass wir die Muslime anders betrachten als die anderen. Darum geht es mir. Wir sind sehr froh, dass sie ihre Arbeit getan haben, dass sie auf die Gesundheit anderer Menschen geachtet haben. Das ist selbstverständlich.
Main: Ich freue mich darüber und deswegen ist es quasi eine Haltung, dass ich diese Gruppe als eine andere Gruppe ansehe, einen Bonus gebe, weil sie sich normal verhält.
Mansour: Das ist die andere Seite. Das ist dieses Kuscheltierphänomen. Also, wir müssen den Muslimen sagen, wie großartig sie sind, wenn sie etwas gut gemacht haben. Wir müssen sie vor Kritik beschützen. Wir müssen ihr Selbstwertgefühl aufbauen, indem wir Positives äußern.
Nein, eine vielfältige Gesellschaft, eine Gesellschaft, wo die Muslime selbstverständlich zu dieser Gesellschaft gehören, ist eine Gesellschaft, die in der Lage ist, Kritik zu äußern, ohne Angst zu haben, dass sie rassistisch wird und in der Lage, auch positive Entwicklungen zu sehen.
Und, ja, das war eine positive Entwicklung, aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Ich meine, Mekka, Medina, die großen heiligen Städte der Muslima, die sind leer gewesen. Die Menschen haben Angst vor diesem Virus. Sie haben ganz früh begriffen, dass es hier nicht um eine kleine Grippe-Krankheit geht, sondern um eine Gefahr für die gesamte Menschheit; und sie haben die großen, heiligen Städte einmalig in der Geschichte zu gemacht.
Das erwarte ich natürlich auch von den Menschen, die hier in dieser Gesellschaft leben. Bevor sie Muslime sind, sind sie Bürger in diesem Land. Wenn man von mir als Bürger in diesem Land erwartet, dass ich in Quarantäne gehe, dass ich Kontaktbeschränkungen befolge, dann erwarte ich das auch von den Verbänden und Vereinen und den Moscheen. Alles andere ist eine Doppelmoral, nichts anderes.
Main: Aber zu der ist es ja nicht gekommen.
Mansour: Ist es nicht gekommen. Deshalb meinte ich, es ist eine positive Entwicklung natürlich. Ist etwas Gutes. Das muss man auch sagen können.
Main: Das wollte ich von Ihnen hören. Und das habe ich auch provoziert mit der …
Mansour: Ich glaube, ich habe provoziert mit meiner Gegenfrage, aber darum geht es.
Main: Die war großartig. Die war großartig und entlarvend. Herr Mansour, die Pandemie wird uns zwar noch eine Weile beschäftigen, weil das Virus bei uns bleibt. Und doch macht das Großthema Rassismus gerade dem Mega-Thema Corona den Rang streitig. Auch hier scheint mir der Islamaspekt an den Rand gedrängt zu werden. Es geht jetzt plötzlich eben nicht mehr um Religion, sondern um Hautfarbe. Ist das womöglich ein Fortschritt aus Ihrer Sicht?
Mansour: Das ist wiederum diese eindimensionale Betrachtung des Problems. Wissen Sie, ich bin jemand, der sich sehr kritisch gegenüber bestimmten Islamverständnissen äußert. Und ich werde tagtäglich beschimpft als Onkel-Tom-Araber, als Haus-Araber, als jemand, der assimiliert wurde, als jemand, der für den Mossad arbeitet, als islamfeindlich.
Main: Den israelischen Geheimdienst, weil Sie in Israel geboren sind als arabischer Mensch.
"Ich werde tagtäglich beschimpft als Onkel-Tom-Araber"
Mansour: Genau, weil ich in Israel geboren bin, genau, ja. Weil ich auch zum Thema Antisemitismus arbeite usw. usf. Für mich ist das eine Art von Diskriminierung. Das heißt, sich nicht mit meinen Argumenten auseinanderzusetzen, sondern mir eine bestimmte Gruppe zuzuschreiben und zu sagen, ich gehöre zu dieser homogenen Gruppe und ich bin sowieso benutzt und instrumentalisiert worden von höheren Mächten. Das ist ein Problem. Das ist Teil dieser Rassismus-Debatte, genau wie Diskriminierung aufgrund von vermeintlicher Rasse, die es überhaupt biologisch nicht gibt.
Lassen Sie uns über alle möglichen Diskriminierungsformen sprechen. Es ist wichtig über Rassismus aufgrund von Hautfarbe zu sprechen. Keine Frage. Wir haben in USA gesehen und auch teilweise in Deutschland, wie gefährlich diese Diskriminierung sein kann. Das kann Leben kosten. Rassismus tötet – auch hier in Deutschland. Auch Halle und Hanau sind Anschläge, die im Namen von einer rassistischen Ideologie verübt wurden.
Aber Rassismus ist keine Einbahnstraße und vor allem keine weiße Einbahnstraße. Auch die andere Seite kann diskriminierend werden. Die Aufgabe ist wieder mal Demokratieförderung. Aber ich kann nicht sagen, dass die Muslime nicht von Rassismus betroffen sind.
Wir haben auch Angriffe auf Frauen, die Kopftuch tragen. Das können wir nicht akzeptieren. Ich bin jemand, der Kopftuch kritisiert, aber ich werde vor einer Frau stehen, wenn ein Nazi zu ihr kommt und sagt, ich muss jetzt ihr Kopftuch irgendwie bespucken oder weiß ich nicht was. Das ist nicht akzeptabel.
Die Muslime können auch diskriminierend sein gegenüber Ungläubigen. Das sehen wir auch in der salafistischen Ideologie, wie sie über Deutsche, wie sie über Juden, Christen sprechen. Und, wenn wir diese globale Betrachtung des Rassismus-Begriffes verinnerlichen und dann als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sehen, dann können wir viel mehr erreichen als nur dieses Othering, dieses Ihr-gegen-wir. Wir sind Betroffene und deshalb dürfen die anderen gar nicht mitreden über Rassismus. Das geht nicht.
"Das war nicht mein erster Shutdown"
Main: Ahmad Mansour, wir haben begonnen mit der Pandemie. Lassen Sie mich zum Schluss eine persönliche Frage stellen. Für die meisten waren die vergangenen Monate anstrengend. Für viele wird das auch so bleiben. Was war für Sie persönlich besonders aufreibend?
Mansour: Zu Hause zu sein mit dem Gefühl, dass ich das, was ich gemacht habe, nicht weiterverfolgen kann. Dieses Nichtstun, das ich in den letzten Jahren gar nicht kannte. Ich war nur auf Reisen, unterwegs. Ich habe keine Ruhe in meinem Leben gehabt. Und auf einmal sitze ich da und denke über die Welt nach. Was passiert hier eigentlich gerade? Wir erleben gerade einen historischen Moment, aber was bedeutet das für mich selber? Was bedeutet das für meine Arbeit? Was bedeutet es für mich als Ernährer? Was bedeutet das für mich als jemand, der bestimmte Ziele hat?
Diese Hilfslosigkeit, dieses Von-außen-beeinflusst-zu-sein, ist etwas, was mir Bauchschmerzen gemacht hat. Es hat mehrere Tage gedauert, bis ich irgendwie mit der Situation klargekommen bin. Aber ich muss hier etwas klarstellen. Das ist nicht mein erster Shutdown. Ich habe es schon erlebt in Israel. 1991 während des Golfkrieges mussten wir 40 Tage zu Hause bleiben. Die Schulen waren auch zu. Die Geschäfte waren alle auch zu. Verbunden natürlich mit Angst, also, dass wir angegriffen werden.
Main: Es flogen ja auch Raketen aus dem Irak nach Israel.
Mansour: Es flogen auch Raketen. Wir saßen in isolierten Zimmern. Wir haben Gasmasken getragen. Ich war damals 15 Jahre. Das wünsche ich niemandem. Das war ein traumatisches Erlebnis. Später, 2000, 2001, kurz bevor ich nach Deutschland gekommen bin, herrschte die Zweite Intifada, wo kein Shutdown herrschte, aber die Menschen sind freiwillig zu Hause geblieben, aus Angst. Und deshalb kenne ich diese Situation.
Das sind Momente, die man erst aufarbeiten kann, wenn alles fertig ist. Vorher ist man so emotional betroffen, dass man eigentlich nur in einem Überlebensmodus funktioniert. Und ich glaube, das wird uns alle danach dazu bewegen, nachzudenken über unser Leben, über unsere Familie, über das Wichtigste eigentlich oder was uns wichtig ist in diesem Leben, und dass die Prioritäten auch sich ändern.
Main: Inwieweit hat Ihnen Ihre Religion geholfen?
Mansour: Die Frage ist, was Religion ist. Wissen Sie, ich bin nicht der Meinung, dass wir nach einem Sinn suchen sollten. Ich glaube nicht, dass Gott beabsichtigt hat, dass Menschen sterben, dass dieses Corona-Virus ein Soldat Gottes ist oder eine Strafe Gottes oder eine Prüfung Gottes, wie manche Religiöse sagen.
Für mich ist Religion eine gewisse kritische Auseinandersetzung mit einem Gott. Und das tue ich im Alltag und das tue ich natürlich in dieser Situation. Ich suche seine Hilfe, aber ich suche die Kommunikation mit ihm. Und ich suche die Auseinandersetzung mit ihm. Und ich kann ihm auch die Frage stellen: Was soll das? Und das sind philosophische Fragen, die wahrscheinlich Religionswissenschaftler viel besser beantworten können oder nicht beantworten können.
Aber ich will, dass die Menschen anfangen, diesen Gott nicht mit einem patriarchalen Weltbild zu betrachten und sich unterzuordnen, sondern mit diesem Gott eine kritische Auseinandersetzung zu führen, Fragen zu stellen und ihn auch zu kritisieren. Und es gibt im Moment ganz viel, um Gott zu kritisieren.
Main: Und das Fragenstellen hat für Sie auch so etwas bewirkt wie eine Immunisierung oder hat Ihre Abwehrkräfte gestärkt? Also, sehen Sie in diesem Punkt schon ein Potenzial in Ihrer Religion?
Mansour: Ja, definitiv. Ansonsten wäre ich nicht religiös. Ansonsten wäre ich nicht gläubig. Natürlich brauche ich das. Es gibt Momente, wo ich das mehr brauche als alles andere. Aber diese Fragestellung, diese kritische Auseinandersetzung ist nicht nur immunisierend für mich. Es ist auch meine Methode in der Arbeit mit Jugendlichen.
In dem Moment, wo Menschen anfangen, ihre eigene Meinung zu bilden, indem sie die Autoritäten nicht mehr akzeptieren, sondern ihre Väter, ihren Gott, ihre Propheten infrage zu stellen, sich mit denen kritisch auseinandersetzen, dann sind sie immun gegen jegliche Radikalisierungstendenzen. Wissen Sie, was Linksradikale und vor allem Rechtsradikale und Islamisten vereint? Es gibt patriarchalische Strukturen in diesen Ideologien. Und, wenn man diese patriarchalischen Strukturen kritisch betrachtet, dann ist man sehr schwer zu radikalisieren.
Main: Ahmad Mansour, als Psychologe seit vielen Jahren im Einsatz für Integration. Für Ihre Einschätzungen und für Ihren Besuch, Herr Mansour, vielen, vielen Dank.
Mansour: Ich habe zu danken. Vielen Dank.
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