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Psychologe: Oft erkennen wir Warnzeichen eines Amokläufers nicht

Professor Herbert Scheithauer, Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin, glaubt, dass die Aufarbeitung des Winnenden-Amoklaufs möglicherweise doch Warnhinweise des Täters - sogenannte "Leaking"-Merkmale -, zutage fördern wird. Denn: Oft erkennen Menschen erst nach eingehender Befragung im Nachhinein Warnsignale, sagt Scheithauer.

Herbert Scheithauer im Gespräch mit Jochen Spengler | 12.03.2009
    Jochen Spengler: Bei einem Amoklauf in Baden-Württemberg hat gestern ein Jugendlicher an seiner ehemaligen Realschule und auf der anschließenden Flucht 15 Menschen erschossen. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei nahm sich der 17-Jährige das Leben. Unter den Toten sind neun Schüler der Albertville-Realschule in Winnenden im Alter von 15 und 16 Jahren, acht von ihnen sind Mädchen, sieben weitere Schüler wurden verletzt, befinden sich aber außer Lebensgefahr.
    Am Deutschlandfunk-Telefon ist nun Herbert Scheithauer, Professor für angewandte Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin. Dort leitet er das "Leaking-Projekt". Leaking kommt aus dem Englischen und meint Durchsickern. In dem Projekt wird nämlich untersucht, inwiefern Täter ihre Tatphantasien und Pläne schon vor der Tat durchsickern lassen, so dass man potenzielle Amokläufer schon im Vorfeld erkennen kann. Guten Morgen, Herr Scheithauer.

    Herbert Scheithauer: Schönen guten Morgen, ich grüße Sie.

    Spengler: Herr Scheithauer, wenn man hört, wie der 17-jährige Amokläufer geschildert wird, unauffällig, ruhig, keineswegs erfolglos, aus gutem Haus, mit Abschluss und Ausbildungsstelle, würden Sie dann sagen, den hätte man als Amokläufer vorher erkennen können?

    Scheithauer: Das ist natürlich immer eine Frage, die gestellt wird, und das ist nicht ganz einfach zu beantworten, weil wir uns natürlich nun nicht auf Medienberichte stützen und auf das, was in der Nachbarschaft gesagt wird. Das haben wir auch im Zusammenhang mit anderen abscheulichen Gewalttaten, dass dann die Nachbarn immer sagen, na ja, es war eigentlich ein sehr netter Mensch und es ist schon verwunderlich. Das sind subjektive Eindrücke, die für uns nicht so wichtig sind wie das, was wir natürlich dann entsprechend durch wissenschaftliche Analysen, durch Befragung von entsprechenden Personen herausbekommen würden. Und da kann es durchaus sein, dass sich dann auch jene Merkmale finden, die wir häufig in anderen Fällen auch gefunden haben.

    Spengler: Welche Merkmale sind das denn?

    Scheithauer: Dazu zählt zum Beispiel, dass vielleicht der Täter auch vorher mit Gewalt gedroht hat, er vielleicht auch einen Tatablaufplan entwickelt hat, vielleicht auch Tatvorbereitungen im Vorfeld der Tat getroffen hat, angedroht hat, dass es diese Tat geben wird, oder in irgendeiner Art und Weise darauf hingewiesen hat, ein starkes Interesse an Gewalt und Waffen gezeigt hat, Zugang zu Schusswaffen hatte – das wissen wir, dass das der Fall ist -, vielleicht Andere für die Probleme, die er hatte, verantwortlich gemacht hat, vielleicht auch selber schon in irgendeiner Art und Weise ein aggressives Verhalten gezeigt hat, entsprechende Gewalt verherrlichende Medien in starkem Umfang konsumiert hat. Das heißt, wir müssen zunächst erst mal schauen, inwiefern solche Merkmale im Vorfeld vorlagen und vielleicht der Täter auch tatsächlich eine depressive Symptomatik aufgewiesen hat, Suizidgedanken hatte. Das sind natürlich Dinge, die nicht jeder sofort im sozialen Umfeld auch wahrnimmt, sondern die ja vielleicht auch im Verschlossenen, im Verborgenen ablaufen.

    Spengler: Sind denn eigentlich schon Fälle bekannt, wo aus dem Umfeld solche Warnsignale wahrgenommen wurden und wo man erfolgreich Anschläge verhindert hat?

    Scheithauer: Erstaunlicherweise sind natürlich immer retrospektiv – und das muss man sagen, das ist auch immer einfacher. Wenn wir, nachdem ein solcher Vorfall passiert ist, schauen, dann finden wir sehr häufig solche Merkmale, weil wir dann auch sehr spezifisch darauf achten. Prospektiv ist das häufig nicht der Fall, weil wir zunächst mit vielen dieser Merkmale natürlich überhaupt keinen Amoklauf in Verbindung bringen.

    Spengler: Das heißt, hinterher ist man immer schlauer?

    Scheithauer: Sozusagen, wobei es schon auch Merkmale gibt, die wir untersuchen, wo man im Vorfeld dann etwas hingucken kann. Im Nachhinein ist es so, dass wir sehr häufig dann auch in den Berichten, wenn wir Nachbarn, Lehrer, Freunde befragen, hören, na ja, und dann kommen plötzlich genau diese Merkmale. Es gibt also auch wohl dokumentierte Fälle, beispielsweise Emsdetten zählt dazu, wo wir schon den Eindruck haben, dass eigentlich das gesamte soziale Umfeld der Meinung war, dass der Täter irgendwie ein bisschen merkwürdig ist, und das auch schon über einen längeren Zeitraum. Das war in diesem Fall, der jetzt hier jüngst passiert ist, offensichtlich noch nicht so, wobei wir, wie gesagt, momentan ja nur uns auf das, was in den Medien gelaufen ist, beziehen können und noch gar keine wissenschaftliche Analyse vornehmen können. Es gibt durchaus auch Situationen, wo sogenannte Leaking-Merkmale, also Hinweisreize des Täters auf eine mögliche Tat im Vorfeld ernst genommen wurden, entsprechend Behörden beispielsweise eingeschaltet wurden, und dann tatsächlich auch Schlimmeres verhindert wurde, wobei man, wenn es verhindert wurde, ja nie weiß, was eigentlich genau verhindert wurde.

    Spengler: Es gibt nun Forscherkollegen von Ihnen, die behaupten, es gebe immer Anzeichen, immer eindeutige Signale vor diesen Taten. Würden Sie diese Meinung teilen?

    Scheithauer: Das ist genau das Problem. Wenn ich im Nachhinein schaue, dann finde ich natürlich auch immer solche Hinweise, und die sind mehr oder weniger stark. Das heißt, in den uns vorliegenden Fällen und in den Fällen, die ich jetzt auch international kenne, würde ich natürlich meine Forscherkollegen dort wärmstens unterstützen und würde auch sagen, wir finden eigentlich entsprechende Merkmale. Das können teilweise einfach direkte Ankündigungen sein, das können aber auch beispielsweise Zeichnungen, das können Bilder, die man von sich selbst macht, sein und die man ins Internet stellt. Das haben wir bei den in der jüngsten Vergangenheit geschehenen Fällen doch sehr beispielhaft dann auch entsprechend gesehen. Aber manche dieser Signale sind eben nicht ganz so eindeutig und manche Signale kommen auch erst kurz vor der Tat und nicht mit einem entsprechenden Vorlauf, so dass man eigentlich nicht immer sagen kann, wenn solche Merkmale auftreten, können wir jetzt eigentlich mit großer Sicherheit sagen, hier liegt eine Gefährdung vor. Das ist genau die Aufgabe des Berliner Leaking-Projektes, durch eine wissenschaftliche Analyse früherer Fälle und auch von Fällen, wo es zwar Ankündigungen gab, aber keine konkrete Tat, herauszufinden, ob man hier Unterscheidungen vornehmen kann. Dort sind wir also immer noch relativ in den Anfängen.

    Spengler: Nun sind ja die meisten unserer Hörer, mich eingeschlossen, keine Psychologen. Worauf können wir Normalbürger denn im Alltag achten? Was ist auffällig?

    Scheithauer: Zunächst muss man ja mal sagen, dass solche Phänomene, auch wenn wir jetzt durch die Medienberichterstattung, durch die aktuellen schrecklichen Ereignisse den Eindruck haben, dass das sehr häufig vorkommt und dass die Gefahr sehr groß ist, dass so was passiert, doch solche Ereignisse sind sehr, sehr, sehr, sehr selten. Es gibt andere Formen von Gewalt, die treten tagtäglich auf, das sogenannte Mobbing oder Bullying an Schulen, wovon 10 bis 12 Prozent der Schülerschaft insgesamt betroffen sind, aber diese Fälle treten wirklich sehr selten auf und deshalb kann man sie auch sehr schlecht im Vorfeld erkennen. Die Merkmale sind zudem relativ unspezifisch. Das heißt, wenn ich Ihnen jetzt noch mal die Merkmale aufzählen würde, werden Sie feststellen, Mensch, da kenne ich vielleicht eine Person, abgesehen mal von diesen doch sehr bizarren Leaking-Merkmalen, wo jemand zum Beispiel doch sehr martialisch auftritt, sich selber mit Waffen entsprechend abbildet, sie finden Bilder, wo jemand sich selber in entsprechenden Posen darstellt, oder Videos kennen sie aus dem Internet, wo jemand die ganze Zeit mit Waffen sich selber entsprechend darstellt, schießt und so weiter. Aber auch da gibt es natürlich Situationen, wo Leute Waffen verehren, ohne dass aus ihnen Amoktäter werden. Deshalb heißt es, nicht fälschlicherweise durch die Gegend laufen, um potenzielle Amoktäter erkennen zu wollen, sondern mit einem ganz anderen Blick durch die Gegend zu gehen, nämlich mit einem sehr sensiblen Blick, mit der Verantwortungsübernahme für seine soziale Umwelt, denn es kann ja nicht sein, dass generell Schüler aus Rache, weil sie sich selber beispielsweise als Opfer einer sozialen Umwelt erleben, solche Taten begehen. Hier kann man sicherlich im Vorfeld erkennen, dass es Schülern nicht so gut geht, dass es Jugendlichen nicht so gut geht, und vielleicht versuchen, zunächst mit diesem Blick eine mögliche negative Entwicklung zu durchbrechen.

    Spengler: Müssten sich unsere Schulen ändern, insofern sie vielleicht den einzelnen Schülern zugewandter gegenübertreten müssten?

    Scheithauer: Ja, das sind natürlich immer sehr schnelle Forderungen und ich würde das durchaus auch unterstreichen, auch in anderer Hinsicht. Es gibt, glaube ich, viele Dinge, die deutlich machen, dass unsere Schulsysteme sich ein wenig mehr auf die aktuelle Situation, wie sie nun mal ist, einstellen müssen. Ich glaube, viele Lehrer bekommen das entsprechende Rüstzeug in ihrer Ausbildung gar nicht mit und sind natürlich auch vor dem Hintergrund des Betreuungsschlüssels – eine ähnliche Situation haben wir auch bei der Schulpsychologie – eigentlich gar nicht in der Lage, das entsprechend aufzufangen. Es gibt dann einige sehr engagierte Lehrer, die können das und machen das auch schon, aber andere haben vielleicht auch gar nicht die Möglichkeiten, das entsprechend umzusetzen.

    Spengler: Was heißt das denn, sich auf die Situation einstellen?

    Scheithauer: Das heißt in diesem Fall zum Beispiel, dass man auch die Zeit hat und die Möglichkeit, sich um einzelne Schüler intensiver zu kümmern, dass man eine Ausbildung hat, eine pädagogische Ausrichtung, die vom Selbstverständnis her auch mehr in diese Richtung geht, dass man nicht nur an einer akademischen Verpflichtung orientiert sich um die kognitive Ausbildung von Schülern kümmert, sondern auch um das Soziale, um die Entwicklung der Kinder und der Jugendlichen. Dazu muss man aber die entsprechende Ausbildung haben und auch die Möglichkeiten. Das heißt, man braucht natürlich auch eine Situation, dass man im Klassenraum die Zeit hat, vielleicht auch über die pädagogischen Ansätze verfügt, über die Methoden, mit den Schülern auf entsprechende Art und Weise zu arbeiten, und man braucht entsprechende Unterstützungsangebote für die Lehrer und für die Schulen, dass diese auch diese Arbeit entsprechend durchführen können.

    Spengler: Professor Herbert Scheithauer, Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin. Danke für das Gespräch.

    Scheithauer: Ich danke Ihnen auch.