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Psychologie des Dschihads
Mord und Selbstmord im Namen Allahs

"Menschen töten, weil sie töten können", sagt Wissenschaftler Jan Ilhan Kizilhan. Ein Trauma könne der Auslöser sein, oder die fehlende starke Vaterfigur. Jungen Menschen, die eine Krise durchleben, verspreche die Radikalisierung die Lösung ihrer Probleme - legitimiert durch islamistische Ideologien.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Ein Mann blickt auf einen Computerbildschirm mit der Flagge des sogenannten Islamischen Staates und einem Bild mit Kämpfern, die die Flagge des Islamischen Staates tragen.
    Junge Araber, deren Väter sich arabischen Diktatoren angedient hätten, seien heute auf der Suche nach einer verlässlichen Vaterfigur, meint Wissenschaftler Jan Ilhan Kizilhan - und finden so den Weg in den Dschihad. (imago/Reporters)
    Wie ist die nach der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts unvorstellbar geglaubte Rückkehr bestialischer Brutalität zu erklären? Jan Ilhan Kizilhan, Professor für Psychologie, transkulturelle Psychiatrie und Traumatologie spricht von der Demütigung der arabischen Welt durch die ehemaligen Kolonialmächte Westeuropas. Im Nahen Osten etwa oder auch in Nordafrika haben sie die Welt nach ihren Vorstellungen geordnet, ohne Rücksicht auf kulturelle oder ethnische Gegebenheiten. Zugleich fehle es der arabischen Welt heute angesichts der inner-islamischen Auseinandersetzungen an Zusammenhalt und einer gemeinsamen Führerfigur. Gerade junge Araber, deren Väter sich arabischen Diktatoren wie etwa Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi angedient hätten, seien heute auf der Suche nach einer verlässlichen Vaterfigur, meint Jan Ilhan Kizilhan:
    "Kinder erleben, wenn ihre eigenen Eltern devot sind, Kinder erleben, wenn ihre eigenen Eltern sagen: 'Nein, das darfst du jetzt nicht sagen, das ist gefährlich.' Also ständige innere Konflikte, die die Kinder beobachten. Und sie suchen nach Ersatzvätern. Und Radikalismen wie die Al Qaida, und jetzt der IS, sind - so falsch das auch klingen mag - ideale Vorbilder für sie. Sie haben keine Angst. Sie haben keine Angst vor dem Westen, sie haben keine Angst vor Amerika. Sie sind bereit, für eine Idee zu sterben. Das mobilisiert Jugendliche, das inspiriert Jugendliche. Jugendliche finden das toll, dass es eine Gruppe gibt, die einen Widerstand und Aufstand erlebt gegen die jahrhundertjährige Demütigung, die sie erlebt haben."
    Ein bestimmtes Täterprofil gibt es nicht
    Aber erklärt die Suche nach einer Vaterfigur die unfassbaren Gewaltexzesse junger Dschihadisten? Jan Ilhan Kizilhan verweist darauf, dass die Menschheitsgeschichte bewiesen habe, dass der Mensch in der Lage ist, für einen vermeintlich höher stehenden Grund rücksichtslose Gewalt anzuwenden, grausam zu morden und brutal zu demütigen. Das etwa vom Bundesamt für Verfassungsschutz herangezogene Täterprofil der vier Ms "männlich, muslimisch, Migrationshintergrund und Misserfolg" überzeugt den Psychologen Kizilhan nicht.
    Propaganda der Dschihadisten: Das Foto zeigt die Vorführung irakischer Soldaten.
    Propaganda der Dschihadisten: Das Foto zeigt die Vorführung irakischer Soldaten. (dpa / picture-alliance / Welayat Salahadden)
    "Diese Cluster, diese berühmten vier Ms, oder die Wissenschaft, die wir immer heranholen, geringe Schulbildung, wirtschaftliche Dinge, und so weiter, das reicht nicht. Weil wir einen Nährboden, eine Gesellschaft der islamischen Welt haben, die ihnen im Augenblick die Möglichkeit gibt, dies zu machen. So sehr sie auch nach wissenschaftlichen Argumenten suchen: Sie haben die Möglichkeit, sie haben die Räume, sie werden dafür nicht bestraft, sie können töten. Und Menschen töten, weil sie töten können."
    Jan Ilhan Kizilhan hält den Hass der islamistischen Ideologen dabei nicht für ein psycho-pathologisches Phänomen. In zahlreichen Interviews mit ehemaligen IS-Kämpfern habe er feststellen können, "dass die Tendenz zu psychosozialen Auffälligkeiten, psycho-pathologischen Auffälligkeiten, die lagen eher bei den Konvertiten. Die, die keine Moslems waren, in Amerika, Europa oder woanders zu Muslimen geworden sind, sind dort hingegangen, und sie hatten einen erheblichen Drang, sich zu beweisen, dass sie bessere Muslime sind als die Muslime selbst und sind dementsprechend auch sehr brutal gegen Frauen und gegen Kinder vorgegangen, waren Selbstmordattentäter."
    Vom Taschendieb zum "heldenhaften" Attentäter
    Vom wütenden Drang nach Gewalt und Selbstopferung spricht auch der franko-tunesische Psychoanalytiker Fethi Benslama. Für den "Übermuslim", so meint Benslama, gebe es zwei zentrale Impulse, sich dem islamistischen Terror anzuschließen: einerseits das Gefühl der identitären und kulturellen Verlorenheit. Andererseits das tiefe Schuldgefühl gegenüber der muslimischen Tradition der Vorfahren. Die meisten der späteren Attentäter, so Benslama, begönnen ihren Weg zum Dschihad mit dem Einstieg in die Straßenkriminalität.
    "Diese Kleinkriminellen fühlen sich schuldig, sie haben ein äußerst schlechtes Selbstbild. Als Übermuslim haben sie plötzlich die Möglichkeit, zum Helden zu werden und sich mithilfe eines vermeintlich göttlichen Gesetzes selbst aufzuwerten. Paradoxerweise erlaubt die Radikalisierung zugleich, weiterhin als Krimineller zu leben, aber dieses Mal mit der Legitimierung durch Gott. Der radikale Islamist gewinnt also auf ganzer Strecke: Er wird zu jemand Wichtigem und zugleich tilgt er seine Schuld als Krimineller, denn er begeht seine Straftaten ja im Namen Gottes."
    Trauma kann Auslöser für Anschlag sein
    Damit das Schuld- und Minderwertigkeitsgefühl in Terror und Gewalt umschlägt, bedarf es der vermeintlichen Legitimierung durch islamistische Ideologen, durch selbst ernannte religiöse Autoritäten, davon sind Fethi Benslama und Jan Ilhan Kizilhan überzeugt. Benslama betont gleichwohl, dass die Radikalisierung sowie der Schritt zum Terrorismus immer ein sehr individueller Vorgang und ein auch Ergebnis von Zufällen sei. Der plötzliche Verlust einer nahestehenden Person oder eine traumatische diskriminierende Erfahrung können Auslöser für den Entschluss werden, einen Anschlag zu begehen.
    "Das Profil des typischen Terroristen - so etwas gibt es nicht. Es geht immer um besondere Umstände, in denen jemand sich in einer tiefen Krise befindet, und dann den Weg des Dschihad einschlägt. Einigen, aber nicht allen jungen Menschen, die eine Krise durchleben, verspricht die Radikalisierung die Lösung all ihrer Probleme. Sie fühlen sich schuldig, klein, unbedeutend, nicht anerkannt. Wenn man so jemandem das Angebot macht, plötzlich groß, bedeutend und heroisch zu sein, sich von seinen Sünden reinzuwaschen, dann ist das für sie ein idealer Ausweg aus ihrer seelischen Notlage. Die Radikalisierung ist eine Form der Selbsttherapie."
    Benslamas deutscher Kollege Jan Ilhan Kizilhan betont, der so genannte Dschihad biete jungen Menschen zugleich die Möglichkeit, ihre individuelle Persönlichkeit abzulegen und sich ganz in den Dienst einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu stellen. Ein in der Diktaturgeschichte zentrales Verhaltensmuster. Für die Gewaltexzesse im Namen des Islamismus gibt es keine einfache Erklärung. Es geht vielmehr um die Verbindung von historisch gewachsenen Konflikten, sozialen und politischen Verwerfungen und seelischen Verheerungen. Die Religion wird lediglich als Legitimation zur Bekämpfung zivilisatorischer Errungenschaften missbraucht.