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Psychologie
Manuskript: Gefühlsverwandtschaften

Der uralte Streit, ob Mensch und Tier gleich fühlen, geht in eine weitere Runde. Hinzu kommt eine Auseinandersetzung darüber, ob Menschen unterschiedlicher Kulturkreise gleich fühlen. Lange Zeit schien klar zu sein, dass es universelle Basisemotionen gibt, die alle Menschen kulturübergreifend erkennen können. Schottische Forscher bestreiten das nun.

    Gefühlsausbrüche: namibischer Volksstamm.
    Dasselbe von Briten.
    Disa Sauter: "Für die meisten Wissenschaftler, glaube ich, sind Emotionen über die Kulturen hinweg gleich."
    Rattenlaute: Lustvoll, freudig?
    Henrik Walter: "Na ja! Wie sind die Emotionen von Nagern mit unseren vergleichbar?"
    Rachael Jack: "A very firy debate."
    Freude, Angst,Wut, Liebe oder Trauer. Emotionen. Sie sind wie Musik einer inneren Welt. Schnürt etwas die Kehle zu oder lässt es innerlich wachsen? Möchte man die Menschheit umarmen, morden oder sich verkriechen? Emotionen verleihen Erlebnissen Wert und Bedeutung. Sie verändern den Zustand des Körpers, spiegeln sich in Mimik und Gestik, provozieren Reaktionen. Vieles haben Emotionsforscher inzwischen verstanden. Doch vor allem um eine Frage streiten sie noch immer: Wie universell sind Emotionen? Teilen Menschen sie über alle Kulturen hinweg in gleicher Weise? Wie tief reichen ihre Wurzeln, verbinden sie gar Tier und Mensch? Ein Konsens darüber ist auch heute noch nicht in Sicht. Aber neue Studien haben Bewegung in die alte Auseinandersetzung gebracht.
    Der Neurobiologe Jaak Panksepp setzte sich vor über 30 Jahren an der amerikanischen Bowling Green State University ein großes Ziel. Er wollte endlich Beweise liefern, dass Tiere Emotionen besitzen. Dazu nutzte er avancierte Technik und verblüffende Methoden. Zum Beispiel ließ er Ratten einfach nach Lust und Laune herumtollen und belauschte sie im Ultraschallbereich. Tatsächlich zirpten die Ratten beim Tollen und Balgen wild herum - im Bereich von 50 Kilohertz.
    "Eines Morgens bin ich dann in mein Labor gegangen und habe meinem jungen Assistenten gesagt: Komm, lass uns ein paar Ratten kitzeln! Vielleicht ist ihr Zirpen ja eine urtümliche Form von Lachen? Und als wir die Tierchen kitzelten, fingen sie an, noch höher und noch wilder zu zirpen als jemals zuvor. Jahrelang haben wir unsere Ratten jetzt schon gekitzelt, und es ist immer dasselbe: Sie zirpen und jauchzen und werden zutraulich wie kleine Kätzchen und Schoßhündchen. Ganz so, wie wenn man Kinder auf die richtige Art und Weise kitzelt. Sie fangen dann zu lachen an und werden entspannt und zutraulich."##
    Für Jaak Panksepp kann man Tieren unter folgenden Bedingungen Emotionen zuschreiben: Sie müssen bei ähnlichen Reizen und Situationen wie der Mensch ein emotionstypisches Verhalten zeigen, also zum Beispiel jauchzen und herumtollen. Und dabei müssen ähnliche Hirnnetzwerke aktiv sein. Bei den zirpenden Ratten meint er, das belegt zu haben.
    "Wir glauben daher bei den Ratten auf das Fundament positiver sozialer Gefühle gestoßen zu sein. Es geht dabei um eines der größten Geheimnisse unserer menschlichen und animalischen Natur: um die Grundlagen der menschlichen Freude, die Freude am Spaß und Spiel mit anderen. Dieses Gefühl scheint ganz tief in unser Nervensystem eingegraben zu sein und wahrscheinlich ist es Bestandteil des Nervensystems aller Säugetiere."
    Kürzlich hat Panksepp die Essenz seiner jahrzehntelangen Forschungen in einem Buch zusammengefasst. Seiner Meinung nach existieren bei Tieren wie Menschen vier grundlegende Emotionssysteme für das soziale Zusammenleben.
    "Sexuelle Lust, dann mütterliche Fürsorge, aber auch Männer können fürsorglich sein. Zum Dritten gibt es das Trennungsschmerz- oder Bindungssystem: es tut uns weh, wenn wir von den Eltern oder anderen nahen Menschen getrennt werden. Und viertens genießt man mit Freunden Spiel und Spaß wie bei den Ratten. Alle diese vier Systeme haben eine solide biologische Grundlage."
    Panksepp hat noch drei weitere elementare Emotionssysteme in den älteren Regionen des Gehirns ausgemacht. Eines für Furcht, bei dem Tiere erstarren oder fliehen, eines für Ärger und das so genannte „Seeking“-oder Suchsystem. Nach Panksepp treibt es Tiere und Menschen mit Hilfe des Botenstoffs Dopamin an, die Welt neugierig zu erkunden. Panksepp nennt diese Systeme „Kernaffekte “ oder „Affektprogramme“, weil sie so elementar sind und eher instinkthafte Verhaltensmuster beschreiben. Unumstritten sind seine Emotionsstudien an Tieren nicht. Aber immer mehr Forscher teilen das Urteil des Neurowissenschaftlers Henrik Walter von der Berliner Charité .
    "Es ist sehr gut fundiert!"
    Tiere haben Emotionen, weil sie zum Überleben notwendig sind. Furcht kann vor Gefahren warnen, Ärger und Wut helfen, sich gegen andere durchzusetzen. Neugier braucht man, um seine Umwelt zu erkunden. Ohne Lust gibt es keine Fortpflanzung. Fürsorge, Trennungsschmerz und die Freude am Spiel sind Garanten für das Überleben in sozialen Zusammenhängen. Weil Menschen und Tiere diese Kernemotionen teilen, meint Jaak Panksepp können sie sich zumindest teilweise emotional verstehen.
    Doch Skeptiker warnen weiterhin davor, Panksepps Beobachtungen überzubewerten. Auch Jaak Panksepp, argumentieren sie, habe nur gezeigt, dass es Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und Körperzustände bei Tieren gibt, die den menschlichen ähneln. Die Frage sei aber weiterhin, ob sie auch genauso fühlen. Im menschlichen Gehirn seien schließlich die höheren Areale für kognitive Prozesse stärker ausgeprägt, fürs Denken, Planen oder Urteilen. Wie stark verändert das menschliche Gehirn, wie Körperzustände empfunden werden?
    Der amerikanische Neurologe Bud Craig von der Universität Phoenix hat den Unterschied zwischen tierischen und menschlichen Emotionen intensiv untersucht. Er gesteht zu, dass Tiere vergleichbare Körperempfindungen wie Menschen besitzen. Zum Beispiel Magendruck oder Muskelverkrampfungen. Aber Craig hat auch einen wesentlichen Unterschied entdeckt: in den Nervenbahnen, die diese Körperinformationen verarbeiten.
    "Das Vorderhirn in niederen Säugetieren wie den Ratten nimmt nur auf, was ihm uralte Teile im tiefen Hirnstamm über die Bedürfnisse des Körpers mitteilen. In Primaten wie dem Menschen existiert jedoch ein direkter Nervenpfad vom Körper in die höheren Regionen des Gehirns. Diese können daher viel genauer registrieren, was sich auf der Haut, in den Muskeln, sogar in den Knochen oder dem Immunsystem abspielt. Dieser Nervenpfad verschafft uns also ein feedback über unser autonomes Nervensystem, damit wir die Veränderungen unseres Herzschlags, unseres Atems und sogar der Immunsubstanzen in unserem Blut sehr genau wahrnehmen können."
    Die höheren Hirnregionen von Schimpansen, Bonobos und dem Menschen erzeugen anders als bei den niederen Säugern ein direktes Bild vom aktuellen Körperzustand. Dabei werden für Craig alle relevanten Körperinformationen zusammengeführt. Eine bestimmte Hirnregion verknüpft die Körperzustände außerdem mit der aktuellen sozialen Situation.
    "Die tief im Gehirn versteckte 'Insel' erzeugt eine Repräsentation von allem, was mich in meinem Körper und seiner Umgebung bewegt. Diese Hirnregion bindet sozusagen zusammen, was aus den Hirnnetzwerken kommt, die meine sozialen Beziehungen organisieren, und denjenigen, die meine körperlichen Bedürfnisse regulieren. All das wird zusammengeführt, um eine einheitliche Karte über meine Gefühlszustände zu erstellen."
    Bud Craig nennt diese Zustände „global emotional moments“: globale emotionale Momente. Für Craig sind sie die Basis unseres Ichgefühls. Menschen und Tiere besäßen zwar gemeinsame Informationskanäle für Furcht, Freude, Neugier oder Bindung. Aber diese Körperempfindungen würden beim Menschen über einen speziellen Nervenkanal viel stärker zu einer übergreifenden Gefühlsstimmung zusammengefasst. Das passiere ansatzweise wohl auch bei anderen höheren Primaten, meint Bud Craig, aber auf keinen Fall bei Ratten.
    Der emotionale Film jedes Menschen ist nicht nur individuell, er setzt sich auch aus einer riesigen Palette von Einzelemotionen zusammen. Neben Freude, Ärger oder Neugier existieren Euphorie, Erleichterung, Zufriedenheit, Scham, Schuld, Panik, soziale Angst und vieles mehr. Allerdings ist manchmal gar nicht richtig auszumachen, welche Emotion gerade dominiert. Menschliche Gefühle sind interpretationsanfällig. Interpretationen aber sind auf die höheren kognitiven Hirnareale angewiesen, die den Menschen auszeichnen. Und sie sind offen für kulturelle Einflüsse. Wie universell können menschliche Emotionen dann überhaupt sein?
    Die Annahme universaler Basisemotionen beim Menschen ist eng mit dem Namen des amerikanischen Psychologen Paul Ekman verbunden. Ekman hatte in den letzten 40 Jahren Menschen in unterschiedlichsten Kulturen Bilder und Animationen gezeigt. Sie sollten Emotionen in Reinform darstellen. Ob in den USA, in Japan oder Papua-Neuguinea - Paul Ekman fand, dass alle Menschen die gleichen sechs Basisemotionen erkannten: Ärger, Angst, Trauer, Ekel, Überraschung und Freude. Allerdings gab es auch immer wieder Kritik. Andere Forscher gingen wahlweise von 4, 8 oder 14 Basisemotionen aus, manche wollten gar keine anerkennen. Und selbst Ekman hat seine universale Emotionspalette zuerst um Verachtung und dann um weitere Varianten erweitert, etwa um Scham, Schuld, Aufregung oder Erleichterung. Trotzdem beherrscht die magische Zahl „sechs“ bis heute die Fachliteratur. 2010 führte die Psychologin Disa Sauter von der Universität Amsterdam gemeinsam mit Paul Ekman erneut eine kulturvergleichende Studie über Basisemotionen durch. Diesmal bekamen die Versuchspersonen keine Gesichter sehen, sondern emotionale Laute zu hören.
    Disa Sauter besuchte in Namibia den Stamm der Himba, der noch weitgehend isoliert von westlicher Zivilisation lebt. Sie ließ Mitglieder des Stammes kurz emotionale Zustände umschreiben. Bei Trauer ging es zum Beispiel um eine Person, in deren Familie jemand gestorben war.
    Anschließend spielte Disa Sauter den Himba-Vertretern zwei Laute vor. Einer passte zur traurigen Geschichte, der andere nicht. Die Himba sollten angeben, welcher Laut passt. Das Gleiche geschah für Ekel, Freude und andere Emotionen. Im Vergleich dazu unterzog Disa Sauter Briten derselben Prozedur.
    Zunächst die Geschichte, dann die Laute. Nach Tests an knapp 100 Versuchspersonen war die Frage: Inwieweit können Himba und Briten akustisch nicht nur die Emotionen der eigenen, sondern auch der fremden Kultur erkennen?
    Disa Sauter: "Über die Kulturen hinweg wurden tatsächlich akustisch die gleichen sechs Emotionen erkannt wie in früheren Studien zur Gesichtserkennung: Angst, Ekel, Trauer, Ärger, Überraschung und Freude."
    Disa Sauter konnte damit die alte Ekmansche Theorie von den sechs Basisemotionen akustisch bestätigen. Allerdings gaben ihr die Ergebnisse auch zu denken. Denn es gab zum Teil keine allzu scharfe Grenze zwischen dem, was universell erkennbar war und was nicht. Freude, Erleichterung und Triumph sind eigentlich eng miteinander verwandte Gefühle. Doch nur freudiges Lachen wurde kulturübergreifend erkannt. Mit dem britischen "Erleichterungs-Seufzer" konnten die Himba überhaupt nichts anfangen. Und auch Triumphgeschrei vermittelte nicht sich zwischen Briten und Himba. Hier fiel der Unterschied am größten aus. Verständlich, meint Disa Sauter:
    "Das Triumphgefühl ist ein gutes Beispiel für Emotionen, die eine Gruppe positiv in sich zusammenschließen. Man teilt diese Signale mit der eigenen, aber nicht notwendigerweise mit einer anderen Gruppe, weil man letzten Endes in Konkurrenz zu ihr steht."
    Disa Sauter glaubt daher zwar immer noch daran, dass es sechs universelle Basisemotionen gibt. Aber die Grenze zwischen biologischer Natur und sozialer Prägung ist manchmal recht fließend
    "Eine moderne Fassung der Universalitätstheorie sollte also lauten: es gibt zwar etwas, das alle Menschen und möglicherweise auch einige Tiere teilen und verstehen. Aber das bedeutet nicht, dass es keine kulturellen Variationen gibt."
    "Der kulturelle Unterschied ist groß!"
    Die Psychologin Rachael Jack von der Universität Glasgow greift die Theorie universaler Basisemotionen am schärfsten an. Am schwersten wiegt ihre Kritik an den Methoden. Man setze den Versuchspersonen Bilder vor, die Ekman ursprünglich aus der westlichen Kultur entnommen habe. Meist wurden sie in künstlichen Situationen mit Schauspielern aufgenommen und sollten Emotionen in Reinform darstellen.
    "Wenn sich jemand bewusst ist, dass er aufgenommen wird, beeinflusst das jedoch seinen Emotionsausdruck. Wenn wir uns spontan im Alltag ausdrücken, ist das etwas ganz anderes. Das führt zu dem Problem, ob eine solche Pose einem lebendigen Gesichtsausdruck entspricht. Und es ist äußerst schwierig, künstlich eine Emotion hervorzurufen, die rein und nicht gemischt ist."
    Auch Disa Sauter habe letzten Endes akustisch nach solchen reinen Emotionen gesucht und nicht danach, wie wir Emotionen im Alltag erfahren. Dort, so Rachael Jack, müssten wir oft interpretieren, was ein aktueller Gesichtsausdruck oder Laut gerade bedeutet. Ist es Trauer oder nur Müdigkeit, was sich da gerade zeigt? Grinst jemand entspannt oder vor Wut? Um diesem emotionalen Alltag gerecht zu werden, entwarf ein Team um die Glasgower Forscherin ein Animationssystem für emotionale Gesichter.
    "Wir präsentieren unseren Versuchspersonen Gesichtsbewegungen, die anatomisch möglich sind – aber in völlig zufälliger Folge. Wir geben also in keiner Weise vor, wie ein bestimmtes emotionales Gesichtsmuster auszusehen hat. Wir präsentieren einfach diese zufälligen Gesichtsbewegungen und sagen den Versuchspersonen: kategorisiert die Gesichtsbewegungen nach eurem ureigenen Gefühl. Bei dieser Methode können sie die Gesichter also ganz aus ihrer subjektiven, auch kulturell geprägten Perspektive heraus beurteilen."
    Rachael Jack testete 15 Europäer und 15 Chinesen im Vergleich und spielte ihnen über 4000 Animationen vor
    "Die westlichen Testpersonen unterteilten die Gesichter selbstständig in die sechs Basismuster nach Ekman. Anders die Chinesen: Sie produzierten zwar klare Muster für Freude und Traurigkeit. Zwischen Überraschung, Angst, Ekel und Ärger gab es aber große Überlappungen. Das bedeutet, dass hier der Unterschied in den Kategorien geringer ist und ihre physische Ähnlichkeit viel stärker als im Westen wahrgenommen wird."
    Jacks Studie legt nahe, dass die sechs Basisemotionen von Ekman doch nur für die westliche Kultur gelten. Wenn sie keine idealtypischen Bilder sehen, teilen Menschen in anderen Kulturen Emotionen anders ein.
    Vor kurzem bekamen die Himba im Süden Afrikas noch einmal Besuch. Ein Team um die Psychologin Lisa Barrett von der amerikanischen Northeastern University zeigte ihnen Gesichtsausdrücke, lieferte ihnen aber keinerlei Vorgaben. Die Himba sollten die Gesichter selbständig in sechs Gruppen einteilen. In die erste Gruppe packten die Himba alle lächelnden Gesichter, in die zweite alle ängstlichen und in die dritte alle neutralen Gesichter. In den drei restlichen Gruppen waren dann ängstliche, traurige und angeekelte Gesichter wild durcheinander gemischt. Das stützt Rachael Jacks Vermutung:
    "Wahrscheinlich gibt es viel weniger universale Emotionen als bisher gedacht: ziemlich sicher Freude und Trauer, vielleicht noch Furcht."
    Das Reich der kulturgeprägten Emotionen würde sich entsprechend ausdehnen. Je freier die Versuchspersonen interpretieren dürfen, desto unschärfer wird die Grenze zwischen natürlichen Basisemotionen und kultureller Vielfalt. Das wertet die Rolle von Kognition und Interpretation ungemein auf. Sind Emotionen womöglich ein kognitives Konstrukt, das auf dem Fundament vieldeutiger Körper-und Gefühlszustände entsteht?
    "Ich möchte nicht wissen, wie viele Untersuchungen inzwischen mit den so genannten Ekman-Fotos gemacht worden sind."
    Professor Klaus Scherer, der Leiter des Schweizer Zentrums für Affektwissenschaften in Genf, hat lange Zeit mit Paul Ekman zusammengearbeitet. Die Grenzen der Methoden sind ihm deutlich bewusst.
    "Es wird viel zu häufig von einer Emotionsreaktion ausgegangen! Auch diese Idee, es gibt bestimmte Grundemotionen und ich habe entweder die oder die. Es gibt nicht Einzelemotionen, die man jetzt genau beschreiben kann, sondern es gibt eine unglaubliche Menge an Schattierungen verschiedener Emotionszustände, die eben situational bestimmt sind."
    Dafür gibt es inzwischen zahlreiche Belege. Klaus Scherer befragte in einer Studie zum Beispiel Passagiere auf dem Genfer Flughafen, die ihr Gepäck verloren hatten. Eigentlich konnten sie nur verärgert sein
    "Aber die Tatsache ist, dass die extrem gemischte Emotionen hatten, dass praktisch in keinem einzigen Fall eine einzige Emotion allein erlebt wurde und dass die Mischungen abhingen von der Bewertung. Kamen die aus dem Urlaub zurück und in dem Koffer war eigentlich nur schmutzige Wäsche und dann war das nicht so schlimm. Und wenn jemand zu einem Arbeitsaufenthalt kam und hatte Arbeitsunterlagen im Koffer, war natürlich die Reaktion ganz anders, aber selbst da waren immer Mischungen da."
    Klaus Scherer vertritt wie viele andere Forscher die so genannte "Appraisal"-, die Abschätzungs- oder Bewertungstheorie. Emotionen, sagt er, entstehen, indem wir Situationen immer auch bewerten. Innere und äußere Signale fließen zusammen, bilden einen Mix aus Emotionen, der auf das Denken abfärbt. Umgekehrt beeinflusst das Denken aber auch den emotionalen Mix, indem es Urteile fällt und Bewertungen abgibt. Und diese sind kulturell geprägt. In Japan zum Beispiel liegt die Schranke, Ärger zu zeigen, viel höher als in Westeuropa. In der Türkei gibt es ein Wort für ein Gefühl, bei dem Wut und Trauer gleichzeitig auftreten. Neuere Studien bestätigen, dass Denken, Sprache und Fühlen, Kognition und Emotion viel enger miteinander verzahnt sind als früher gedacht.
    "Wir arbeiten in unseren Emotionsregulationsstudien mit einem einfachen Modell, von dem wir wissen, dass es falsch ist."
    Henrik Walter von der Berliner Charité.
    "Das Modell ist ein ganz duales Modell, das sagt: unten im Zentrum vom Gehirn sitzen die Gefühle und oben im Cortex sitzt die Kontrolle für die Gefühle und die beiden interagieren. Das ist sozusagen ein einfaches Modell, weil es alles einfacher macht zu rechnen und zu verstehen. Wir wissen, dass es anders ist! Wir wissen zum Beispiel, dass dazwischen, im orbitofrontalen Kortex, dass dort die Wertigkeit, also Positivität und Negativität codiert ist, - spricht schon einmal gegen das duale System und in Wirklichkeit wird es wahrscheinlich noch komplizierter sein."
    Wie also kann man sich die Entstehung von Emotionen in einem Gehirn vorstellen, in dem Denken und Fühlen eng miteinander verwoben sind? Die Neuropsychologin Kristen Lindquist von der University of Northern California vertritt eine radikale Position: eine konstruktivistische Theorie der Emotionen. In mehreren Studien stellte sie zunächst fest: Ob Furcht, Freude, oder Ekel - für keine Emotion existiert eine einzelne, klar beschreibbare Region im Gehirn.
    "Natürlich gibt es trotzdem Gehirnaktivitäten, die mit bestimmten emotionalen Erfahrungen zusammenhängen. Aber diese Muster sind sehr komplex und ziehen sich über das gesamte Gehirn. Sie haben mit Sehen, Fühlen, Körperempfindungen, Handeln und mit Wissen zu tun. Es sind verteilte Muster, die bei unterschiedlichsten Gefühlen aktiv sein können: bei Furcht, bei Ärger, bei Ekel, und so weiter und so fort. Wir müssen daher ganz neu darüber nachdenken, wie das Gehirn Emotionen hervorbringt. Offenbar müssen alle diese Regionen zusammenkommen, um einen bestimmten geistigen Zustand zu erzeugen. Dabei bestimmt die Situation entscheidend mit, welche Emotion gerade in den Vordergrund rückt. Für mich sind Emotionen daher situationsgebundene Konzepte, ich nenne sie 'situierte Konzeptualisierungen'. Ihre Bedeutung erwächst vor allem daraus, wie wir den Zusammenhang interpretieren."
    Sinne und Gedächtnis melden: Man könnte gerade einigermaßen zufrieden sein, sich richtig freuen oder sogar jubeln. Die meist unbewusste Bewertung der Situation konstruiert daraus dann eine einzelne, für andere sichtbare Emotion. Zuständig für diese Konstruktion, sagt Lindquist, sei ein spezielles Netzwerk im Gehirn. In einer Studie mit Demenzkranken zeigte sie, was bleibt, wenn dieses Netzwerk zerstört ist.
    "Gesunde Versuchspersonen teilen Gesichter in sechs Stapel ein: alle fröhlichen Gesichter alle traurigen, wütenden und alle, die Ekel ausdrücken, kommen jeweils in einen Stapel, und so weiter und so fort. Die Demenzkranken aber können das nicht. Sie produzieren nur drei Stapel: einen für positive Gesichter, einen für negative wie Trauer, Ärger und Ekel und einen für neutrale Gesichter. Da diese Patienten nicht auf Wissenskonzepte und Begriffe zurückgreifen können, nehmen sie die Gesichter rein affektiv wahr. Sie sehen also nur ganze elementare und generelle Emotionsmuster positiver, negativer oder neutraler Qualität."
    Das Reich der Emotionen: ein vielschichtiger Raum. Am unteren Ende der Emotionskette existieren uralte und sehr einfache Affekte, die wir wohl mit den Tieren teilen. Hier geht es ganz generell um den Drang zu überleben. Wir haben wie Tiere Angst vor einem Angreifer, unser Körper zittert, wir reißen die Augen auf und fliehen. Anders als Tiere haben wir aber auch Angst vor abstrakten Dingen wie der Klimakatastrophe. Am oberen Ende der Emotionskette existieren daher Emotionen, in denen Kognition das Fühlen stark bestimmt. Kulturelle Eigenheiten prägen hier die Emotion. Europäer können zum Beispiel kaum verstehen, dass paschtunische Frauen bei ihrer Eheschließung "Gham" zeigen: eine spezielle Form von Trauer.
    Kristen Lindquist: "Die Frage ist längst nicht mehr: Sind Emotionen universal oder nicht? Die Frage ist: Was an den Emotionen ist universal und was nicht?"