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Psychologische Charakterstudie eines Auschwitzüberlebenden

Auch in seinem zweiten Roman mit dem Titel "Der Kalte" thematisiert der Autor Robert Schindel wieder die Aufarbeitung des Holocausts. Hauptfigur ist der Auschwitzüberlebende Edmund Fraul, der seine grauenvollen Erinnerungen in einer versteinerten Seele eingemauert hat.

Von Ursula März |
    In einer der zahlreichen Kaffeehausszenen in Robert Schindels neuem Roman beklagt sich ein Wiener Lyriker - er hat den Namen Hirschfeld - über seinen Hamburger Verlag, der ihm im Nacken sitze und einen neuen Roman erwarte, ja geradezu abverlange, da sich mit einem Roman nun mal mehr verdienen lasse als mit Gedichtbänden. Nicht nur der Verlag, beschwert sich Hirschfeld, die ganze Welt frage ihn unablässig, ob er nicht endlich ein Romanprojekt in petto habe.

    Das fragte sich die literarische Öffentlichkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten tatsächlich, wenn von dem österreichischen Schriftsteller und Lyriker Robert Schindel die Rede war. Vor 20 Jahren, 1992, erschien sein erster Roman mit dem Titel "Gebürtig", eine Geschichte über die Auseinandersetzung zweier Nachkommen der Holocaust-Generation; der eine der Sohn eines Täters, der andere der Sohn eines Opfers. Schon bald danach kündigte Schindel einen Nachfolgeroman an, der indes so lange auf sich warten ließ, dass es fraglich schien, ob er je reale Gestalt annehmen oder sich in die Tradition großer Romangerüchte einreihen würde. Nun ist er tatsächlich da, Robert Schindels neuer Roman. Er heißt

    "Der Kalte", ist mit über 600 Seiten fast doppelt so umfangreich wie der Vorgänger und auch sonst um einiges gewaltiger. Wieder steht die Aufarbeitung des Holocaust thematisch im Zentrum des Romangeschehens, Hauptfigur ist der Auschwitzüberlebende Edmund Fraul, der seine grauenvollen Erinnerungen in einer versteinerten Seele eingemauert hat und vor Schulklassen ohne ein Anzeichen emotionaler Bewegung als Zeitzeuge auftritt. Er, dieser mechanisch funktionierende Edmund Fraul, ist der titelgebende "Kalte". Er ist gleichsam das stille Zentrum eines fast unüberschaubaren Wimmelbildes von Episoden und Figuren. Denn um diesen kalten Edmund Fraul herum entfaltet Robert Schindel ein riesiges Gesellschaftspanorama der Stadt Wien, seiner Sitten, Intrigen, Possen und Skandale, in das er gleich mehrere politische und kulturpolitische Sprengsätze der jüngeren österreichischen Geschichte implantiert. Ihre Zündschnüre führen sämtlich zurück in die NS-Zeit.

    Die Romanhandlung setzt im Herbst 1985 ein, das heißt, mit dem Beginn der sogenannten Waldheim-Affäre. Der ehemalige UN-Generalsekretär Kurt Waldheim wurde 1985 von der ÖVP für den Posten des österreichischen Staatspräsidenten aufgestellt und im Juni des darauffolgenden Jahres auch tatsächlich in das Amt gewählt. Gegen Waldheim bestand allerdings schon seit längerem der Verdacht, als Soldat der Wehrmacht an Kriegsverbrechen in Jugoslawien beteiligt oder über sie zumindest informiert gewesen zu sein. Nachforschungen des jüdischen Weltkongresses und einer Historikerkommission kamen zu dem Ergebnis, dass Waldheim seine Rolle im Zweiten Weltkrieg falsch dargestellt hatte, zeitlebens hatte Waldheim als verdächtiger Kriegsverbrecher Einreiseverbot in die USA.

    Die Waldheim-Affäre, die in der österreichischen Gesellschaft der 80er-Jahre als Katalysator wirkte, markiert das politische Gelände des Romans, in dem noch zwei weitere historisch reale Skandale ihren Platz haben: Der Skandal um Thomas Bernhards Stück "Heldenplatz", das 1988 unter der Regie von Claus Peymann am Burgtheater uraufgeführt wurde, just zum 50. Jahrestag des Anschlusses, und die Auseinandersetzung um Alfred Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus. Sie fällt ebenfalls ins Jahr 1988. Das gesamte realhistorische Personal dieser Ereignisse und der Zeit von 1985 bis 1989 bevölkert Robert Schindels Roman, von Waldheim bis Peymann, vom Chefredakteur des Magazins "Profil" bis Thomas Bernhard, von der Schauspieldiva des Burgtheaters bis zu ihrem Liebhaber, bei dem es sich um den Schauspieler Karl Fraul handelt, den Sohn Edmund Frauls.

    Die Menge der Figuren und stofflichen Erzähleinheiten, die auf den 670 Seiten ihren Platz beanspruchen, ist hier gar nicht rekapitulierbar. Man könnte den "Kalten" als literarische Geschichtsstunde beschreiben wie als Schlüsselroman oder als psychologische Charakterstudie eines Auschwitz-Überlebenden, dessen Erinnerungen sich langsam zu erwärmen beginnen, als er mit einem KZ-Aufseher aus Auschwitz ins Gespräch kommt. Dieses Motiv, die fatale Schicksalsverbindung von Opfer und Täter, bildet die Brücke zwischen Schindels vor 20 Jahren erschienenen Roman "Gebürtig" und seinem neuen.

    Nur sind Robert Schindels Ansprüche an die literarische Kapazität seiner Romanprosa heute erheblich größer als vor 20 Jahren und sie erweisen sich als ein wenig problematisch. Denn das literarische Monumentalprojekt, das Robert Schindel hier vorlegt, wird gerade von seiner historischen Fülle gelegentlich bedroht. Der Übersichtlichkeit der Lektüre kommt der Auftritt verschiedener Ich-Erzähler so wenig entgegen wie ein gewisser Ehrgeiz des Autors, möglichst viele politische und ideologische Positionen der Waldheim-Ära mit exemplarischen Figuren zu besetzen. Robert Schindels Kunst der Pointierung ist in diesem Roman dem Handwerk der Ökonomie eine Spur überlegen.

    Robert Schindel: "Der Kalte"
    Suhrkamp Verlag,2013,
    661 Seiten, 24,95 Euro