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Psychothriller
Verlust und Gewalt im Maisfeld

Xavier Dolan hält gerne die Fäden in der Hand: Der 25-Jährige schreibt, dreht, produziert und spielt selbst in seinen Filmen mit. So auch in "Sag nicht, wer du bist", der nun in die deutschen Kinos kommt. Ein Thriller mit Hitchcock-Anleihen, über zwei Männer, die nach einem Trauerfall nicht nur mit ihren Emotionen kämpfen.

Von Jörg Albrecht |
    Der Regisseur und Schauspieler Xavier Dolan als Tom in einer Szene seines Films "Sag nicht, wer du bist".
    Xavier Dolan in seiner Rolle als Tom. (picture alliance / Kool Filmdistribution)
    Es ist ein nasser, nebliger Herbsttag. Tom, ein junger Mann aus Montreal, hat sein Ziel auf dem Land erreicht. Auf dem einsam gelegenen Bauernhof ist Guillaume – sein bei einem Unfall getöteter Freund – aufgewachsen. Tom, der von Xavier Dolan selbst gespielt wird, will bei der Beerdigung Abschied nehmen.
    "Hallo? ... Ist da wer? ..."
    Seine Ankunft auf dem Hof ist mit dräuender Musik unterlegt und schürt die Spannung. Ganz so, als hätte Hitchcock hier seine Finger im Spiel. Es wird nicht bei diesem einen Mal bleiben. Immer wieder gibt es in Dolans vierter Regiearbeit Referenzen an den Großmeister des Suspense zu entdecken. "Sag nicht, wer du bist!" ist ein Psychothriller, ein cleveres Spiel mit dem Genre und mit der Erwartungshaltung des Zuschauers.
    Tom hat sich Zugang zum Haus verschafft. Guillaumes Mutter Agathe entdeckt ihn schlafend am Küchentisch. Die unheilverkündende Musikuntermalung findet ihr vorläufiges Ende.
    "Darf ich fragen, was Sie hier zu suchen haben? – Pardon. Ich hatte bloß Ihre Adresse. Ich bin Tom. – Entschuldigen Sie die Unordnung. Ist gerade eine schwere Zeit. Sie waren nicht angekündigt."
    Homosexualität vertuschen
    Auch hier kommt einmal mehr Dolans Grundthema der Homosexualität ins Spiel. Guillaumes Mutter wusste nicht, dass ihr verstorbener Sohn schwul war. Und das soll auch so bleiben. Zumindest ist das der Plan von Guillaumes älterem Bruder Francis, der zusammen mit seiner Mutter den Hof bewirtschaftet. Noch in der Nacht vor der Trauerfeier nimmt er Tom in den Schwitzkasten. Er gibt ihm eindrücklich zu verstehen, dass dieser seiner Mutter eine Lügengeschichte aufzutischen hat. In dieser Geschichte ist Tom nur ein Arbeitskollege und Kumpel. Außerdem soll er Agathe von einer glücklichen Beziehung Guillaumes zu einer Frau berichten.
    "Hast du mich erschreckt. – Du hast nicht gesprochen. – Nein. Ich weiß. Was willst du? Fass mich nicht an! – Was war mit deiner Rede? Meine Mutter war ganz traurig. Ich mag es gar nicht, wenn sie so leidet. Aber überhaupt nicht. Ich habe dir gesagt, was du tun sollst. ... Tom! – Lass das! ..."
    Ab diesem Zeitpunkt ließe sich über die Beweggründe von Charakteren trefflich streiten. Denn Tom macht etwas, das wenig plausibel erscheint, aber gerade darum die Handlung in der Schwebe hält. Statt nach der Beerdigung das Weite zu suchen – was er übrigens zunächst auch vorhat, lässt sich Tom auf das Spiel ein. Francis' virile Erscheinung und seine scheinbar unkontrollierten körperlichen Übergriffe mit ihren unterschwelligen sexuellen Andeutungen ziehen ihn in den Bann.
    "Ich weiß, dass ich dir gefalle"
    "Fragst du dich nicht, warum ich mit 30 noch bei meiner Mutter lebe? Ich könnte eine Frau glücklich machen. Ein schöner Hof. Sehe ganz gut aus. Ich weiß, dass ich dir gefalle. Also bleib!"
    Wer einen Thriller mit vordergründigem Nervenkitzel erwartet, wird von "Sag nicht, wer du bist!" sicher enttäuscht sein. Xavier Dolans Filmsprache ist die der raffinierten Suggestion. Dabei zieht sich als Leitmotiv durch den Film die Trauer der Figuren und ihr unterschiedlicher Umgang mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Das ist immer wieder eine Gratwanderung und droht manchmal ins Absurde und Theatralische zu kippen. Dann gerät Dolans Film eher zur Thriller-Persiflage. Über weite Strecken aber versteht er meisterhaft, eine faszinierende Atmosphäre der Ungewissheit zu kreieren – inklusive der schönsten Hitchcock-Referenz: eine erotisch aufgeladene Jagd durch ein Maisfeld.
    "Das nächste Mal, wenn du ausrastest, dann such dir nicht wieder ein Maisfeld aus. Es ist Oktober. Da sind die Maisblätter rasiermesserscharf. – Tut mir leid. ..."