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Public Viewing in griechischer Flüchtlingsunterkunft
Daumen drücken für ein Europa, das sie nicht will

Europa ist durch die Schließung der Balkanroute für die in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge in immer größere Ferne gerückt. Und trotzdem fiebern sie mit, wenn Europa Fußball spielt. Die EM sehen können sie aber nicht. In den Flüchtlingsunterkünften gibt es keine Fernseher. Freiwillige Helfer aus NRW organisieren deswegen ein Public-Viewing vor den Flüchtlingscamps bei Thessaloniki.

Von Ann-Kathrin Stracke |
    Flüchtlingslager in einem verlassenen Fabrikgelände in Sindos, einem Vorort von Thessaloniki.
    Flüchtlingslager in einem verlassenen Fabrikgelände in Sindos, einem Vorort von Thessaloniki. (AFP - Sakis Mitrolidis)
    Die kleine Slava sitzt bei ihrem Vater auf dem Schoß auf dem Boden. Rechts und links von ihnen sitzen noch andere Geflüchtete. Die meisten von ihnen sind junge Männer. Sie kommen alle aus Syrien. Gebannt starren sie auf eine Leinwand, die über zwei Autotüren gespannt ist. Das Bild wackelt, der Ton rauscht. Aber das stört keinen hier. Für Nasmi und seine Tochter ist es ein besonderer Moment, denn sie können ein Spiel der Europameisterschaft sehen.
    "Meine Tochter hat seit drei Jahren kein Fernsehen mehr geschaut - sie hat nur Bomben und Schüsse gesehen und gehört."
    "Ein guter Moment, alles zu vergessen"
    Leinwand und Beamer stehen vor einer alten Lagerhalle in den Außenbezirken von Thessaloniki. In der Halle stehen große Zelte. Knapp 1.000 Flüchtlinge wohnen hier, seitdem das Camp in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze evakuiert wurde. Internet und Fernsehen gibt es drinnen nicht, deswegen ist diese Leinwand für sie die einzige Möglichkeit, Fußball zu gucken. Die Menschen hier drücken den europäischen Teams die Daumen und das, obwohl Europa sie gar nicht will.
    "Wenn ich dieses Spiel hier schaue, dann vergesse ich, dass ich eigentlich sehr traurig bin und ich fühle mich sehr gut. Das ist echt ein guter Moment, alles hier zu vergessen."
    Auch Hassan bewegt sich nicht von der Leinwand weg. Den ganzen Tag schon freut er sich auf das Spiel.
    "Ich würde mir für mich und alle anderen hier wünschen, dass wir dieses Spiel woanders schauen könnten. An einem besseren Ort, in einem Stadion, in einem Haus oder in einem Café. Egal wo, Hauptsache nicht hier."
    Abwechslung durch Helfer aus NRW
    Freiwillige Helfer aus Nordrhein-Westfalen haben diese Aktion organisiert. Lucas Burghardt und seine Freunde sind seit fast sechs Monaten in Griechenland. Sie haben eine mobile Teeküche, mit der sie jeden Abend zu den Flüchtlingsunterkünften fahren und Tee kochen. Das kommt bei den Geflüchteten gut an. Die meisten von ihnen kennen die jungen Männer hier. Sie bringen Abwechslung in ihren langweiligen Alltag. Das war auch der Gedanke hinter der Aktion, beschreibt Lucas Burghardt:
    "Es ist halt ein schöner Zeitvertreib und besser rumzusitzen und einen Abend mal wieder nichts zu machen."
    90 Minuten den Alltag vergessen
    Die Leinwand haben Lucas und seine Freunde selber gebaut, aus Holzlatten und einem Bettlaken. Hassan, Nasmi und die anderen Geflüchteten freuen sich über die Ablenkung. Sie können für 90 Minuten einmal das vergessen, was seit Monaten ihr Alltag ist. Wenn Lucas in Augen der Flüchtlinge schaut, sieht er viel Dankbarkeit. Und noch etwas sieht er:
    "Gespanntheit, Freude, Entspanntheit. Das sind schon ganz schöne Sachen!"
    Nach dem Abpfiff gehen Nasmi, Slava und die anderen Menschen in ihre Unterkunft zurück. In den nächsten drei Wochen haben sie jeden Abend einen festen Termin: EM schauen – an den Toren Europas.