Am 26. September 2021 ist Bundestagswahl. Der Publizist Albrecht von Lucke von den "Blättern für deutsche und internationale Politik" sieht bei allen Spitzen- und Kanzlerkandidaten einen Wahlkampf-Start mit Hypotheken. CDU und CSU hätten sich für den unpopuläreren Kandidaten Armin Laschet entschieden. In der SPD sei Olaf Scholz nicht als Parteivorsitzender gewünscht gewesen, habe dann aber als letztes Aufgebot gewissermaßen den Spitzenkandidaten abgeben müssen. Beide Volksparteien verbinde eine große Angst, dass ihre Kandidaten nicht mehr die Stärke haben, den Wahlsieg zu erringen, sagte Von Lucke. Bei den Grünen bestehe hingegen die Gefahr, dass die Geschlossenheit der Partei hinterfragt werden könnte - wie aktuell im Fall des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, der mit einem rassistischen Ausfall auf sich aufmerksam gemacht hat und nun aus der Partei ausgeschlossen werden soll.
Christoph Heinemann: Welche Gefahr lauert für Annalena Baerbock in der Causa Palmer?
Albrecht von Lucke: Keine geringe, denn eines ist ganz klar. Ich will es mal so sagen: Wir haben dieses Jahr einen ganz absurden Wahlkampf. Wir haben einen, ich nenne es mal, Angstwahlkampf, der alle Parteien ergreift. Das Ironische ist: Während die Volksparteien CDU/CSU Angst aus Schwäche erleben, auch SPD gestern mit Olaf Scholz, Armin Laschet aber auch alles schwache Kandidaten sind, können die Grünen vor Kraft gegenwärtig kaum gehen. Diese Stärke, die sie verkörpern, dahinter schlummert eine große Angst, dass die Autorität von Annalena Baerbock hinterfragt werden könnte, dass aber auch die Geschlossenheit der Partei hinterfragt werden könnte. Das was Boris Palmer jetzt macht, dieser wiederholte Tabubruch wirklich auch in einer absolut unsäglichen Twitter-Botschaft, das hat natürlich zutiefst zunächst die Autorität von Baerbock infrage gestellt, die Frage auch, wie reagiert sie darauf. Insofern ist die Angst die, dass diese Partei nicht geschlossen erscheint und auch letztlich durch Figuren wie Palmer herausgefordert wird, und da musste sie sehr entschieden reagieren. Das ist der Fall. Aber wir kennen das: Der Sarrazin der Grünen, als der sich jetzt Boris Palmer geriert, der wird mit Wiedervorlage nicht nur drohen, sondern sie wird passieren, und das wird die Grünen im Wahlkampf mehrfach behelligen. Das ist immer ein großes Problem, ein solches Ausschlussverfahren.
Verbote in Wahlkampfzeiten sind heikel
Heinemann: Die "Neue Osnabrücker Zeitung" schreibt heute, die Grünen präsentieren sich jetzt gerade so, wie sich viele eine engstirnige und verbissene Verbotspartei vorstellen. Herr von Lucke, besteht die Gefahr, dass die Grünen durch diese Causa Palmer als Partei der Redeverbote, der Cancel Culture wahrgenommen werden?
von Lucke: Genau als solche will Boris Palmer sie ja darstellen lassen und selbst inszenieren. Er reißt sich jetzt in fast lutherscher Manier das Hemd auf, steht hier mit den Worten, ich stehe hier, ich kann nicht anders, in ganz absurder Manier. Er spricht selbst von der Cancel Culture. Sie sagten es vorhin, Herr Kuhn sagte es in der Vorrede: Er benutzt tatsächlich das Wort der Lifestyle-Linken. Das ist das Wort von Sahra Wagenknecht, was explizit gegen die Grünen gekehrt wird.
Er betreibt das dezidiert und natürlich, das wird Widerhall finden in den Medien, die ihm beziehungsweise den Grünen nicht gewogen sind. Aber auf der anderen Seite mussten die Grünen deutlich reagieren. Boris Palmer ist so wiederholt als Wiederholungstäter regelrecht aufgefallen, als verhaltensauffälliger, narzisstisch agierender, und wenn jemand selbst wie Herr Kretschmann sagt, der ihm ja nun bis zuletzt immer wieder gewogen ist, das Entscheidende sagt nach diesen zwei Twitter-Sätzen, die man eigentlich gar nicht wiedergeben will, weil sie so vulgär und rassistisch konnotiert sind und auch übrigens nicht besser dadurch werden, dass Boris Palmer danach völlig grundlos behauptet, es wäre als Ironie gemeint gewesen, wenn selbst Herr Kretschmann sagt, das ist eines Tübinger Bürgermeisters unwürdig, damit ist gewissermaßen wirklich klargemacht worden, dass die Grünen so reagieren mussten. Aber natürlich: Es wird alles, was die Grünen jetzt in diesem Wahlkampf an Verboten aussprechen beziehungsweise als Ausdruck einer Klarheit zu Tage bringen, das wird ihnen als Verbot vorgehalten werden.
Debatten ums grüne Wahlprogramm
Heinemann: Kann das zum Kipppunkt des grünen Höhenfluges werden?
von Lucke: Nein! Das glaube ich ganz und gar nicht. Da gibt es übrigens ganz andere Dinge, die viel gravierender sind. Die Grünen werden – und das ist jetzt vielleicht, um auf die anderen zu schielen; das ist das Glück der SPD, die SPD hat ihren Wahlparteitag bereits hinter sich gebracht –, die Grünen werden weit mehr die Debatte in Grenzen halten müssen, die um ihr Wahlprogramm gehen. Wenn jetzt erhebliche Teile der Grünen-Partei Kritik üben an dem Titel des Wahlprogramms, das da lautet, "Deutschland – alles ist drin", und daran kritisieren, dass der Begriff "Deutschland" im Titel auftaucht, dann taucht tatsächlich die berechtigte Frage auf, wer kann sich eigentlich von dieser Partei oder kann sich die Partei in Gänze bereits mit diesem Staat in Gänze gemein machen. Ist da eine Bereitschaft auch da, tatsächlich als Kanzlerpartei diesen Staat zu führen? Das sind die großen Fragen, die Annalena Baerbock zu beantworten hat, und da wird natürlich immer wieder von der Gegenseite die Frage aufgeworfen werden, hat eine 40-Jährige ohne jede Regierungserfahrung wirklich die Autorität, das Land zu führen. Das sind die größeren Gefahren, nicht Boris Palmer.
CDU/CSU und SPD eint die Angst aus Schwäche
Heinemann: Schauen wir auf die Gegenseite. CSU-Generalsekretär Blume gibt Armin Laschet die Schuld für schlechte umfragewerte. Hat Laschet überhaupt eine Chance, wenn die CSU weiter stichelt?
von Lucke: Na ja! Er hat die Schuld – das muss man deutlich sagen -, und das ist schon das große Versagen der CDU/CSU in Gänze und das hat historische Dimensionen, dass sie in einer historisch kritischen Lage sowohl der Partei – denn wir müssen uns eines bewusst machen: Wir haben ein Stück weit Neuland; eine Titelverteidigerin Angela Merkel tritt zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte nicht mehr an. 1998 hieß es noch, Kohl muss weg. Das war der große Schlachtruf, weil er noch ein letztes Mal antrat. Wir hatten es dann mit einer starken sozialdemokratisch-grünen Koalition zu tun. Jetzt tritt die Kanzlerin aus freien Stücken ab und ersichtlich hat sich die CDU/CSU für den in der bundesrepublikanischen Bevölkerung dezidiert unpopuläreren Kandidaten Armin Laschet entschieden. Damit hat tatsächlich Armin Laschet eine ungeheure Beweislast sich aufgebuckelt. Es ist eine große Angst aus Schwäche. Übrigens die verbindet CDU/CSU und die SPD. Die alten Volksparteien sind von einer Angst getrieben, dass ihre Kandidaten die Stärke nicht mehr haben, den Wahlsieg zu erringen, den es braucht, und insofern liegt natürlich die primäre Schuld bei der CDU, aber natürlich muss man der CSU - übrigens nicht nur Herrn Blume, sondern auch natürlich Markus Söder - den Vorwurf machen, dass sie gegenwärtig in keinster Weise Anstrengungen machen, so stark sich hinter die CDU zu stellen, um das möglichst starke Ergebnis rauszuholen.
Wenn es den beiden Parteien CDU und CSU nicht gelingt, geschlossen aufzutreten, dann wird die Angst weiter umgehen. Sie wird sich schon am 6. Juni mit den Wahlen in Sachsen-Anhalt bahngreifen. Dann wird Armin Laschet als ein ganz schwacher Kandidat in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen.
"Partei, Programm und Person passen bei SPD nicht zusammen"
Heinemann: Schauen wir auf die SPD. Olaf Scholz hat die Umweltministerin, seine Parteifreundin, in dieser Legislaturperiode mit der CO2-Bepreisung im Regen stehen lassen. Jetzt gibt er sich grün. Als Hamburger Bürgermeister kämpfte er gegen den Mietendeckel, den er jetzt als Mietenmoratorium fordert. Wie glaubwürdig ist das?
von Lucke: Das ist alles nur sehr bedingt glaubwürdig. Allerdings ist eines richtig: Olaf Scholz – und das ist, ich sage auch da, die rein angstgetriebene "Leistung" der SPD, die ja auch alles getan hat, um ihr Spitzenpersonal, in dem Fall Olaf Scholz in den letzten Jahren eher kleinzumachen. Erinnern wir uns: Olaf Scholz ist ja nicht als Parteivorsitzender gewünscht gewesen, musste dann aber als letztes Aufgebot gewissermaßen den Spitzenkandidaten abgeben. Jetzt ist es der Partei durchaus gelungen, aus einer regelrechten Schockstarre herauszukommen, aus reiner Angstgetriebenheit ein eher linkes Programm zu machen, das Olaf Scholz durchaus in Teilen vertritt, aber damit - auch gestern wurde es deutlich - klar kenntlich natürlich nicht auf eine beispielsweise rot-rot-grüne Konstellation, die sich viele Linke in der SPD erhoffen, zielt, sondern eher auf eine Koalition der Mitte. Auch hier wird man feststellen müssen: Es passen die drei großen P’s, Partei, Programm und Person, letztlich nicht richtig zusammen. Die SPD wird auch absolut angstgetrieben eigentlich nur zusammengehalten vor der Angst, vor dem großen Absturz, die noch größer sein könnte als das, was die SPD nach der langen sozial-liberalen Ära 1982 erlebte. Damals hat Herbert Wehner bekanntlich gesagt, wir werden wahrscheinlich 16 Jahre in der Opposition verbringen müssen. Das war genau richtig. '98 erst ist dann die SPD wieder mit Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine an die Macht gekommen. Wenn die SPD sich nicht stärker behauptet als gegenwärtig, dann dürfte diese Wahl um die Frage gehen, ob sie überhaupt als Volkspartei jemals wieder aufersteht.
Die Rolle von AfD und FDP
Heinemann: Die AfD, größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, wird sich zwischen Weidel-Chrupalla oder Cotar-Wundrak entscheiden. Mit welcher Entwicklung bei der AfD rechnen Sie?
von Lucke: Na ja. Zunächst muss man feststellen, dass die Wahl eigentlich entschieden ist. Die Konstellation Alice Weidel und Tino Chrupalla – eigentlich ja nur ein Austauschphänomen; Tino Chrupalla, der schwache Parteivorsitzende, tritt jetzt für den weit stärkeren Alexander Gauland an, der qua Alter zurückgetreten ist -, diese Konstellation wird sich durchsetzen und damit Herrn Meuthen eine empfindliche Niederlage beibringen, denn er trat für die Paarung Cotar-Wundrak an. Aber das ist die Konstellation, Alice Weidel und Tino Chrupalla, die überhaupt nur Aussichten hat, das gute Ergebnis von vor vier Jahren einigermaßen einzuholen.
Aber eines ist durchaus festzustellen. Es wird der AfD wie übrigens – und das ist die eigentliche Ironie der Geschichte – der vor kurzem ja noch weit schlechter taxierten FDP wahrscheinlich jetzt, nach dieser Konstellation, die sich in den letzten Tagen und Wochen ergeben hat, nämlich dass sich alle Parteien, SPD, CDU/CSU, aber natürlich auch die Grünen, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in klimapolitischer Hinsicht noch weiter verstärkend auf das Klima-Thema stürzen, es wird AfD und FDP stark in die Hände spielen. Das heißt, ich gehe durchaus davon aus, dass die AfD trotz ihrer völlig ungeklärten Führungsfrage im Kern – sie ist ja eine zutiefst zerrissene Partei -, dass sie die Wahl einigermaßen besteht, zumal sie auch in Sachsen-Anhalt wieder Rückenwind bekommen wird. Und vor allem wird die FDP, die einen – ja, man kann es leider so sagen – sehr cleveren Oppositionskurs in der Corona-Krise gefahren hat, sie wird vielleicht der größte Nutznießer sein dieser starken Konjunktur in Richtung Klimapolitik, weil sie nun dezidiert anti-klimapolitisch vorgeht und damit wahrscheinlich am rechten beziehungsweise neoliberalen Rand gewinnt.
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