"Ich habe nie Versöhnung versucht, ich liebe nicht den Begriff der Versöhnung. Ich habe versucht, aufklärerisch zu wirken, als Widerstandskämpfer ein 'Comité français d'echanges avec l'Allemagne nouvelle' gegründet haben, '48: nicht Bevormundung, nicht Wiedererziehung - d'échange, Austausch mit einem neuen Deutschland."
Unter den Kameraden der Résistance, der französischen Widerstandsbewegung, fand Alfred Grosser die eifrigsten Unterstützer. Mit seinen jüdischen Eltern war der Arztsohn, geboren am 1. Februar 1925 in Frankfurt/Main, bereits Anfang 1933 nach Paris geflüchtet. Vier Jahre später hatte er die französische Staatsbürgerschaft erhalten, war aber Deutschland geistig-kulturell verbunden geblieben. Noch als Germanistik-Student gründete Grosser 1948 dann sein Komitee, unter anderen mit dem Schriftsteller Vercors und dem Philosophen Jean-Paul Sartre, das mit Brieffreundschaften und gegenseitigen Besuchen einen unvoreingenommenen Dialog in Gang bringen sollte:
"Ein junger Deutscher, wenn er aus einer Familie kam, die vertrieben wurde, ein Überlebender war aus einer bombardierten Stadt - ohne ein Minimum an Mitgefühl für das Erlittene war es doch zwecklos, ihn für das Leiden der anderen zu interessieren."
Die These von der deutschen "Kollektivschuld" mochte Grosser nicht gelten lassen, urteilte stattdessen sehr differenziert in jedem Einzelfall. So war er - nach dem Wechsel in die Politikwissenschaft - als Professor der Pariser Elite-Uni "Sciences Po" schon bald im deutschen Fernsehen gern gesehener Gast des "Internationalen Frühschoppen" von Werner Höfer. Als der prominente Moderator dann 1987 wegen seiner Artikel für das NS-Propagandablatt "Das Reich" gehen musste, war es Grosser, der öffentlich an die Verdienste Höfers in der Adenauer-Ära erinnerte:
"Er stellte uns alle vor: Herr Soundso aus New York, geboren in Leipzig. Herr Soundso aus London, geboren in Erfurt. Alfred Grosser, geboren in Frankfurt. Und dann fuhr Werner Höfer fort: 'Wir feiern heute Tag der deutschen Heimat - das war zu einer Zeit, wo die Vertriebenen-Landsmannschaften noch sehr stark waren - ich möchte nur daran erinnern, dass die Vertreibungen nicht 1945 sondern 1933 begonnen haben."
Erinnerung sieht Grosser als produktive Ressource, als Wegweiser für eine bessere Politik in der Zukunft. Mit charmanter Souveränität verwirft der Autor von Büchern wie "Der schmale Grat der Freiheit" oder "Deutschland in Europa" vorschnelle Urteile oder pseudohistorische Phrasen. Meist im Wissen um die Stärke seiner eigenen, durchaus nicht anekdotisch eingebrachten Erfahrungen. Dazu gehört etwa beim Untertauchen vor den Verfolgungen des nazitreuen Pétain-Regimes:
"Wie die Hand des faschistischen Italien sich schützend über die Juden in Südfrankreich erstreckt hat - gegen die Deutschen! Deswegen: Jedes Mal, wenn man den Namen 'Faschismus' dem Nationalsozialismus gleichstellt, als sei das dieselbe Erscheinung wie Mussolini, dann protestiere ich. Mussolini hat weder Vernichtungskriege geführt noch Auschwitz gemacht.
Nicht der Islam, sonder die Diskriminierung war zuerst da
Grosser schaute hinter allem Wortgeklingel auf die politische Realität. So kritisierte er 1975 in seiner Rede zur Verleihung des "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" den bundesdeutschen "Radikalenerlass", weil jede Überprüfung von Beamten auf Verfassungstreue zu Gesinnungsschnüffelei führen musste. Und mit der französischen Republik ging der Offizier der Ehrenlegion hart ins Gericht, weil in den Banlieues ganze Generationen von Migranten in die Arme von Extremisten getrieben wurden:
"In den sogenannten Vororten von Paris sind die jungen Leute - im Gegenteil zu vielen jungen Türken in Berlin - totale Franzosen und werden diskriminiert, obwohl sie Franzosen sind. Und dann kommt eine neue Suche nach Identität, wenn man als Franzose verweigert wird und dann geht's zum Islam. Es war nicht der Islam, der zuerst da war, sondern die Diskriminierung."
Schuldzuweisungen wollte Alfred Grosser mit seinen Analysen nicht aussprechen - gerade weil er sich nicht nur als Politologe, sondern auch als Moralist verstanden hat. Diese Selbsteinschätzung des verständnisvollen Kenners und unerbittlichen Interpreten der Zeitgeschichte prägt sein Buch "Von Auschwitz nach Jerusalem". Eine Bestandsaufnahme der deutsch-jüdischen Geschichte ist darin verbunden mit scharfer Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern.
"Einer der Grundwerte, die ich als Moralpädagoge verteidige, ist die Distanz zur eigenen Zugehörigkeit. Es ist, weil meine vier Großeltern und meine zwei Eltern Juden waren, dass ich die Vergehen Israels gegen die Grundrechte bitterer empfinde als bei jedem anderen Land."