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Publizist Ali Can über Alltagsrassimus
"Wir müssen Sachsen schleunigst zurückgewinnen"

Zwar sei nicht jeder ein Rassist, der in Chemnitz mitmarschiert sei. Dennoch hätte der Freistaat Sachsen ein strukturelles Problem mit Rechtsradikalismus, sagte Sozialaktivist Ali Can im Dlf. Statt zu verharmlosen, sei es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken und auf die "besorgten Bürger" zuzugehen.

Ali Can im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Der Publizist und Initiator der Twitter-Aktion "#MeTwo" gegen Alltagsrassismus, Ali Can.
    "Die Entwicklung geht dahin, dass die heutigen Rechtspopulisten es schaffen, Ängste zu instrumentalisieren", sagte Ali Can, Publizist und Initiator der Twitter-Aktion #MeTwo gegen Alltagsrassismus im Dlf (imago / Sven Simon)
    Sarah Zerback: Ali Can bezeichnet sich selbst als "Asylbewerber Ihres Vertrauens". Der Sozialaktivist und Autor hat vor kurzem den Hashtag #MeTwo ins Leben gerufen und damit auf Twitter eine breite Debatte über Alltagsrassismus in Deutschland angestoßen. Um zu sehen, wo die vielen Vorurteile herkommen, hat er Pegida-Demos besucht und war viel in Ostdeutschland unterwegs, auch um sich selbst von dem einen oder anderen Vorurteil zu befreien, wie er sagt. Ein Angebot für den Dialog ist auch seine sogenannte "Hotline für besorgte Bürger", die er vor zwei Jahren ehrenamtlich gestartet hat. Guten Morgen, Herr Can.
    Ali Can: Guten Morgen!
    Zerback: Klingelt Ihr Telefon, Ihre Hotline jetzt eigentlich seit Chemnitz besonders häufig?
    Can: Nein, da hat sich jetzt nicht viel verändert. Mir schreiben aber wieder vermehrt Menschen lange E-Mails, ausführliche E-Mails und echauffieren sich entweder darüber, dass sie als Nazis abgestempelt werden oder stellen mir Fragen, warum es falsch sei, jetzt zu trauern und dadurch etwas falsch zu machen.
    Zerback: Und Sie? Wie reagieren Sie? Wie antworten Sie?
    Can: Ich stelle meistens Gegenfragen. Es geht zunächst einmal darum, einen Raum zu schaffen, sodass die Person erzählen kann, was hinter den Parolen steht. Wenn jetzt die Menschen in Chemnitz beispielsweise marschieren und trauern wegen dieses Mordes und sagen, dass sie genug haben und endlich etwas mehr Sicherheit möchten, dann ist das erst mal ein erster Vorwand. Aber dann muss man mehr hinterfragen, was dahinter steckt, und es zeigt sich, dass da unterschiedliche Motive sind. Manche sind da, weil sie durch die heutigen Demagogen mit bestimmten Vorurteilen konfrontiert werden. Andere wiederum lesen im Internet gewisse Sachen, und so schaukelt sich das nach und nach hoch. Aber es gibt nie wirklich ein echtes Bürgerforum oder eine richtige Sprechstunde, wo die Menschen sich informieren können und dadurch Informationen bekommen.
    "Nicht jeder, der in Chemnitz marschiert, ist ein Rassist"
    Zerback: Was generieren Sie aus diesem Kontakt, ob es jetzt per Mail ist oder am Telefon? Was unterscheidet den besorgten Bürger von dem Rassisten?
    Can: Wir müssen auf jeden Fall die Graustufen sehen. Nicht jeder, der in Chemnitz marschiert, ist ein Rassist. Manche laufen mit Rassisten und werden dadurch dann als Rassisten beschuldigt. Gleichzeitig ist das aber eine sehr gefährliche Tendenz, wenn wir alle Menschen in eine Schublade stecken, weil das spielt ja den Rechtsextremen eigentlich in die Hände. Die, die wirklich radikal dort sind, und die ganzen AfD-Funktionäre, die das alles inszenieren und geplant haben, die wollen ja, dass die Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die vielleicht Ängste, Sorgen, Zweifel haben, nun einen Platz haben, wo sie ihren Ängsten Raum geben können. Diese werden aber dann selten gehört. Bei so einer Demo ist das eher wie eine Community-Pflege. Durch die Gruppendynamik schaukelt sich die Stimmung hoch und selbst ein Mensch, der vielleicht tatsächlich Sorgen hat, wird nicht seine Sorgen dort äußern vor der Kamera und sich bloßstellen wollen, sondern dann kommen die zur Sprache, die eher die Parolen haben, und dadurch haben wir teilweise auch ein sehr einseitiges Bild, was vielleicht aber für die meisten irgendwo auch zutrifft. Nur glaube ich nicht, dass das zu einer Lösung führen wird, wenn wir Demos haben und dort versuchen, mit den Menschen zu sprechen. Dafür brauchen wir andere Räume der Begegnung.
    Zerback: War das denn jetzt auch Teil des Problems in Chemnitz, dass dort besorgte Bürger neben Rassisten, mit Rassisten auf die Straße gegangen sind, in Ermangelung eines Forums, wie Sie sagen, einer Alternative, wo sie dann ihren Sorgen Ausdruck verleihen können, ohne mit Rechts zu marschieren?
    Can: Ja, tatsächlich. Das ist wirklich das Gefährliche. Die Entwicklung geht dahin, dass die heutigen Rechtspopulisten es schaffen, Menschen zu gewinnen, Ängste zu instrumentalisieren, und dann sieht es so aus, dass Menschen, die wirklich trauern wollen, die vielleicht über den Fall auch wenig wissen - beispielsweise wissen die wenigsten, dass der, der ermordet worden ist, selber ein, wenn man so möchte, linker Aktivist war und etwas gegen rechtes Gedankengut gemacht hat. Er hätte auf keinen Fall gewollt, dass da Menschen von der AfD für ihn trauern, und das wissen die wenigsten. Das ist jetzt die Schwierigkeit: Wie schaffen wir es, die Trauer abzufangen? Wie schaffen wir es, gewisse Grundwerte zu bewahren und die Menschen anzunehmen, aber gleichzeitig Haltung zu bewahren und zu zeigen, das ist falsch, wenn die Menschen Seite an Seite, Schulter an Schulter mit rechtsextremen Menschen marschieren? Ich glaube, das ist die größte Herausforderung, und bisher sind die Rechtsextremen da ganz gut dran.
    Grenze des Sagbaren ist gewachsen
    Zerback: Haben Sie darauf eine Antwort, auf diese selbstgestellte Frage?
    Can: Es gibt verschiedene Richtungen. Ich glaube, wir müssen auf jeden Fall schauen, dass wir aus der Politik und von Menschen, die im öffentlichen Raum sind, ganz gute und subtile Nachrichten gestreut bekommen. Letzten Endes ist ja vieles auch Kommunikation. Wenn die "besorgten Bürger" - manche sind ja tatsächlich nicht besorgt, sondern wütend oder verdorrt in der Meinung und sehr rechtsextrem. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie abgestempelt werden, verurteilt werden, so werden sie sich natürlich dorthin begeben, wo sie vermeintlich hingehören, und wir müssen schauen, dass die Menschen sich jetzt öffnen, dass sie tatsächlich eher neutrale Orte haben, dass sie trauern können, wenn sie möchten, aber dann auch wirklich trauern. Da muss man genügend Angebote schaffen. Aber gleichzeitig ist es viel wichtiger, jetzt Kante zu zeigen, weil da ist eine große Linie überschritten worden in Chemnitz, die Grenze des Sagbaren ist gewachsen, und da dürfen wir auf keinen Fall mehr Raum geben den Rechtsextremen. Wenn überhaupt, dann müssen wir auf die besorgten Bürger zugehen, und das auf eine eher subtile Art und Weise.
    Zerback: Auf die besorgten Bürger zugehen, andere Menschen, die gegen rechts halten, aktivieren, um da mal die Worte von Außenminister Heiko Maas von gestern aufzunehmen. Wie bekommen wir denn die Menschen vom Sofa hoch, raus aus diesem diskursiven Wachkoma, wie er es nennt?
    Can: Jetzt ist auf jeden Fall die Zeit gekommen, dass wir Verantwortung übernehmen. Wir müssen uns jetzt mal erinnern, was da eigentlich los ist, wenn Menschen den Hitler-Gruß gezeigt haben. Das ist etwas, was wir nicht für möglich halten nach der ganzen Geschichte hier, aber 70, 80 Jahre später trauen sich das Menschen und die Polizei kann nichts tun. Das heißt: Zunächst einmal müssen wir unser Gewaltmonopol wiederherstellen. Die Polizei muss wieder eine Instanz sein, die gefürchtet ist. Dass da Menschen wirklich sich alles Mögliche trauen zu sagen oder zu zeigen, das kann nicht sein. Also weg von der Zivilgesellschaft; erst mal müssen wir unsere Institutionen erstarken. Politische Bildung muss so attraktiv sein, dass die Menschen sich bilden und so was eigentlich nicht trauen, oder wenn, dann selber verurteilen. Wenn dann jemand neben einem Nazi steht und der macht da irgendwie so einen Hitler-Gruß, muss eigentlich die gesamte Menge sagen: Hör mal, das geht nicht, das ist zu weit. Aber das trauen sich die Menschen nicht, weil die Frage ist, wie und warum. Da muss man die Menschen, glaube ich, wieder schulen und gleichzeitig für die besorgten Bürger natürlich vertraute Plattformen schaffen - so wie die Hotline für besorgte Bürger, die ich anbiete, sodass man in einem vertrauten Rahmen Fragen stellen kann, sich unterhalten kann und so vielleicht den einen oder anderen Gedankenimpuls gibt für einen kritischen Denkprozess.
    "Sachsen hat ein strukturelles Problem"
    Zerback: Sie selbst sind ja vor zwei Jahren etwa in den Osten gefahren, durch Ostdeutschland sind Sie gereist, um Vorurteile abzubauen und um zu sagen, zu beweisen, dass das nicht Dunkeldeutschland ist. Bleiben Sie dabei nach den Ereignissen der vergangenen Woche?
    Can: Ja, ich bleibe auf jeden Fall dabei. Es ist immer noch Sachsen, oder, wenn Sie von Thüringen sprechen, auch Thüringen. Man muss aber differenzieren. Ich glaube, strukturell hat Sachsen auf jeden Fall ein Problem mit Rechtsradikalismus. Es wird heruntergespielt. Die Presseerklärungen beziehungsweise die Statements von Herrn Kretschmer klangen für mich sehr bemüht, als wollte er gerade noch erklären, dass ein Hitler-Gruß nicht okay ist. Aber da sind ganz viele andere Dinge auch nicht okay, dass da Migranten gejagt wurden, dass da sich wirklich so ein Mob zusammentut. Ganz vieles muss man stärker verurteilen. Ich glaube, strukturell muss man anerkennen, Sachsen hat ein Problem. Das wird verharmlost, es wird nicht genug getan. Die Folgen nach der Wende wurden nicht ernst genommen, sodass sich der Unterbau bildet für eine große Unzufriedenheit. Wir müssen ganz schleunigst schauen, wie wir Sachsen zurückgewinnen. So wie sich das gerade entwickelt, laufen wir auf eine wirklich sehr polarisierende Situation zu, wo es immer wieder Ausschreitungen geben wird - bedauerlicherweise. Aber ich würde tatsächlich sagen, dass wir jetzt auch hier im Westen eigentlich ganz viel Arbeit machen müssen, die Zivilgesellschaft zu aktivieren, dass wir auf die Straße gehen und zeigen, für welche Werte wir eigentlich stehen.
    Zerback: Ihre Familie kommt ja aus dem Südosten der Türkei. Jetzt habe ich Stimmen anderer Menschen mit Migrationshintergrund gehört, People of Color, die sagen, das sind No-Go-Areas da in Sachsen. Das Schweizer Außenministerium hat jetzt für Deutschland, besonders für die Städte, in denen jetzt demonstriert wurde, Reisewarnungen rausgegeben. Würden Sie noch mal wieder hinfahren? Hätten Sie da kein mulmiges Gefühl?
    "Traue mich nicht, in bestimmte ostdeutsche Städte zu fahren"
    Can: Ehrlich gesagt, hätte ich auf jeden Fall ein sehr mulmiges Gefühl. Ich würde nur mit Begleitung hinfahren. Das ist ja auch das Traurige. Ich bin nicht hier geboren, aber ich bin hier aufgewachsen. Ich bin Deutscher, habe aber eine Migrationsgeschichte, und ich traue mich nicht nach Chemnitz oder in bestimmte ostdeutsche Städte zu fahren. Wo sind wir hier in dieser Gesellschaft angekommen? Ist das nicht traurig?
    Zerback: Da ist er leider weg - Ali Can, der Sozialaktivist und Initiator der aktuellen #MeTwo-Debatte im Internet. Schade eigentlich. Das wäre die letzte Antwort gewesen und wir hätten sicherlich alle gerne gehört, was er noch zu sagen gehabt hätte. Da hat uns leider die Leitung einen Streich gespielt. Kann passieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.