Elf Tage lang hatten sich Israel und die radikalislamische Hamas mit Luftangriffen und Raketen bekämpft. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte. Doch die am 21. Mai vereinbarte Waffenruhe hält bislang - abgesehen von einzelnen Ausschreitungen.
Ein Friedensprozess finde allerdings nicht statt, sagte der Publizist Henryk Broder im Dlf-Interview. "Beide Seiten haben kein Interesse an diesem Friedensprozess." Er sei für beide Parteien nicht attraktiv, weil beide nur verlieren könnten. "Das, was in Europa als Friedensprozess bezeichnet wird, würde mindestens eine der beiden Seiten als Niederlage empfinden."
Am 20. Mai war Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) für Gespräche nach Israel und in Palästinensergebiete geflogen, um dort Gespräche zu führen und Solidarität zu bekunden. Broder nennt das einen Showbesuch, der zum Teil aus wahlkampftaktischen Gründen erfolgt sei. "Ich sehe in diesem Besuch überhaupt keinen Sinn, außer, dass Heiko Maas dafür ein paar positive Punkte in der Berichterstattung gesammelt hat."
Beziehungen zum Iran überdenken
Er verstehe nicht, warum sich Deutschland überhaupt in diesen Konflikt einmische und wie Deutschland für das Existenzrecht Israels einstehen wolle. "Ich weigere mich, den Holocaust und Auschwitz als Existenzberechtigung für Israel heute zu nehmen. Es ist ja was dran, deswegen ist Israel gegründet worden, aber irgendwann erlischt diese historische Argumentation."
Deutschland könne aber auf andere Weise helfen, sagte Broder. Etwa indem es seine diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran überdenke, ein Regime, das Israel gegenüber nicht sehr freundlich gesonnen sei. "Dann könnte vielleicht die Bundesrepublik aufhören, in den Abstimmungen in der NATO regelmäßig gegen Israel zu stimmen."
Das Interview in voller Länge:
Sören Brinkmann: Seit einigen Wochen sehen wir neue Gewalt im Nahen Osten, jetzt gilt eine Waffenruhe, einzelne Ausschreitungen gibt es trotzdem – das ist die Situation aktuell. Ich würde aber zunächst gerne mal auf die deutsche Politik gucken: Außenminister Heiko Maas war in dieser Woche zu Gesprächen in Israel und in den Palästinensergebieten – Ist das, was die Bundesregierung gerade tut, ist richtig?
Henryk Broder: Das weiß ich nicht. Was die Regierung richtig oder nicht richtig macht, weiß man immer erst aus der Rückschau. Ich finde es nur seltsam, dass der Minister genau für einen Tag hinfliegt, als wollte er dort eine Disco besuchen oder was auch immer, und dann noch ankündigt, er würde die palästinensischen Gebiete besuchen. Soviel ich weiß, hat er sich nur in die Gegend von Ramallah gewagt und nicht nach Gaza, und was immer man von dem Herrn Abbas halten mag, der in Ramallah regiert, er war für die Krawalle nicht zuständig. Er hat sie weder ausgelöst, noch durchgeführt, noch befohlen. Die Inspiratoren und die Taktgeber sitzen in Gaza.
"Ich sehe in diesem Besuch überhaupt keinen Sinn"
Brinkmann: Das heißt, ein Showbesuch, wenn ich Sie richtig verstehe?
Broder: Ja, es ist ein Showbesuch. Ich glaube, das ist schon ein Teil des internen Wahlkampfs in der Bundesrepublik und vielleicht auch eine Reaktion auf die Vorwürfe der SPD gegenüber, die vor Kurzem eine tiefe Freundschaft mit der Fatah beschlossen hat. Deswegen ist er wahrscheinlich auch ins Fatah-Gebiet gefahren. Ich sehe in diesem Besuch überhaupt keinen Sinn, außer dass Heiko Maas dafür ein paar positive Punkte in der Berichterstattung gesammelt hat.
Brinkmann: Und auf den Titelblättern der Zeitungen gelandet ist.
Broder: Ja, gut, das sei ihm gegönnt, aber das hält nicht lange vor.
Brinkmann: Könnte und sollte Deutschland denn mehr tun, mehr investieren?
Broder: Das weiß ich nicht. Mehr investieren auf alle Fälle, das sollte Deutschland generell überall tun, weil deutsches Know-how und deutsches Geld eigentlich eine gute Kombination ist. Aber ich frage mich, warum will Deutschland da überhaupt eingreifen? Weil wir die moralische Supermacht der Welt sind? Weil wir, was Klima und Energie angeht, anderen ein Vorbild sein wollen?
"Irgendwann erlischt diese historische Argumentation"
Brinkmann: Weil Deutschland für das Existenzrecht Israels einsteht?
Broder: Ich weiß nicht, wie Deutschland für das Existenzrecht Israels einstehen will. Ich kann Sie nur daran erinnern – ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber ich nehme an, da waren Sie noch nicht geboren –, 1973 beim Jom-Kippur-Krieg, als es wirklich Spitz auf Knopf stand um Israel, da hat Willy Brandt, ein guter alter Sozialdemokrat, den Amerikanern nicht erlaubt, deutsche Häfen als Nachschubstation für Israel zu benutzen, aber er versicherte die Israels der deutschen Solidarität und sagte, es gibt keine Neutralität der Herzen. Und das sehe ich jetzt wieder kommen.
Ich weiß gar nicht, was Deutschland in dem Konflikt sucht. Der historische Bezug ist natürlich der Holocaust und Auschwitz, und daraus schließe ich, ohne den Holocaust und ein Auschwitz müsste Deutschland eigentlich gar nichts unternehmen. Und ich weigere mich, den Holocaust und Auschwitz als Existenzberechtigung für Israel heute zu nehmen. Es ist ja was dran, deswegen ist ja Israel gegründet worden, aber irgendwann erlischt diese historische Argumentation.
Brinkmann: Aber das klingt jetzt fast so, als wollten Sie sich dann eher raushalten, oder plädierten Sie dafür, dass sich Deutschland raushält?
Broder: Ich halte mich sowieso raus. Ich will Deutschland gar keine Vorschriften machen, aber ich frage mich trotzdem, warum drängt es die Bundesrepublik? Wenn die Bundesrepublik was unternehmen sollte, dann könnte sie vielleicht ihre diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen im Iran überdenken, ein Regime, das Israel nicht sehr freundlich gesonnen ist.
Dann könnte vielleicht die Bundesrepublik aufhören, in den Abstimmungen in der NATO regelmäßig gegen Israel zu stimmen. Vor Kurzem hat die Bundesrepublik im Sicherheitsrat gegen die Lieferung von Waffen nach Israel gestimmt – ich meine, womit soll sich Israel verteidigen? Mit Papierfliegern? Also die Haltung der Bundesrepublik oder der Regierung, nicht der Bundesrepublik …
Brinkmann: Wobei gerade vor diesem Hintergrund ja auch jetzt der Besuch von Heiko Maas in Israel entsprechend gewertet wurde.
Broder: Wo, in Deutschland oder in Israel?
"Ich halte den ganzen Besuch für einen Akt der Heuchelei"
Brinkmann: Zumindest das, was in deutschen Zeitungen zu lesen ist, dass auch in Israel das zumindest als Solidaritätsbekundung verstanden wurde, oder?
Broder: Na ja, wissen Sie, die Israelis sind nicht immer von Weisheit gesegnet und sie sind inzwischen froh und dankbar über jedes Zeichen der Solidarität. Ich an Netanjahus Stelle hätte Heiko Maas geraten, nicht hinzukommen oder noch schneller abzureisen, als er gekommen ist. Ich halte den ganzen Besuch für einen Akt der Heuchelei, und ich glaube nicht, dass die Israelis davon irgendwas haben werden, außer vielleicht dem guten Gefühl, dass der Außenminister sich um sie kümmert.
"Deutschland hilft nicht, Deutschland mischt sich ein"
Brinkmann: Wenn ich Sie richtig verstehe, aber in Ruhe lassen, das könnte man dann ja auch übersetzen mit nicht zu helfen, oder?
Broder: Nein, ich hab ja nichts dagegen, dass Deutschland hilft, aber womit hilft Deutschland? Womit hilft Deutschland? Mit dem diplomatischen Verhalten auf der großen Weltbühne nicht. Können Sie sich vorstellen, dass Deutschland, wenn es wirklich darauf ankäme, Waffen und Ausrüstung und Soldaten nach Israel schicken würde? Gott behüte.
Israel muss sich selbst verteidigen können, und Deutschland hilft nicht, Deutschland mischt sich ein. Und wenn ich einen privaten Wunsch äußern würde, dann würde ich wirklich meine deutschen Landsleute bitten, für eine kurze, überschaubare Zeit die Finger von den Juden zu lassen, sagen wir hundert Jahre, dann kämen wir weiter.
Brinkmann: Schauen wir noch mal nach Deutschland rein. Am Brandenburger Tor gab es gestern eine Solidaritätsveranstaltung mit Israel. Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt heute: "Gekommen sind fast nur die, die mussten. Was ist da los?" Stellen Sie sich die Frage auch?
Broder: Ja, vollkommen richtig. Ich war auch da, und ich hab die Leute nicht gezählt, die da waren. Aber ich schätze, es waren irgendwie zwischen 500 und 600, und die "Süddeutsche" hat die Lage vollkommen richtig wiedergegeben. Gekommen waren nur diejenigen, die mussten.
Brinkmann: Also was ist da los?
Broder: Wenn die Begleiter der Redner nicht da gewesen wären, hätte die ganze Demo aus hundert Leuten bestanden. Es war eine symbolische Aktion, dazu bestimmt, heute in allen Zeitungen, in allen Radio- und Fernsehsendern gemeldet zu werden. Ich habe nun, nachdem ich ganz viel Radio gehört und ferngesehen habe, keine einzige Erwähnung gefunden, wie viele an dieser Kundgebung beteiligt waren, weil die Erwähnung dieser erbärmlichen 500 wäre nur peinlich gewesen.
Im Übrigen hätte die Demo, wenn überhaupt, am Hermannplatz in Kreuzberg/Neukölln stattfinden müssen, wo vorletzte Woche die kleinen antisemitischen Ausschreitungen stattgefunden haben.
Brinkmann: Also da hingehen, wo es weh tut.
Broder: Da hingehen, wo es weh tut, und nicht da hingehen, wo man unter schwerster Polizeibewachung unter sich bleibt.
Brinkmann: Das aber würde natürlich die Eskalation auch weiter verschärfen, dann auch hier in Deutschland, oder?
Broder: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was die Eskalation verschärft, was sie nicht verschärft. Vielleicht, wenn wir noch mal kurz auf Heiko Maas zurückkommen: Der hat gesagt, man könne dem Konflikt im Nahen Osten die Grundlage entziehen, wenn man die Lebensbedingungen der Palästinenser verbessern würde. Das zeigt, dass der Mann keine Ahnung hat.
Es geht der Hamas nicht darum, die Lebensbedingungen der Palästinenser zu verbessern, was ein legitimes Ziel wäre, Hamas will Israel von der Landfläche verschwinden lassen. Und bevor Heiko Maas das nicht begriffen hat, nutzt jede deutsche Intervention gar nichts.
"In einer gewissen Weise hat Israel in der Tat verloren"
Brinkmann: Und damit sind wir bei den Fragen des Nahostkonflikts. Entscheidend wird natürlich am Ende sein, wie es dort weitergeht. Das Wort Friedensprozess, das ist sowieso im Moment kaum irgendwo zu hören, aber wenn wir uns zumindest den Waffenstillstand angucken, für wie stabil halten Sie den?
Broder: Der letzte hat, glaube ich, jetzt fünf oder sechs Jahre gehalten, für Nahostverhältnisse schon eine wahnsinnig lange Zeit. Und dass der Friedensprozess nicht stattfindet, hat eine ganz einfache Grundlage: Beide Seiten haben kein Interesse an diesem Friedensprozess, und beide Seiten sagen es relativ offen: Der Friedensprozess ist eine europäische Erfindung, eine Möglichkeit für die Europäer, sich einzumischen. Für die beiden Parteien ist er nicht attraktiv, weil beide nur verlieren können.
Und das, was in Europa als Friedensprozess bezeichnet wird, würde mindestens eine der beiden Seiten als Niederlage empfinden. Schauen Sie, wie die armen und bedauernswerten Palästinenser – ich meine das vollkommen ernst – gefeiert haben, sie fühlen sich als Sieger, und das ist vielleicht keine falsche Perspektive. Israel hat jetzt elf Tage gebraucht, um zu keinem Ergebnis zu kommen, und im Sechstagekrieg, der Name sagt es, hat Israel in sechs Tagen drei Armeen besiegt – die ägyptische, die jordanische und die syrische. Also in einer gewissen Weise hat Israel in der Tat verloren.
Brinkmann: Premier Netanjahu erklärt natürlich Israel zum Sieger, auch mit Blick auf die Innenpolitik. Immerhin ist es ein Land, in dem in den vergangenen zwei Jahren viermal gewählt wurde.
Broder: Na ja, ich hab den Eindruck, dass in Israel das parlamentarische Prozedere sich vor allem darauf beschränkt und konzentriert, immer wieder Wahlen zu veranstalten. Natürlich hat Netanjahu einen Blick auf die Innenpolitik, welcher Premierminister hätte das nicht. Erstaunlich ist, dass trotz dieser ganzen Rankünen um die Nichterfolge in Bezug auf irgendeine Lösung das Land noch relativ gut drauf ist. Ich glaube nur, dass etwas passiert ist, was wirklich schlimme Konsequenzen haben kann: Der Nimbus der israelischen Unbesiegbarkeit ist schwer angeknackt, und das war eine der wichtigsten Sicherheitsgarantien für Israel: der Glaube der Umwelt, das Land sei unbesiegbar. Und ich fürchte, möglicherweise haben die Palästinenser im Laufe der letzten elf Tage das Gegenteil bewiesen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.