Von der Bund-Länder-Runde, die sich am Mittwoch (10.02.2021)[*] trifft, stünde nichts im Grundgesetz, kritisiert der Jurist und Publizist Heribert Prantl. "Im Grundgesetz steht ganz deutlich: Der Entscheider in einer rechtsstaatlichen Demokratie ist der Bundestag". Dieser komme in der ganzen Krise aber viel zu kurz. Er bekomme den Eindruck, dass vor dem Lockdown bereits der Selbst-Lockdown des Parlaments gekommen sei, so Prantl.
Prantl ist auch mit dem Wort Lockerungen nicht zufrieden. "Die Beschränkung ist nicht der Normalzustand, die Freiheit ist der Normalzustand." Wir würden sehr schnell vergessen, dass nicht die Freiheit rechtfertigt werden muss, sondern die Beschränkung. "Die Grundrechte sind auch in Notzeiten ein Leuchtturm und müssen ein Leuchtturm bleiben. Und wenn es darum geht, das Licht etwas zurückzudrehen aus bestimmten Gründen, um der Gefahr besser gerecht zu werden, muss das der Bundestag entscheiden und nicht ein Gremium, das Laschet, Söder, Merkel heißt", so das ehemalige Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung".
Mit Blick auf die Sitzung der Bund-Länder-Chefs erhoffe er sich, dass die Schulen wieder geöffnet werden. Er erhoffe sich auch, dass bei den Bund-Länder-Sitzungen nicht nur Virologen und Mediziner und Naturwissenschaftler gehört werden, sondern auch Pädagogen, Psychologen und Kinderärzte. "Das Spektrum des Sachverstandes sei viel größer als es die Bundesregierung und die Landesregierungen derzeit heranziehen."
Insgesamt treibe ihn die Sorge um, dass Ausnahmegesetze verlängert werden und so "aus einem Ausnahmezustand ein Normalzustand wird. Dass wir uns daran gewöhnen, dass bei Krisenlagen, bei neuen Epidemien, bei Katastrophen, die Beschränkung der Grundrechte zum probaten Mittel wird. Das darf nicht passieren."
Das Interview in ganzer Länge
Tobias Armbrüster: Wir sind wieder einmal an einem Tag der Entscheidung in dieser Corona-Krise. Heute Mittag ab 14 Uhr beraten die Ministerpräsidenten und Präsidentinnen gemeinsam mit der Bundeskanzlerin und konkret werden die Frauen und Männer in dieser Videoschalte vor allem über einer Frage brüten: Ist es langsam Zeit für Lockerungen in Deutschland, ja oder nein. Herr Prantl, wir reden jetzt immer ganz selbstverständlich über diese Bund-Länder-Gespräche, diese Verabredungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten. Welche rechtliche Basis hat dieses Gremium eigentlich?
Heribert Prantl: Von diesem Gremium, Herr Armbrüster, steht nichts im Grundgesetz. Im Grundgesetz steht ganz deutlich, der Entscheider in einer rechtsstaatlichen Demokratie ist der Bundestag. Der Bundestag kommt in der ganzen Krise viel zu kurz. Wenn wir viel von Lockdown reden, habe ich manchmal den Eindruck, vor dem Lockdown kam der Selbst-Lockdown des Parlaments. Die Dinge, die heute entschieden werden, über sogenannte Lockerungen – ich bin mit dem Wort Lockerungen schon unzufrieden. Wir übernehmen das so selbstverständlich, weil man so tut, als sei die Beschränkung der Normalzustand. Nicht die Beschränkung ist der Normalzustand; die Freiheit ist der Normalzustand. Die Juristen – entschuldigen Sie, dass ich juristisch argumentiere -, der Jurist lernt schon im zweiten und dritten Semester, dass nicht die Freiheit sich rechtfertigen muss, sondern die Beschränkung der Freiheit, die Begrenzung. Das vergessen wir zu schnell. Die Grundrechte sind auch in Notzeiten ein Leuchtturm und müssen ein Leuchtturm bleiben. Wenn es darum geht, das Licht etwas zurückzudrehen aus bestimmten Gründen, um der Gefahr besser gerecht zu werden, muss das der Bundestag entscheiden und nicht ein Gremium, das Laschet, Söder, Merkel heißt.
"Das Parlament muss entscheiden"
Armbrüster: Ich höre da ziemlich viel Unmut aus Ihrer Stimme heraus über diese ganze Entwicklung. Wer hat denn da den Fehler gemacht? Sind die Bundestagsabgeordneten zu zögerlich? Sind sie zu schwach?
Prantl: Die Bundestagsabgeordneten sind zu schwach und der Bundestagspräsident, Wolfgang Schäuble, hat ja selbst diese Schwäche schon kritisiert und mehr Selbstbewusstsein des Parlaments gefordert. Ich bin ein bisschen ungeduldig auch mit dem Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der großen Finanzkrise, in der Griechenland-Krise, bei all den europäischen Krisen der vergangenen Jahre einige Male ganz massiv die Rechte des Parlaments betont und hat gesagt, das Parlament muss entscheiden. Die wesentlichen Dinge in einem Gemeinwesen muss das Parlament entscheiden. Das Parlament hat es sich nicht zur Lehre dienen lassen. Es wird auch hier wieder, freilich dann zu spät, das Bundesverfassungsgericht nachhelfen müssen.
Armbrüster: Gut! Aber wir erleben jetzt immer nach diesen Bund-Länder-Gesprächen, dass anschließend die Landesparlamente, die einzelnen Landesparlamente in Deutschland sich mit den Verabredungen dort beschäftigen und dass diese Verabredungen dann entweder in Gesetze, oder in Verordnungen gegossen werden. Dieser rechtliche Weg wird ja korrekt eingehalten.
Prantl: Ja, die Landesparlamente allein genügen mir nicht. Und vor allem, wenn Sie sagen, es geht dann auf dem Weg der Verordnung – mit Verordnungen, mit Maßnahmen der Exekutive (die Verordnungen erlässt ja nicht das Parlament; die Verordnungen erlässt die Exekutive, also die Regierungen), mit Verordnungen kann man Grundrechtsbeschränkungen dieses Ausmaßes nicht regeln. Das muss per Gesetz geschehen. Die Gesetze, die Landesgesetze und die Bundesgesetze sind zu allgemein, zu generell, zu vage. Sie reichen für diese tiefgreifenden Einschränkungen nicht aus. Natürlich geht es um Ländersachen. Die Schulöffnungen, die Schulen, die Kultuspolitik, die Schulpolitik ist Länderpolitik. Aber hier brauchen wir klare Vorgaben. Und wenn ich mir etwas vom heutigen Tag erhoffe – es ist vorher schon angesprochen worden im Bericht aus Berlin: Die Schulen müssen wieder geöffnet werden. Kein digitales Lernprogramm kann Lehrer, Erzieher und Pflegekräfte ersetzen.
Und dann wird von Modellrechnungen geredet. Auch die Kanzlerin redet so oft von Modellrechnungen der Virologen. Das Leben findet nicht in Modellrechnungen statt. Es findet im Leben statt. Und zu den unglaublich wichtigen Lebensorten gehören die Kitas und die Kindergärten und die Schulen, die Grundschulen zuvorderst. Dort wird gelebt und gelernt, wie die Kinder für ein Leben in der digitalen Welt sich einstellen müssen, und dort ist – und das ist ein ganz wichtiges Wort – der gemeinsame Raum, in dem die Kinder miteinander und voneinander lernen. Und der gemeinsame Raum, den hält der berühmte neuseeländische Pädagoge John Hattie zurecht für den größten Pädagogen. Ich wünsche mir, dass im Zusammenhang mit Sitzungen wie der heutigen nicht nur Virologen und Mediziner und Naturwissenschaftler gehört werden, sondern auch Pädagogen, Psychologen, Kinderärzte. Das Spektrum des Sachverstandes ist viel größer, als es die Bundesregierung und die Landesregierungen derzeit heranziehen.
"Fast jedes Grundrecht ist betroffen"
Armbrüster: Herr Prantl, Sie haben gerade auch die Grundrechte angesprochen. Da waren viele Punkte drin. Darauf können wir auch gleich noch kommen, auf die Schulen und Kitas. Die Grundrechte möchte ich gerne kurz mit Ihnen besprechen, weil das ja ein Vorwurf ist, den wir in dieser ganzen Debatte immer wieder hören: Grundrechte werden eingeschränkt, werden außer Kraft gesetzt. Welche Grundrechte sind das denn eigentlich, die da gerade eingeschränkt werden?
Prantl: Da ist das Grundrecht der Freizügigkeit, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das Grundrecht der Koalitionsfreiheit. Die Kommunikationsgrundrechte werden durch die Verbote, sich mit Menschen zu treffen, eingeschränkt. Man kann der Reihe nach den Grundrechtskatalog durchgehen. Fast jedes Grundrecht ist betroffen. Dagegen steht, das ist völlig richtig, Artikel 2, Absatz 2, Satz 1: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das ist ja das Grundrecht, das die Politiker mit ihren scharfen Maßnahmen, mit dem Lockdown achten wollen. Aber – und jetzt müssen wir abwägen: hier das Grundrecht auf Leben und auf der anderen Seite die Grundrechte, wie sie der Reihe nach im Grundrechtekatalog Artikel 1 folgende stehen. Das größte ist im Übrigen das Grundrecht der Menschenwürde, das mit Füßen getreten worden ist in der ersten Phase der Krise, als die Alten in den Pflegeheimen isoliert wurden und ganz, ganz oft völlig unbegleitet und alleine sterben mussten. Einer der größten Verstöße gegen die Menschenwürde, den es, glaube ich, in der Geschichte dieser Republik gab. Aber es geht um Abwägung. Hier ist das Grundrecht auf Leben. Auf der anderen Seite die Freiheit der Person mit den ganzen Rechten, die daraus folgen. Ich muss abwägen. Das heißt bei den Maßnahmen: Nicht jede Maßnahme, von der ich sage, sie dient dem Schutz des Lebens, schützt auch automatisch. Ich muss die Geeignetheit, ich muss die Erforderlichkeit, ich muss die Angemessenheit prüfen. Das ist die Prüfung, die richtig ist.
Armbrüster: Herr Prantl, wenn ich da ganz kurz einhaken darf? – Das Ganze gilt aber ja immer nur temporär. Das heißt, da ist immer schon ein Datumsschild mit dran. Es heißt immer, Einschränkung tatsächlich nur für einen ganz bestimmten Zeitraum. Und es ist ja auch nicht umsonst, dass sich die Länderchefs und die Kanzlerin wirklich alle paar Wochen zusammensetzen. Das müssen sie tun, um das alles immer wieder zu verlängern. Wenn das Ganze tatsächlich immer nur vorübergehend passiert und das tatsächlich auch diese Markierung bekommt, wo liegt dann das Problem?
Prantl: Das Problem liegt darin, dass die Markierung nicht eingehalten wird. Ich habe ein bisschen Sorge, dass etwas passiert, was in den vergangenen 30 Jahren oft passiert ist, dass Ausnahmegesetze, Zeitgesetze dann verlängert werden, die Verlängerung wieder verlängert wird und aus einem Ausnahmezustand, in dem wir uns befinden, ein Normalzustand wird, dass wir uns daran gewöhnen, dass bei Krisenlagen, bei neuen Epidemien, bei Katastrophen die Beschränkung der Grundrechte zum probaten Mittel wird. Das darf nicht passieren und daran dürfen wir uns nicht gewöhnen, und diese Sorge habe ich, dass man die Grundrechte, die eigentlich deswegen Grundrechte heißen, weil sie grundsätzlich auch in diesen gefährlichen Zeiten gelten sollen, dass diese Grundrechte als Ballast und als Belastung, die man beiseiteschieben muss, betrachtet werden. Das darf nicht sein. Vor zwei Jahren, als das Grundgesetz-Jubiläum gefeiert wurde, haben wir uns in Sonntagsreden gefreut über diese Grundrechte und diese Freude – Freude ist das falsche Wort, aber dieses Wertbewusstsein muss auch jetzt gelten.
[*] An dieser Stelle stand in einer früheren Version des Textes ein falsches Datum. Dies haben wir korrigiert.
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