Tobias Armbrüster: Es wird eine Menge gefeiert in Israel in diesen Tagen. Es ist der 70. Jahrestag der Staatsgründung. Gestern Abend haben diese Festlichkeiten begonnen; sie gehen noch bis zum Wochenende weiter. Wir haben darüber heute Morgen schon viel gehört. – Am Telefon ist jetzt ein Mann, der Israel in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aus vielen unterschiedlichen Blickrichtungen wahrgenommen hat: Arye Sharuz Shalicar. Er ist aufgewachsen in Berlin, war in den 90er-Jahren dort als Hiphop-Musiker unterwegs, ist dann als junger Mann nach Israel ausgewandert und arbeitet heute als Leitender Beamter im israelischen Ministerium für Nachrichtendienste. In Deutschland ist er unter anderem als Buchautor bekannt geworden. Schönen guten Morgen, Herr Shalicar!
Arye Sharuz Shalicar: Einen wunderschönen guten Morgen aus Israel!
Armbrüster: Herr Shalicar, wie sehr feiern Sie in diesen Tagen?
Shalicar: Ich feiere! Ich würde gerne auch jeden Tag weiterfeiern, solange das Leben einen anlächelt. Die Feierlichkeiten zum 70. Unabhängigkeitstag haben tatsächlich gestern Abend begonnen. Wir waren hier mit den Kindern aus und hatten wirklich einen netten Abend. Weil die Kinder noch ein bisschen jünger sind, sind wir ein bisschen früher nachhause gegangen, und gehen jetzt in ungefähr einer Stunde grillen mit der Familie und mit ein paar Freunden.
"Ich hatte Glück, dass mich Muslime beschützt haben"
Armbrüster: Israel wurde vor 70 Jahren gegründet. Sie sind vor ungefähr 20 Jahren dorthin ausgewandert. Was bedeutet dieses Datum für Sie, ein 70. Geburtstag dieses Landes?
Shalicar: Ich bin vor fast genau 17 Jahren, 2001, nach Israel ausgewandert aus Deutschland. In meiner Jugend, worüber ich ein Buch geschrieben habe, wurde ich extrem angefeindet im Berliner Bezirk Wedding von jungen Muslimen, weil ich mich als Jude geoutet habe in dem Sinne. Ich wurde angefeindet, obwohl ich nichts mit Israel zu tun hatte, keinen israelischen Pass hatte, kein Hebräisch konnte, keinen Sabbat gehalten habe, nichts mit Koscher, nicht mal die jüdischen Feiertage kannte und auch keine jüdischen Freunde hatte. Das war im Alter von 14/15 und ich hatte Glück, dass ich die Zeit damals im Berliner Bezirk Wedding überlebt habe, dank anderer Muslime, die gut zu mir waren, die mich beschützt haben, die mich als Freund anerkannt haben. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich nicht wirklich mich zuhause fühle, und habe nach einer wahren Heimat in dem Sinne gesucht und habe es ein bisschen in Frankreich probiert, ein bisschen in den Staaten und habe mich dann 2001 für Israel entschieden und habe eigentlich von null ein neues Leben begonnen. Dieses Land hat mir wirklich die Chance gegeben, mich noch mal zu beweisen und noch mal den richtigen Weg zu wählen. Ich habe es wirklich geschafft, hier, ich sage mal, ein wenig Erfolg zu haben, mein Leben in den Griff zu bekommen, und bin diesem Land dafür sehr, sehr, sehr dankbar.
"Deutschland beschäftigt mich jeden Tag etwas mehr"
Armbrüster: Wie blicken Sie denn heute von Israel aus auf Deutschland?
Shalicar: Deutschland beschäftigt mich sehr, nach wie vor, und eigentlich, um ehrlich zu sein, jeden Tag etwas mehr. Damals, als ich wegging, habe ich hinter mir die Tür geschlossen und habe gesagt, Deutschland ist vorbei, ich ziehe aus, ich will mich konzentrieren auf meine neue Heimat und nur in die Zukunft gucken. Aber irgendwie immer mehr gucke ich zurück - in die Vergangenheit, und die 90er-Jahre, in denen ich groß geworden bin, irgendwie begleiten die mich tagtäglich. Wenn ich die Echo-Verleihe beobachte, wenn ich das Video beobachte, was gestern zirkuliert wurde über den jungen Araber, der da mit dem Gürtel auf den jungen Mann mit Kippa losging – es stellte sich ja auch noch heraus, dass der auch ein Araber war aus Israel -, das sind Dinge, die passieren, die mich hier natürlich einholen. Mittlerweile über Social Media bin ich auch sehr aktiv mit meiner Seite und beobachte wirklich intensiv, was in Deutschland passiert. Ich habe nach wie vor auch Freunde in Deutschland. Ich treffe Menschen aus Deutschland in Israel fast täglich. Ich bin oft in Deutschland zu Besuch. Ich bin dabei, ein neues Buch zu schreiben, auf Deutsch, und bin deswegen sehr, sehr, sehr involviert, ich sage mal, was in Deutschland so ist. Manchmal bin ich fast schon mehr besorgt, was in Deutschland passiert, als was im Nahen Osten passiert.
Armbrüster: Lassen Sie uns darauf blicken. Wenn Sie auf Israel gucken, ist dann da für Sie alles gut, oder ist so ein 70. Geburtstag, ein 70. Jahrestag dieser Unabhängigkeit möglicherweise auch ein gutes Datum, um mal nachzudenken?
Shalicar: Nachdenken unbedingt, und das auch zum 69. Und bitte auch zum 71. Unabhängigkeitstag. Es wird nie perfekt. Ich glaube einfach auch nicht daran, dass die Welt irgendwie geschaffen ist, um irgendwann in dem Sinne perfekt zu sein, überall bricht der Weltfrieden aus. Daran glaube ich persönlich nicht.
"Wünsche den Palästinensern auch einen grünen Rasen"
Armbrüster: Können Sie denn verstehen, wenn beispielsweise viele Ihrer palästinensischen Nachbarn nicht mitfeiern wollen?
Shalicar: Das kann ich definitiv nachvollziehen und es tut mir auch sehr leid. Gestern zum Beispiel hier auf unseren Feiern bin ich wirklich in mich gegangen und habe gedacht: Wie schön wäre es, wenn die Palästinenser 1948, sage ich mal, den Weg gewählt hätten, mit uns wirklich diesen Weg zu laufen, Seite an Seite. Leider haben sie von Anfang an den anderen Staaten in der Region vertraut, dass sie uns wirklich ins Meer treiben können, und das hat wieder und wieder nicht geklappt. Heute sind wir in einer Realität, wo es uns gut geht. Der Rasen ist grün. Und wenn ich über die Grenze gucke, nach Gaza zum Beispiel, wo der Rasen normalerweise nicht allzu grün ist, wünsche ich meinen Nachbarn auch einen grünen Rasen. Und ich bin ganz ehrlich: Ich hätte eigentlich überhaupt kein Problem damit, wenn der Rasen im Gazastreifen noch grüner wäre als mein eigener Rasen.
"Der Ball liegt bei der Hamas-Führung"
Armbrüster: Die Bewohner dort sagen, das ist das größte Gefängnis der Welt. Würde das helfen, wenn der Rasen da grün wäre?
Shalicar: Na ja. Diese Sache mit dem größten Gefängnis, das kennt man. Das ist mehr Propaganda als Wirklichkeit, weil im Endeffekt auch Ägypten dort ja mittlerweile die Grenze dicht hat, noch dichter als wir die Grenze dicht haben. Im Endeffekt muss man gucken, wie man vis a vis einer Terrororganisation, die dort leider regiert – das ist die Hamas, die von der EU, von den Amerikanern, von Israel als Terrororganisation eingestuft wird -, wie man mit der kommuniziert in dem Sinne oder nicht kommuniziert. Solange die den Dschihad nicht ablegen, wird es schwierig sein, dort wirklich sich näherzukommen. Ich bin persönlich der Meinung, dass der Ball bei der Hamas-Führung liegt.
Armbrüster: Herr Shalicar, man merkt jetzt bei diesem Gespräch sehr schnell, wir sind da auch wieder in so einem Duktus, was sich sehr schnell bei solchen Interviews ergibt, dass man Schuldzuweisungen wiederholt, die man schon häufig gehört hat in den vergangenen Jahren und vermutlich auch in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Wäre es nicht vielleicht an der Zeit, oder wäre das nicht vielleicht eine Lösung, wenn man zumindest damit einmal aufhört und die Schuld versucht, bei der Gegenseite zu suchen, sondern versucht herauszufinden, wo der eigene Staat, die eigene Seite Fehler gemacht hat?
Shalicar: Ja! Ich beobachte in Israel sehr wohl und das tagtäglich auch, wie der interne Prozess ist. Natürlich gibt es hier sehr viele Gruppen, die offen in einer Demokratie miteinander diskutieren, von rechts nach links, von radikal rechts nach radikal links, von säkular zu orthodox. Das ist sehr, sehr interessant mitzuverfolgen, weil man wirklich hier verschiedener Meinung ist, wie man im Nahen Osten vorangehen sollte. Aber ich bitte wirklich zu betonen: Aus israelischer Sicht geht es absolut nicht nur um die Palästinenser, sondern man guckt nach Iran, man guckt nach Syrien, man nimmt die Hisbollah-Terrororganisation wahr, man nimmt den Islamischen Staat auf der Sinai-Halbinsel wahr. Es passiert sehr viel um uns herum, ein größeres Bild, eine größere strategische Bedrohung, die eigentlich über uns schwebt, weitaus mehr als das palästinensische Thema. Wenn es nur um die Palästinenser gehen würde, hätten wir schon längst Frieden. Leider passiert etwas viel größeres, was man in Deutschland ein bisschen ausblendet, wenn man über den Nahost-Konflikt redet, weil mittlerweile sollte man in Deutschland feststellen, dass der Nahost-Konflikt bei weitem nicht mehr Muslime untereinander, Schiiten gegen Sunniten, Türken gegen Kurden, Iran gegen Saudi-Arabien, Ägypten gegen den Islamischen Staat. Das muss man wahrnehmen. Israel und die Palästinenser ist, sondern der Nahe Osten insgesamt, die Muslime untereinander, Schiiten gegen Sunniten, Türken gegen Kurden, Iran gegen Saudi-Arabien, Ägypten gegen den Islamischen Staat. Das muss man wahrnehmen.
"Konfliktsituation entwickelt sich sehr dynamisch"
Armbrüster: Ich glaube, Herr Shalicar, das nehmen sehr viele Menschen in Deutschland auch wahr. Worauf ich gerne hinaus wollte ist die Frage: Hat möglicherweise Israel als Teil dieses ganzen Gewebes, hat möglicherweise Israel selbst in den vergangenen 70 Jahren auch mal an der einen oder anderen Stelle einen Fehler gemacht?
Shalicar: Ja, selbstverständlich! Das ist absolut außer Frage. Es gibt in einer Beziehung zwischen zwei Menschen oder drei Menschen, in den besten Familien, zwischen Brüdern und Schwestern macht man immer Fehler. Ich sehe das tagtäglich: ich und meine Frau mit meinen Kindern, mit meinen Eltern. Das ist absolut normal.
Armbrüster: Können Sie uns ein Beispiel nennen aus der israelischen Geschichte?
Shalicar: Jede Situation ist dynamisch. Ich will jetzt nicht mit dem Finger auf eine spezielle Situation zeigen. Da müsste ich ein bisschen nachdenken. Aber jede Situation, die sich hier entwickelt, jede Konfliktsituation entwickelt sich sehr dynamisch und man muss jedes Mal entscheiden, wie hart geht man vor, um gegen Terror auch vorzugehen. Das ist eine Frage, die man sich auch in Deutschland stellen kann, wenn man zum Beispiel eine Terrorattacke am Breitscheidplatz erlebt. Wie hart geht man jetzt vor gegen islamischen Terror? Das ist eine Sache, die wirklich sehr dynamisch ist, und dafür gibt es keine hundertprozentigen Antworten. Das wahre Leben ist komplizierter als die Theorie, die man an der Uni lernt. Das macht es umso komplizierter. Aber dass alle hier Fehler machen, natürlich. So ist das im Leben. Man muss wirklich aber mit dem Auge in die Zukunft versuchen, es positiver zu gestalten. Ich bin der Meinung, dass vieles sich doch auch positiv entwickelt, und man muss da wirklich anknüpfen. Auch als Israel, als Staat, dem es wirklich gut geht, muss man gucken, wie man in dieser Nachbarschaft soweit es geht Vertrauen aufbaut – Vertrauen aufbaut nicht zu den Diktatoren bei der Hisbollah oder in Teheran, sondern zu den Menschen um uns herum, die leider oft durch die Staatsmedien in den Ländern um uns herum vollkommen hasserfüllt uns wahrnehmen. Selbst Menschen, die in Jordanien oder Ägypten leben, mit denen wir Frieden haben, wenn man die fragt, wer deren größter Feind ist, sagen sie Israel. Das muss absolut nicht sein und das ist eine traurige Realität, wo man gegenarbeiten muss.
"Ohne Ellbogen übernimmt der Terror"
Armbrüster: Aber hat Israel daran nicht einen Anteil, genau in diesem Auftreten – Sie haben es angedeutet -, in diesem Auftreten im Westjordanland, mit den Siedlungen, die es nach wie vor betreibt, die nach wie vor weiter ausgebaut werden, mit der massiven Militärpräsenz im Westjordanland, mit dem harten Vorgehen - wir haben es in den vergangenen Tagen immer wieder gehört und gesehen - im Gazastreifen? Ist Israel da nicht selbst in der Verantwortung?
Shalicar: Ja. Da sind wir wieder bei der Frage, wie hart geht man vor, wenn man Terror gegenübersteht. Und die Sache ist die, dass wir natürlich nicht unseren Feind beim Libanesen, dem Palästinenser oder dem Iraner an sich sehen, sondern bei den Organisationen, die uns bekämpfen. Die bekämpfen uns nicht wegen irgendeinem Hügel oder wegen irgendeiner Flagge, sondern die bekämpfen uns, weil wir hier leben. Das muss man sich wirklich klarmachen. Es geht hier wirklich um die Existenz, und das, wenn wir bei 70 Jahren sind. Leider gibt es nach wie vor Menschen in diesem Nahen Osten und auf der Welt, die nicht wollen, dass wir als Juden hier leben. Ich bin manchmal der Meinung, sogar überhaupt leben, nicht nur hier. Das ist eine Sache, wir Juden sind uns dem bewusst. Das habe ich damals mit 14 in Berlin schon erlebt, wo mir Palästinenser gesagt haben, "Jude, wir wollen Dich nicht hier in unserem Bezirk haben, in Wedding, Du gehörst hier nicht her. Das ist heute aufs Makro genau das, was wir als Israel erleben: Israel, wir wollen euch hier nicht in unserem Bezirk. Das ist eine Sache. Wenn Du da nicht irgendwie zeigst, dass Du Ellbogen hast, dass Du Dich wehren kannst, dass Du imstande bist, auf positivem Weg Dich durchzusetzen, sage ich jetzt mal, dann übernimmt der Terror. Das dürfen wir einfach nicht dulden und wir dürfen da nicht zu naiv herangehen. Unter dem Terror leiden natürlich nicht nur wir Juden, sondern in erster Linie die Muslime selbst in den Ländern um uns herum und auch in Deutschland. Terroristen, die in Berlin sich mit dem Auto irgendwo reinrammen und dann auf alle Muslime das Gefühl geben, dass alle Muslime irgendwie potenzielle Terroristen sind, das tut den moderaten Muslimen in Deutschland nicht gut. Ich habe sehr viele muslimische Freunde nach wie vor, die selbst auch genervt sind.
Armbrüster: Herr Shalicar, ich bin mir sicher, wir könnten an diesem runden Geburtstag noch lange weitersprechen, aber wir müssen weitermachen mit unserem aktuellen Programm. Es war auf jeden Fall sehr interessant. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Zeit. - Arye Sharuz Shalicar war das, Publizist, kann man einfach mal so zusammenfassen, aus Israel, in Deutschland aufgewachsen, vor 17 Jahren nach Israel ausgewandert. Vielen Dank.
Shalicar: Danke sehr.
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