Martin Zagatta: Was diese Einigung aus britischer Sicht bedeutet, ob denn klar ist oder ob das wahrscheinlich ist, dass Boris Johnson für diesen Deal zuhause im Unterhaus auch eine Mehrheit findet, darüber kann ich jetzt mit Grahame Lucas sprechen, Journalist und Publizist und gebürtiger Brite. Er war lange für die Deutsche Welle tätig. Hallo, Herr Lucas!
Grahame Lucas: Ich grüße Sie.
Zagatta: Herr Lucas, sind Sie jetzt auch überrascht, oder haben Sie mit dieser Einigung gerechnet?
Lucas: Ich muss, ehrlich gesagt, sagen: Als ich gestern Abend gehört habe, dass die DUP, die nordirischen Protestanten, nicht zustimmen wollten, habe ich gedacht, das kracht jetzt zusammen und man kriegt doch keine Vereinbarung. Jetzt scheint Boris Johnson etwas anderes im Sinne zu haben. Es scheint, als ob er denkt, er kommt durch ohne die DUP. Oder es passiert etwas im Hintergrund, was wir nicht wissen, nämlich gestern gab es schon Spekulationen, dass die DUP ihre Stimmen erkaufen lässt mit einem riesen Zuschuss aus Regierungsgeldern, wie sie damals es getan hat. Da hat sie eine Milliarde Pfund angenommen, um die Regierung May im Amt zu halten – damals nach der Wahl 2017. Es wird spekuliert natürlich, aber im Moment weiß es zur Stunde keiner so genau. Und dann müssen wir natürlich gucken, wie stehen die Kräfte im Parlament. Ohne die DUP müsste Boris Johnson zwangsläufig seine Rebellen, die Menschen, die er aus der Partei geworfen hat vor wenigen Wochen, und einen Teil der Labour-Partei auf seine Seite ziehen.
Hälfte der Tory-Rebellen wieder herüberziehen
Zagatta: Für wie realistisch halten Sie das? Wenn wir zum Beispiel mit diesen Rebellen beginnen: Die sind ja aus der Partei ausgeschlossen worden, weil sie seinen harten Kurs nicht mittragen wollten. Wenn er jetzt einen Deal hat, gibt es da wieder eine Möglichkeit auf Versöhnung, dass die ihm dann doch noch den Rücken stärken?
Lucas: Interessant war: Gestern Abend hatte den Meldungen zufolge Greg Clark, ein früherer Wirtschaftsminister, in einer Sitzung in Ten Downing Street angefragt, ob Ten Downing Street bereit wäre, den Rauswurf zurückzunehmen. Man kann natürlich dann direkt sagen, es war vielleicht doch nicht so klug von Boris Johnson, diese 20 Abgeordneten hinauszubefördern. Aber das ist natürlich genau, was man jetzt erwartet: Im Hinterzimmer werden natürlich Deals gemacht. Bei den Tory-Rebellen würde ich meinen, dass er durchaus die Hälfte wieder herüberziehen könnte. Das heißt, er würde dann noch mal zehn, zwölf Stimmen bekommen können, zu den 287 Stimmen, die er schon hat. Aber das sind 297 und er braucht 320. Es fehlen ihm noch über 20 Stimmen.
Labour könnte Tory-back-Brexit über Ziellinie befördern
Zagatta: Aber die müssten doch von der Opposition zu bekommen sein. Labour war doch immer gegen einen No-Deal-Brexit. Jetzt gibt es ein Abkommen; da müssten sich doch 20 Oppositionsabgeordnete finden.
Lucas: Ja! Es ist ja so, dass etwa, wenn ich mich richtig erinnere, 25, 26 Labour-Abgeordnete Jeremy Corbyn aufgefordert haben, seine Haltung zu ändern in der Brexit-Frage und gegebenenfalls einem Deal zuzustimmen. Das zeigt in etwa die Größenordnung. Die Frage ist natürlich: In dieser Situation muss Labour taktisch extrem vorsichtig handeln, denn sie wollen natürlich – Jeremy Corbyn sagt das immer wieder – lieber Neuwahlen haben als ein zweites Referendum beispielsweise und sie lauern auf die Chance, ein Misstrauensvotum ins Parlament einzubringen, um Neuwahlen zu erzwingen. Das heißt, ich denke, im Moment werden die Abgeordneten und die Führung bei der Labour-Partei zusammensitzen und rätseln, wie werden sie sich verhalten, wenn am Samstag in einer Sondersitzung abgestimmt wird. Ich denke, es ist nicht gesagt, dass all diese Rebellen bei Labour für Johnson stimmen werden, denn man muss darüber nachdenken, was das für ihre Karriere bedeutet, was es für ihren Ruf bedeutet. Sie würden dann quasi den Tory-back-Brexit über die Ziellinie befördern, und das ist für sie politisch eine extrem schwierige Geschichte.
Johnson als Churchill von 2019, sollte Parlament zustimmen
Zagatta: Es bleibt spannend. – Jetzt hatten wir die ganze Zeit den Eindruck, Boris Johnson ist da knallhart, lässt zur Not Verhandlungen platzen, wenn er sich nicht durchsetzt. Wir hören jetzt aus Brüssel, er hat da weitgehende Zugeständnisse gemacht. Ist das für ihn nicht ein riesiger Gesichtsverlust jetzt?
Lucas: Ja, es kommt darauf an. Wenn er jetzt seinen Deal durchbekommt und dann gegebenenfalls mit der Hilfe von der Labour-Partei Neuwahlen kommen, kann er sich dann vorstellen als der Politiker, der diese Pattsituation der letzten dreieinhalb Jahre durchbrochen hat und Großbritannien in eine glorreiche Zukunft führt. Er geht natürlich immer davon aus, dass das sein Geschwätz von gestern heute vergessen ist. Das wird ihn überhaupt nicht stören und er wird natürlich, sobald er diese Zustimmung am Samstag bekommt, sofort im Wahlkampfmodus sein und genau diesen Wahlkampf vorbereiten, dass ich der große, wenn man so will, Churchill von 2019 bin.
Zagatta: Kommt er da aber nicht auch unter Druck von denjenigen, die für einen knallharten Brexit sind, die Brexit-Partei von Nigel Farage? Wird die dann zu einem Gegner oder könnten die sich mit so einem Abkommen, Hauptsache raus aus der EU, abfinden? Wie schätzen Sie das ein?
Lucas: Nigel Farage war vor wenigen Minuten im britischen Fernsehen und hat Boris Johnson einen Wahlkampfpakt angeboten – nach dem Motto, auch wenn wir einen Deal bekommen, müssen wir knallhart gegenüber der EU auftreten, denn es geht um die künftigen Beziehungen und vor allen Dingen um ein Freihandelsabkommen. Nigel Farage war der Meinung, dass man sehr nahe dran ist, um über den Tisch gezogen zu werden, und dass er dann auf gar keinen Fall von seiner Vorstellungen von einem knallharten Deal mit der EU abrückt.
Farage sei mit Deal nicht zufrieden
Zagatta: Das könnte jetzt so sein, dass er den Eindruck hat, da hat sich Boris Johnson doch über den Tisch ziehen lassen, wenn er solche Zugeständnisse macht?
Lucas: Das würde ich so annehmen, nachdem ich dieses Interview gesehen habe. Nigel Farage ist natürlich nicht damit zufrieden. Er sieht wesentliche Probleme in dem jetzigen Deal und man muss davon ausgehen, dass er Boris Johnson dann weiterhin von rechts attackiert.
Referendum als Lösung in letzter Minute nicht ausgeschlossen
Zagatta: Aus deutscher Sicht, aus EU-Sicht hoffen wir ja immer noch, oder uns wäre es am liebsten, dass die Briten in der EU bleiben würden. Jetzt gibt es auch Spekulationen, habe ich heute Morgen gelesen, Labour könnte eine Zustimmung damit verbinden, dass man auch noch diesen Deal, der mit Brüssel ausgehandelt wurde, mit einem neuen Referendum verbindet. Halten Sie das für ausgeschlossen?
Lucas: Nein. Es wird zumindest jetzt ein Ergebnis der Zahlenspielerei sein im Parlament. Wenn Johnson sieht, dass er seine Mehrheit nicht zustande bekommt, dann wird er natürlich erst mal überlegen, ist ein Referendum für mich die Lösung. Er hat es bis jetzt immer abgelehnt, aber viele Beobachter haben immer gesagt, in der letzten Stunde dieser Diskussion, wo wir unmittelbar vor einem Deal stehen, könnte das die Stunde des Referendums sein, dass das quasi der einzige Ausweg ist für Boris Johnson und dass die Labour-Partei dann sagt, okay, wir werfen unser Gewicht hinter diesen Deal, aber die Voraussetzung ist, dass wir ein Referendum bekommen und dass dieses Referendum die Option zum Verbleib beinhaltet.
Zagatta: Sie sind ja oft auf der Insel und hören sich dort immer wieder um. Wie würden Sie da die Stimmung im Moment einschätzen?
Lucas: Ich denke, zunächst einmal werden viele Menschen in Großbritannien, vor allen Dingen die Menschen, mit denen ich immer wieder spreche, wahrscheinlich darauf reagieren: Gott sei Dank, das Ende ist nahe. Sie werden sehr erleichtert sein und hoffen, dass endlich mal das Thema vom Tisch verschwindet. Es wird es aber natürlich nicht, weil diese schweren Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen bevorstehen, und die werden unter Umständen über Jahre uns beschäftigen. Aber im Großen und Ganzen wird, glaube ich, die Stimmung eine der Erleichterung sein, aber ein klein wenig sorgenvoll wird man darauf blicken, was dann in der Zukunft kommt und ob, wie viele Experten vorausgesagt haben, Großbritannien mit einem sinkenden Lebensstandard rechnen muss in den nächsten fünf, zehn Jahren.
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