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Publizistin Carolin Emcke
Plädoyer für eine offene und plurale Gesellschaft

In ihrem neuen Buch "Gegen den Hass" fragt die Publizistin Carolin Emcke nicht nach der sozialen Genese des Hasses. In einzelnen Fallstudien untersucht sie stattdessen gedankliche Muster und Argumente. Es ist vor allem eine Verteidigung der offenen Gesellschaft.

Von Niels Beintker |
    Carolin Emcke
    Carolin Emckes Essay ist klug und vielschichtig, meint unser Rezensent Niels Beintker. (picture alliance / dpa-Zentralbild)
    Das selbst ernannte Volk ist nur zu hören. Das Video zeigt ein paar Hinterköpfe, nicht mehr. Sie gehören denen, die den Bus umringen und brüllen, sie seien das Volk – die berühmte Losung der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989. An diesem Februarabend im sächsischen Clausnitz richten sich diese vier Worte aber an die wenigen Insassen des Busses, darunter zwei Frauen und ein Kind. Ihnen folgt ein weiterer Ruf: "Weg!" Die zutiefst verstörenden Szenen wurden gefilmt und im Internet veröffentlicht, auf einer Facebook-Seite mit dem Titel "Döbeln wehrt sich – meine Stimme gegen Überfremdung". Carolin Emcke analysiert dieses Video ausführlich in ihrem neuen Buch "Gegen den Hass", wertet es als Spektakel einer Meute, als – Zitat – "demonstrative, öffentliche Demütigung von Marginalisierten":
    "Was ich mir versucht habe, anzuschauen ist, wo dieses Video aufgetaucht ist, wie diese Bilder dort kommentiert werden, in was für einem diskursiven oder eben auch visuellen Umfeld ein solches Video sich auch präsentiert, um nachvollziehbar zu machen, mit was für einem Hass, mit was für Blickmustern Menschen dort dazu präpariert werden und vorbereitet werden darauf, dass sie, wenn sie diesen Bus sehen, eben nicht mehr verängstigte Menschen sehen. Sondern sie sehen nur noch kriminelle Invasoren."
    Der Hass, davon ist Carolin Emcke überzeugt, kommt nicht aus dem Nichts. Er wächst und wird gezüchtet, er hat viele Streitgespräch-Vorgeschichten, ist eine Folge von allzu stereotypen, radikal vereinfachenden Beschreibungen einer komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die in Berlin lebende Publizistin fragt in ihrem neuen Buch nicht nach der sozialen Genese des Hasses. Vielmehr untersucht sie, in einzelnen Fallstudien, die vielen gedanklichen Muster und Argumente, die zu solchen Ereignissen wie in Clausnitz führen – eine "bewusste Engführung der Wirklichkeit", wie Emcke schreibt.
    "Mich verstört, wenn unmenschlich argumentiert wird. Mich verstört, wenn exklusiv gegen ein universales Wir argumentiert wird. Es ist gar nicht entscheidend, wer als das unsichtbare oder monströse Andere konstruiert wird. Es verstört mich grundsätzlich der Mechanismus der Ausgrenzung und die ungeheuerliche Aggression, mit der da gegen Menschen gehetzt wird."
    Gewalt weißer amerikanischer Polizisten gegen Schwarze
    Carolin Emcke schreibt in ihrem Essay nicht nur über Ereignisse wie die in Clausnitz. Sie setzt sich auch mit der Gewalt weißer amerikanischer Polizisten gegen Schwarze auseinander, beschäftigt sich eingehend mit dem Tod von Eric Garner im Juli 2014 in New York. Die Publizistin analysiert die Hass-Ideologie des sogenannten Islamischen Staates. Und sie berichtet einfühlsam von Menschen, die im falschen Körper geboren wurden und sich nach einer Korrektur sehnen. Von Menschen, die Emcke als Transpersonen beschreibt – übrigens auch ein Beispiel für ihre stets der Besonnenheit verpflichtete Sprache. Dem Grundrecht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit steht aus Sicht der Essayistin eine nicht nur im medizinischen Sinn rigide Beurteilungs- und Behandlungspraxis gegenüber.
    "An Transpersonen lässt sich für mich etwas festmachen, was den Kern menschlicher Existenz, die Condition Humaine grundsätzlich ausmacht, nämlich, dass wir als Menschen wechselseitig voneinander abhängig sind, weil wir wechselseitig von Anerkennung durch andere abhängig sind. Und diese Verwundbarkeit, von der die Lebenserfahrung von Transpersonen in ganz besonderer Weise erzählen, markieren für mich einen ganz grundsätzlich menschlichen humanistischen Kampf um Anerkennung."
    Hinter den einzelnen, sehr unterschiedlichen Ereignissen und Geschichten, die Carolin Emcke in ihrem Buch "Gegen den Hass" dokumentiert, steht – gewissermaßen ex negativo – eine große Vision. Ihr Essay ist als unbedingtes Plädoyer für eine offene und plurale Gesellschaft zu lesen, als Versuch, gerade im Respekt für die Vielfalt und in der unbedingten Achtung der Menschenrechte eine zentrale Existenzgrundlage der modernen Demokratie zu verorten.
    "Kulturelle oder religiöse Vielfalt, eine heterogene Gesellschaft, ein säkularer Staat, der die Bedingungen und Strukturen schafft, damit verschiedene Lebensentwürfe darin gleichwertig existieren können, schränkt die individuellen Überzeugungen nicht ein, sondern ermöglicht und schützt sie erst. Pluralität in einer Gesellschaft bedeutet nicht den Verlust der individuellen (oder kollektiven) Freiheit, sondern garantiert sie erst."
    "Gerade die Tatsache, dass ich Verschiedenheit im öffentlichen Raum sichtbar sehe, dass ich die respektierte Andersartigkeit von Menschen sehe, beruhigt mich. Mir nimmt es die Angst, wenn ich die Vielfalt um mich herum wahrnehmen kann. Weil ich immer denke, dass die Vielfalt, die ich da sehe, letztlich auch den Schutz meiner eigenen Bedürfnisse oder Nöte oder Neigungen oder Vorstellungen vom guten Leben sichert."
    Wer in diesem philosophisch fundierten Entwurf einen neuen Relativismus erblicken will, dem sei gesagt: Grundlegend für eine solche offene Gesellschaft sind – wie bei Karl Popper und Hannah Arendt auch – die unveräußerlichen Menschenrechte, die Rechte des Einzelnen. Ebenso denkt Carolin Emcke in ihrem Essay nicht nur über staatliche Rahmenbedingungen für eine Gesellschaft ohne Hass nach. Sie entwickelt im letzten Teil, in Anlehnung an Michel Foucault, den Gedanken des sogenannten Wahrsprechens: eine Aufforderung, jenen dumpfen, verzerrenden, verengenden Parolen von Hetzern jeglicher Couleur mutig zu widersprechen, mit Worten, aber auch mit Gesten von Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft, etwa für die Geflüchteten, wie es sie übrigens auch im sächsischen Clausnitz gab. Ein jeder ist gefragt, sich der Sprache von Hass und Gewalt zu widersetzen, Tag für Tag neu, der Überzeugung folgend, wonach jeder Mensch gleichwertig sei. Carolin Emckes vielschichtiger, kluger Essay ist mehr als nur eine Ermunterung dazu.