Dieser Autor hat den Ehrgeiz, die Rezeptur des Gift-Cocktails zu bestimmen, der die US-amerikanische Gesellschaft krank macht, am Ende womöglich ihre Demokratie um die Ecke bringt. Im 11. Kapitel etwa, überschrieben mit: „Es riecht nach Freiheit“.
Die Geschichte spielt in West Virginia, einer alten Industrieregion, die über viele Jahrzehnte den Demokraten zuneigte. Bis dort George W. Bush siegte, anno 2000, dank einer raffinierten Kampagne seines Chefstrategen Karl Rove. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore bezog für den Kampf gegen den Klimawandel Position; West Virginias Kohleindustrie spendete umso großzügiger für Bush. Bald wechselte der Bundesstaat sein Motto: Aus „Wild Wonderful West Virginia“ wurde „Open for Business“.
Der entfesselte Kapitalismus
Evan Osnos zeigt uns in vielen Nahaufnahmen einen Brutalo-Kapitalismus, der mitunter fast schon komisch wirkt. Eine Realität, die oft jeder Beschreibung spottet. Detailliert zeichnet er nach, wie die Manipulation der Köpfe und Herzen funktioniert, wie die Kohleindustrie und die superreichen Koch-Brüder so lange ihre Netze spinnen, bis ihnen Justiz, Medien und die Politik zu Willen sind. Der Vorsitzende der Republikanischen Partei von West Virginia erklärt:
„Unser Parteiprogramm wird sein, den Kapitalismus von seinen Fesseln zu befreien.“
Der Autor schildert, wie Wissenschaftler gekauft werden, auf dass sie gegen Umweltschutz und Arbeitsschutz wettern und stets die falschen Fragen stellen:
„Ist es wirklich besser für die Arbeiter, sicherer zu sein, aber weniger zu verdienen?“
Wie Aufsichtsbehörden finanziell und strukturell ausgehöhlt werden, damit skrupellose Manager freie Bahn bekommen.
„Im Jahr 2008 hatte die Charleston Gazette-Mail entdeckt, dass die Kohleunternehmen in einem Zeitraum von fast fünf Jahren etwa 25 000 Verstöße gegen das Gesetz zur Wasserreinhaltung gemeldet hatten, ohne dass die Umweltbehörde diese Berichte geprüft oder auch nur eine einzige Geldbuße verhängt hätte.“
Der Blick des Rückkehrers auf seine Heimat
Das große Ganze hat bei Osnos enorm viele Facetten. Er sei Amerikaner, sagt der Journalist, aber zugleich auch ein Fremder. Bis 2013 verbrachte Osnos als Korrespondent der Chicago Tribune und dann des Magazins New Yorker ein Jahrzehnt im Nahen Osten und in China.
„Nach einer so langen Zeit im Ausland fühle ich mich ein bisschen wie ein Fisch, der in die Heimatgewässer zurückkommt, nun aber die Farben seiner Umgebung anders wahrnehmen kann.“
Um seinen neuen Blick fruchtbar zu machen, hat Osnos drei Orte in den Fokus genommen: Greenwich, Connecticut; Clarksburg, West Virginia und Chicago, Illinois. Alle drei sind für ihn mit persönlichen Erfahrungen behaftet, weil er dort einmal gelebt hat. Sechs Jahre lang kehrte er immer wieder dorthin zurück. Seine Themen sind vielfältig, reichen von der Opiatkrise über die Nachwirkungen der Kriege im Irak und Afghanistan bis zum Niedergang des lokalen Journalismus.
Die gespaltenen Staaten von Amerika besser begreifen
Osnos führt all diese Fäden zusammen, knüpft einen intellektuellen Teppich, dessen Muster uns helfen, diese „gespaltenen Staaten von Amerika“ besser zu begreifen.
„Wenn die Geschichte der Vereinigten Staaten eine Geschichte des unablässigen Ausbalancierens ist – zwischen Gier und Großzügigkeit, Industrie und Natur, Identität und Assimilierung –, so war das Land derart aus dem Gleichgewicht geraten, dass es seinen Schwerpunkt verloren hatte.“
Dabei wird er immer wieder herrlich konkret. In West Virginia etwa, wo es manchmal nach Korruption geradezu stinkt.
„Das geschah zum Beispiel an einem eiskalten Morgen im Jahr 2014, als die Einwohner Charlestons mit einem sonderbar penetranten Geruch aufwachten, der vom Elk River aufstieg. Es roch nach Lakritze.“
Ein Umweltskandal. Das Trinkwasser war vergiftet.
„Die Leute wählten die Notrufnummer, und die Behörden schickten zwei Inspektoren los, um die Quelle des Geruchs zu finden. Die Suche führte sie zu einem Chemikalienlager an einem Steilufer am Elk River. Die baufällige Anlage trug einen hochtrabenden Namen: Freedom Industries. Auf dem Gelände der Firma standen 17 weiße Metallcontainer, die wie Tablettendosen geformt waren, eine sogenannte ‚Tankfarm‘.“
Natürlich beteuert Freedom Industries anfangs, es habe sich nichts Ungewöhnliches ereignet. Aber der Skandal erregt nationale Aufmerksamkeit. Bald wird den Leuten verboten, ihr Leitungswasser zu trinken. Der Gouverneur macht allerlei Winkelzüge, genaue Informationen bleiben Mangelware. Der Behörden agieren erratisch.
Ähnlichkeiten zu China?
„Dinge, die für die Menschen in West Virginia selbstverständlich sind, kamen mir sehr befremdlich vor. Und sie erinnerten mich auf seltsame Weise an einige Dinge, die ich in China gesehen habe.“
Eine Parallele, für die dem Autor in den USA wenig Likes zufliegen werden. Osnos sagt: Wir haben es hier nicht nur mit einer neuen Spielart des harten Geschäftskapitalismus der USA zu tun.
„So, wie die Industrie die Instrumente der Manipulation in der Politik und im Privatleben der Menschen einsetzte, zeigte sie sich als geradezu meisterhaft darin, eine alternative Realität zu schaffen. Der Durchschnittsbürger von West Virginia kam zu der Überzeugung, dass sein ganzes Leben ohne die Kohle und die politischen Kräfte, die sie verteidigen, aus den Fugen geraten würde. Für sie wurde eine ausgeklügelte Fiktion geschaffen, die weitreichende politische Konsequenzen hatte. Und sie dazu brachte, Leute wie Donald Trump zu unterstützen.“
Dieses Buch zeigt uns auf eindrucksvolle, manchmal verstörende Weise, wie in den USA die Feldzüge christlicher Fundamentalisten, ultralibertärer Superreicher und ausgebuffter Industrielobbyisten zusammengefunden haben. In einer präzisen und mitreißenden Sprache, die kein flottes Storytelling braucht.
Evan Osnos: „Mein wütendes Land - Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika“, aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Suhrkamp, 635 Seiten, 32 Euro.