Wie man von Peking aus auf die nordwestchinesische Provinz Xinjiang blickt, kann man dieser Tage fast täglich im Staatsfernsehen besichtigen. Mal werden Massen-Prozesse in Sportstadien gezeigt – die Angeklagten in orange-farbenen Häftlingswesten zusammengepfercht auf Lastwagen. Mal werden verurteilte Gewalttäter mit Handschellen und Fußfesseln vorgeführt - kurz vor der Hinrichtung. Oder die jüngste "Erfolgsmeldung" der Behörden, die Verhaftung von über 380 Terror-Verdächtigen. Die ersten Ergebnisse einer neuen Kampagne gegen den Terrorismus, wie der Vize-Sicherheitschef von Xinjiang, Wang Qianrong im Fernsehen verkündete.
"Seit dem Beginn dieser Sonder-Kampagne haben die Sicherheitsbehörden in der gesamten Region 32 gewalttätige Terroristen-Zellen ausgehoben, über 380 Verdächtige festgenommen und 65 flüchtige Verdächtige gefasst, die in Terror-Gewalt verwickelt sind. Wir haben 264 Sprengsätze sichergestellt, 3,1 Tonnen Sprengstoff und 357 Messer verschiedener Art."
Im Nordwesten des Riesenreiches ist China ein Terror-Problem erwachsen – und die Führung will zeigen: Sie greift hart durch. Die blutigen Anschläge der letzten Monate haben Peking aufgeschreckt: 29 Tote bei einer Messerattacke im März in Kunming im Südwesten; drei Tote und fast 80 Verletzte im April bei einem ähnlichen Anschlag in Urumqi – der Provinzhauptstadt von Xinjiang. Im Mai dann 43 Tote bei einem Anschlag auf einem Markt in Urumqi. Das sind Opferzahlen, die die Chinesen sonst nur aus dem Nahen Osten kennen. Selbstmordanschläge auf Zivilisten, das ist für China, das sich die letzten 35 Jahre vor allem um Wirtschaftswachstum gekümmert hat, ein neues Phänomen. Peking reagiert zunächst wie immer auf Proteste und Unruhen – mit harten Maßnahmen. Außenamtssprecher Hong Lei:
"Wir werden mit Hochdruck gegen den Terrorismus vorgehen und die Stabilität unter allen Umständen wahren. Die Regierung kann die Flamme des Terrorismus löschen."
Die drei Übel
Die Ursachen der Gewalt sehen chinesische Experten vor allem im Ausland. Die "drei Übel", wie es heißt, Terrorismus, Extremismus und Separatismus, hätten auch China erreicht, sagen sie. Religiöse Fanatiker würden junge Uiguren zur Gewalt verführen. Zhang Lijuan forscht an der Xinjiang Normal University in Urumqi.
"Gewalttätige Terroristen repräsentieren keine Nation, keine Religion, kein Volk. Sie wollen lediglich das Land spalten. Dieser religiöse Extremismus schadet der ganzen Welt, sei es China, den USA oder anderen Ländern."
Doch ganz so einfach ist es nicht. Der Hinweis auf den globalen Extremismus und religiösen Fanatismus allein reicht kaum aus, um die Eskalation der Gewalt in Nordwestchina zu erklären. Um zu verstehen wie Chinas Politik von der anderen Seite aussieht, muss man von Peking rund dreitausend Kilometer Richtung Westen fliegen, ans äußerte Ende des Riesenreiches. In die Oasenstadt Kashgar – gelegen zwischen der riesigen Taklamakan-Wüste und den Pamir-Gebirgszügen, die China von Kirgistan, Tadschikistan, Pakistan und Afghanistan trennen.
Schweigen auf dem Viehmarkt
Vor den Toren Kashgars, der alten Handelsstadt an der historischen Seidenstraße, findet einmal die Woche ein großer Markt statt. Die Bauern aus der Umgebung kommen mit Traktoren und Eselskarren und treiben ihre Schafe und Kühe auf den Marktplatz. Die alten Männer tragen lange Bärte und Doppas, bestickte traditionelle Kappen, die Frauen Kopftücher und bunte, hochgeschlossene Kleider. Gleich neben dem Viehmarkt werden in eisernen Bottichen Rinderköpfe ausgekocht und aus dampfenden Kesseln Hand gezogene Nudeln angeboten.
Nirgendwo ist China so wenig chinesisch wie hier. Die Uiguren sehen nicht nur anders aus als die Han-Chinesen, sie sprechen auch eine andere Sprache, die mit Mandarin nichts zu tun hat und arabische Schriftzeichen benutzt. Doch der lange Arm Pekings ist in Kashgar überall zu spüren: Auf dem Weg zum Viehmarkt mussten alle Fahrzeuge – auch die Eselskarren - eine Kontrollstelle passieren. Auf dem Markt, wo noch vor wenigen Jahren offen diskutiert wurde, treffen neugierige Fragen neuerdings auf misstrauisches Schweigen. Trotzdem lädt einer der Bauern in sein Haus ein - zum Tee.
Ahmet wohnt mit seiner Frau, seiner zweijährigen Tochter, mit Mutter und Bruder gleich neben dem Markt. Der 23-Jährige, der seinen echten Namen aus Angst vor Repressionen nicht nennen will, baut auf einem kleinen Stück Land Mais und Weizen an. Das Leben sei hart, sagt er. Das Jahreseinkommen der Familie beträgt umgerechnet nur 600 Euro. Aber es ist nicht die Armut, die ihn bedrückt, sondern die Ungleichbehandlung der ethnischen Gruppen in Xinjiang. Als Uigure, der kein Chinesisch spricht, sei er ständiger Diskriminierung ausgesetzt, sagt Ahmed verbittert.
"Wir können nichts anderes tun, außer die Erniedrigungen schweigend herunterschlucken und tun, was sie sagen."
Schon zwei Uiguren sind verädchtig
Sie, das sind die örtlichen Behörden. Denn seit Peking dem Terrorismus den Kampf angesagt hat, spüren Ahmet und seine Freunde die Macht der Sicherheitsbehörden noch mehr als früher. Sobald mehr als zwei oder drei junge Männer zusammen auftreten, gelten sie als verdächtig:
"Sobald wir die Brücke überqueren und in die Stadt gehen, werden wir von der Polizei kontrolliert. Unsere Ausweise werden überprüft. Daher sind wir meist nur zu zweit unterwegs und treffen die anderen Freunde dann später."
Sein Handy benutzt Ahmet schon länger nicht mehr. Er war es leid, auch das Telefon ständig vorzeigen zu müssen. Die Polizei sucht auf den Handys der Uiguren nach extremistischen Videos oder Nachrichten religiöser Fanatiker. Wer verdächtiges Material besitzt oder weiterleitet, steht sofort unter Terrorismusverdacht und bekommt Schwierigkeiten. Aber was Ahmed am meisten aufregt, ist das Verschleierungsverbot für Frauen. Während er erzählt, spielt seine zweijährige Tochter zu seinen Füßen.
"Neulich hat meine Frau meine Mutter zum Arzt ins Krankenhaus gebracht. Sie musste ihren Ausweis vorzeigen und wurde verwarnt, nicht noch einmal ihr Gesicht zu bedecken. Das nächste Mal müsse sie mit einer Strafe rechnen, sagten sie. Seitdem verlässt sie kaum noch das Haus."
Klagen wie von Ahmed sind überall in Kashgar zu hören. Auf dem Basar, wo Teppiche, uigurische Musikinstrumente, getrocknete Früchte und frisches Obst angeboten werden, arbeitet Melahemet. Auch er wählt ein Pseudonym, will seinen echten Namen nicht nennen. Er ist 19 Jahre und hilft seinem Onkel im Geschäft. Sie verkaufen Seidenschals und bunte Decken. Die Geschäfte laufen schlecht, denn wegen der Gewalt bleiben die Touristen weg. Auch ihn nerven die vielen Kontrollen.
"Wir müssen ständig unsere Ausweise und unsere Handys vorzeigen. Das ist unfair. Die Han-Chinesen werden nicht kontrolliert. Nur wir Uiguren werden ständig überprüft, nur wir stehen unter Beobachtung."
Han-Chinesen bevorzugt
Die Frustration der jungen Uiguren ist überall in Xinjiang spürbar. Junge Leute klagen seit Langem, dass Arbeitgeber bevorzugt Han-Chinesen einstellen würden. Egal wie gut die Uiguren ausgebildet seien, lukrative Jobs gingen an ihnen vorbei. Bildung, sonst das Credo aller Chinesen, sei nutzlos, sagt auch Melahemet, der die Schule nach der achten Klasse abgebrochen hat:
"Es ist hart nach Schule oder Uni einen Job zu finden. Daher wollen viele nicht studieren oder länger zur Schule gehen. Selbst wer im Ausland studiert, findet nach der Rückkehr nur schwer Arbeit."
Überhaupt das Ausland. Alle träumen von Auslandsreisen. Doch alle klagen auch darüber wie schwierig es für Uiguren sei, einen Reisepass zu bekommen. Entweder würden ihre Anträge abgelehnt oder die Auflagen seien so schwer zu erfüllen, dass das Reisedokument ein unerreichbarer Wunschtraum bleibt.
"Wir jungen Leute denken, wir haben keine Freiheiten mehr. Wir alle denken so."
Chinas Pulverfass
Xinjiang ist schon lange Chinas Pulverfass. Die Region ist bis heute arm, hat aber viele Rohstoffe. Die junge kommunistische Volksrepublik hatte sich das riesige Wüstengebiet nach 1949 einverleibt und regiert seitdem mit harter Hand. Anfangs schickte Peking ehemalige Soldaten, die in halb-militärischen Bau-Brigaden das Land erschließen und für Stabilität sorgen sollten. Später kamen andere Siedler aus dem Osten dazu. Diese Brigaden, genannt Bingtuans, existieren bis heute, ihre Firmen dominieren ganze Industriezweige und große Teile des Baumwoll- und Weinanbaus in Xinjiang. Mit dieser gezielten Ansiedlung von ethnischen Han-Chinesen wurden die Uiguren zur Minderheit in ihrer eigenen Heimat.
Das Land wurde zwar modernisiert, Wüstengebiete urbar gemacht, doch befriedet hat diese Politik die Region nicht. Viele der zehn Millionen Uiguren fühlen sich heute in ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identität an den Rand gedrängt. Die Früchte des Wohlstands gingen an ihnen vorbei, klagen sie. Auf Protest und Kritik antwortet Peking seit Jahren mit den gleichen Mitteln: mehr Investitionen, noch mehr Repression. Geholfen hat es bislang nicht. Im Gegenteil: Die Spannungen sind in den letzten Jahren gewachsen.
Auch im 1200 Kilometer von Kashgar entfernten Urumqi, der Provinzhauptstadt. Seit den Anschlägen vom April und Mai wurden die Sicherheitsmaßnahmen massiv verstärkt. Am Bahnhof patrouillieren schwer bewaffnete paramilitärische Einheiten. Gepanzerte Fahrzeuge fahren regelmäßig durch die Straßen. Dabei will Urumqi eigentlich zeigen, dass es eine moderne Millionenstadt ist. Neue Hochhausfassaden dominieren die Innenstadt, neue Geschäfte, neue Einkaufszentren. Auch die uigurischen Viertel werden modernisiert. Urumqi will zum neuen Handelszentrum an der neuen – und alten - Seidenstraße Richtung Zentralasien und Europa werden. Vereinzelt trauen sich ausländische Unternehmen in die Stadt. Volkswagen hat letztes Jahr ein kleines Werk eröffnet. Doch nicht erst seit den jüngsten Anschlägen vergiften die ethnischen Spannungen das Klima.
"Vom Esel getreten"
Vor fünf Jahren, am 5. Juli 2009, kamen bei schweren Unruhen rund 200 Menschen ums Leben. Peking zeigte auch damals mit dem Finger auf mutmaßliche Drahtzieher im Ausland – ohne jemals Beweise vorzulegen. Wirklich erholt hat sich die Stadt von der Gewaltorgie nie:
"Ihr dürft das nicht schreiben, aber wir nennen sie ein minderwertiges Volk. Sie sind vom Esel getreten."
So wie diese Besitzerin eines kleinen Kiosks denken viele Han-Chinesen über die Uiguren. Dass sie dreckig, rückständig und ungebildet seien, sind noch die freundlicheren Kommentare. Menschen wie die Ladenbesitzerin schimpfen auch über die angebliche Vorzugsbehandlung für Uiguren.
"Und selbst wenn wir ihnen Jobs geben, könnten sie die Anforderungen erfüllen? Sie wollen nicht zur Schule gehen. Können sie Öl fördern, Flugzeuge bauen, einen Computer bedienen? Nein. Sie denken wir haben ihr Land besetzt. Aber ohne die Anstrengungen der Generation unserer Eltern, die hierher gekommen ist, um Xinjiang aufzubauen, hätten die Uiguren niemals von den Früchten der Entwicklung profitiert."
Ungern gesehene Kritik
Die Vorurteile und Ressentiments haben seit den Ausschreitungen von 2009 noch zugenommen, seit die ethnischen Gruppen noch mehr als früher unter sich bleiben. Und eine Diskussion über die Ursachen der Spannungen oder über die Politik Pekings findet noch weniger statt als früher. Kritik an Peking wird nicht geduldet, wie auch dieser Mann erfahren musste.
"Viele Probleme sind nicht über Nacht aufgetaucht, sondern haben sich im Verlauf der Geschichte aufgestaut. Vieles hängt mit rechtlichen Fragen zusammen – mit dem Recht auf Sprache, Religionsfreiheit, mit massiven Menschenrechtsproblemen in Xinjiang, mit der hohen Arbeitslosenrate unter den Uiguren, mit Armut, Ungleichheit, umfassender Diskriminierung", meint der uigurische Wirtschaftswissenschaftler Ilham Tohti. Der Professor an der Minderheiten-Universität Peking war einer der ganz wenigen, die es wagten, Chinas Politik in Xingjiang offen zu kritisieren.
Er ist kein Radikaler, sondern ein moderater Kritiker der chinesischen Führung. In seiner Pekinger Wohnung empfing der freundliche, zurückhaltende Mann ausländische Journalisten zum Interview – und bedankte sich jedes Mal für das Interesse an seiner Heimat. Doch im Januar wurde er aus seiner Wohnung verschleppt und sitzt jetzt im Gefängnis in Urumqi.
Die Anklage lautet auf Separatismus und ihm droht eine lange Haftstrafe. Seinem Anwalt sind die Hände gebunden. Erst sechs Monate nach der Verhaftung durfte Li Fangping seinen Mandanten kurz sehen. Auch internationaler Protest gegen Tothis Verhaftung hat nicht geholfen. China verwahrt sich gegen die als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfundene Kritik. Und für die Uiguren, die anders als die Tibeter im Ausland kaum Fürsprecher haben, gibt es jetzt noch weniger Möglichkeiten gehört zu werden.
"Natürlich folgen wir unseren Traditionen"
Auf dem Basar in Kashgar preisen die Händler ihre Musikinstrumente und bunten Tücher den wenigen Touristen an. Einer spielt auf einer Rewab, einer dreisaitigen uigurischen Mandoline. Gleich daneben patrouilliert wieder einmal die Polizei vorbei. Der junge Melahement wird nervös. Unter dem Druck der Kontrollen, der als Schikane empfundenen Überwachung, den mangelnden Artikulationsmöglichkeiten, dem Fehlen echter Autonomie oder einer Diskussion darüber, was es denn bedeutet, im modernen China Uigure zu sein, ziehen sich viele noch mehr als früher auf ihre Religion zurück – sie werden konservativer. Auch der junge Händler:
"Ob eine Frau sich verschleiert oder nicht, ist doch eigentlich kein Thema. Warum zwingen die Behörden die Frauen, keinen Schleier zu tragen? Warum insistieren sie darauf? Natürlich folgen wir unseren Traditionen. Wenn sie uns das verbieten, können wir das nicht akzeptieren."
Zum Fastenmonat Ramadan gibt es weitere Einschränkungen: Muslimische Parteimitglieder, Beamte, Studenten und Lehrer dürften nicht fasten, heißt es in Bekanntmachungen in mehreren Orten. Muslimischen Restaurantbetreibern wurde untersagt, in der Fastenzeit tagsüber zu schließen. Religiöse Traditionen würden mit Füßen getreten, protestieren Uiguren-Organisationen im Ausland. Schlimmer noch: In diesem Klima gedeihen extremistische Ideen und religiöser Fanatismus. Das wird mittlerweile sogar von den Experten innerhalb Chinas eingeräumt. Sun Hui ist Professorin an der Xinjiang Universität in Urumqi:
"Die Samen kommen aus dem Ausland, aber in China fallen sie auf fruchtbaren Boden. Für China sind der Separatismus und der Terrorismus die größte Bedrohung der regionalen Stabilität."
Wie groß der Einfluss extremistischer Gruppen und Ideen in Kashgar und anderswo tatsächlich ist, lässt sich nicht wirklich feststellen. Dass es ein Terror-Problem gibt, steht nach den schweren Anschlägen dieses Jahres sicherlich außer Frage. Unklar ist, wer dahinter steckt und welche Vernetzungen es zum Ausland tatsächlich gibt. Peking übertreibt vermutlich die Bedeutung obskurer Organisationen wie der "Islamischen Bewegung Ostturkestan" ETIM, oder der "Islamischen Partei Turkestan", deren Anführer im unregierbaren Nordosten Pakistans leben sollen. Und rechtfertigt damit das harte Vorgehen.
Im Staatsfernsehen wird wieder einmal eine Anti-Terror-Übung gezeigt: Bewaffnete Sicherheitskräfte stürmen Wohnhäuser und nehmen Verdächtige fest. Das Problem für Xinjiang bleibt, dass die Führung die Gewalt vor allem mit Gegengewalt bekämpfen will. Man werde Terroristen "wie Ratten" jagen, hatte Staats- und Parteichef Xi Jinping im April verkündet. Doch dass die jahrelange Politik der Unterdrückung und der rücksichtslosen Erschließung Xinjiangs ihren Anteil hat an der explosiven Lage, wird in Peking bislang noch nicht gesehen. "Wir lehnen die terroristische Gewalt ab", sagen junge Händler in Kashgar mit Nachdruck. "Aber wo es Unterdrückung gäbe, gäbe es auch Widerstand."