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Radikalisierung des Putin-Regimes
Von der "Gelenkten Demokratie" zur "Angstherrschaft"

Zu Beginn seiner Amtszeit bezeichnete Wladimir Putin seine Regierungsführung als „Gelenkte Demokratie“. Im Westen wurde diese Form der Autokratie kritisiert, aber lange nicht als gefährlich eingestuft. Doch Putin verschärfte Schritt für Schritt die Repressionen. Mittlerweile regiert er offen diktatorisch.

Von Andreas Beckmann |
Russlands Machthaber Putin spricht am 18.03.2022 im Moskauer Luschniki-Stadion vor Zehntausenden jubelnden Russen.
Nach wie vor hat Wladimir Putin einen großen Teil der russischen Bevölkerung hinter sich - jegliche Opposition wird mit drastisch repressiven Maßnahmen niedergedrückt (AFP)
Das russische Volk werde immer in der Lage sein, wahre Patrioten von Abschaum und Verrätern zu unterscheiden, und diese einfach ausspucken wie eine Fliege, tönte Wladimir Putin drei Wochen nach seinem Überfall auf die Ukraine. Diese kaum verklausulierte Gewaltandrohung unterstreicht, dass sich Putin längst von einem modernen Autokraten zu einem „Angstherrscher“ gewandelt hat; schreibt der russische Wirtschaftswissenschaftler Sergei Guriev in seinem gerade erschienenen Buch „Spin Dictators“:

„Moderne Autokraten gründen ihre Herrschaft auf Manipulation und Zensur von Informationen. Sie wenden Unterdrückung verdeckt an, indem sie etwa die Gerichtsbarkeit unter ihre Kontrolle bringen. Aber offen Gewalt anzudrohen oder anzuwenden, ist eigentlich eine altmodische Form von Angstherrschaft. Moderne „Spin-Diktatoren“, wie ich sie nenne, lassen sogar Wahlen zu, die zwar nicht wirklich frei sind, aber ihrer Herrschaft einen Anschein von Demokratie geben.“

Frühe Neigung zu extremer Gewalt

So hat einst auch Putin angefangen, erinnert sich Sergei Guriev, der bis 2013 Professor an der New Economic School in Moskau war, bevor er nach Frankreich auswandern musste. Schon früh fiel bei Putin aber eine Neigung zu extremer Gewalt auf: im Tschetschenien-Krieg, den er kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident 1999 massiv verschärfte. Dieser Zug seines Regimes trat immer offensichtlicher in den Vordergrund.

„Die Freiheit schrumpft täglich. Es begann damit, dass er politische Gegner als Feinde verunglimpfte. Dann ließ er sie ermorden wie Boris Nemzow oder versuchte sie zu vergiften wie Alexei Nawalny. Inzwischen droht er allen, die es wagen, seinen Krieg einen Krieg zu nennen. Putins Regime wandelt sich zusehends in Richtung Massenrepression.“

Anfangs hatte Putin offene Repression kaum nötig. Im Jahr 2000 hatte er die Präsidentschaftswahlen mit absoluter Mehrheit gewonnen, 2004 stimmten sogar 71 Prozent für ihn. Das lag nicht nur daran, dass die Opposition in den staatlich gelenkten Medien kaum vorkam. Viele Menschen stimmten für Putin, weil er nach den chaotischen 90er-Jahren unter Boris Jelzin wieder für innere und vor allem soziale Sicherheit gesorgt hatte. 2008 war seine Amtszeit gesetzlich abgelaufen. Doch er ließ die Verfassung umschreiben, um 2012 in den Kreml zurückzukehren. Der Schwerpunkt seiner Agenda hat sich seither deutlich verlagert.

National-konservativer "Think Tank"

Katharina Bluhm, Professorin am Osteuropa-Institut der FU Berlin, beschreibt schon seit fast zehn Jahren einen deutlichen Schwenk Russlands hin zu einem nationalistischen Konservatismus: „Es geht um die Sicherung des imperialen, geopolitische Anspruch Russlands.“
Ideologisch angeleitet wird dieser Schwenk von einem "Think Tank", den im Westen bis heute kaum jemand wahrnimmt. „Der Isborskij Klub, seit 2012 gibt es ihn, ist die breiteste Plattform dieses Konservatismus, der sehr viele unterschiedliche Strömungen vereint und auch Leute als ständige Mitglieder hat von quasi Neo-Stalinisten hinzu mitunter sozialdemokratisch verfassten Intellektuellen bis hin zu orthodox-konservativen Akteuren.“

Nur eine einzige Frau gehört dazu, aber selbst für Faschisten und Monarchisten ist Platz. Der Isborskij-Klub propagiert, Russland solle dem Westen den Rücken kehren und sich als eine eigenständige Macht im eurasischen Raum erneuern. Katharina Bluhm: „Russland war nie ein Nationalstaat im westeuropäischen Sinne, sondern immer eine Kombination Nationalstaat mit Imperium. Darauf waren sie auch stolz.“
Der russische Präsident Wladimir Putin und Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill im Juli 2013 in Moskau.
Putins demonstrativer Schulterschluss mit der russisch-orthodoxen Kirche unterstreicht die "Anti-Dekadenz"-Agenda (picture alliance / dpa / Foto: Sergey Guneev)

"Moralische Erneuerung" contra "westliche Dekadenz"

Diesen imperialen Nationalstaat will der Isborskij-Klub moralisch einen und festigen, um gegenüber dem Ausland wieder Stärke zu demonstrieren, so wie einst die Sowjet-Union und vor allem das Zarenreich. „Es geht um moralische Erneuerung, auf die man quasi alle einschwören kann. Etwas, was die Bevölkerung in der Breite, aber eben auch die Elite mobilisiert, mit einem Sinn verleiht, der nicht allein im Geschäftemachen besteht, also in der Bereicherung. In gewisser Weise ist der russische Konservatismus eine Gegenbewegung gegen die 90er Jahre, die sich Putin sehr kunstvoll zunutze macht.“
Dabei ist er dieser Denkrichtung nicht von Anfang an gefolgt. Anfangs hörte er auch liberalen Ratgebern zu, die eine Integration in den Weltmarkt empfahlen, zunächst durch Rohstoffexporte. Mit den Erlösen sollte eine Hightech-Industrie etwa nach dem Vorbild Südkoreas aufgebaut werden. Doch zu viel Geld floss in die Taschen von Oligarchen und anderer Günstlinge oder versickerte in korrupten Verwaltungen.
Spätestens seit der weltweiten Finanzkrise erlahmte Russland Wirtschaftswachstum, ergänzt Sergei Guriev. Mittelschicht, Arbeiterschaft und kleine Unternehmer, Putins treueste Wähler, wurden zusehends unzufrieden. „Die wichtigste Statistik, die Putin verfolgt, sind seine Beliebtheitswert. Die waren nach seiner Rückkehr ins Amt kontinuierlich gefallen. Bis er 2014 die Krim annektierte. Da stiegen sie so steil an, wie Putin selbst es nicht erwartet hatte.“
Die Nationalisten des Isborskij-Klubs hatten einen Krieg ohnehin für unvermeidlich gehalten und sahen sich bestätigt. Auch dadurch, dass der Westen Sanktionen verhängte, die Putins Regime zwar wirtschaftlich nur kurzfristig schadeten, aber seinen Stolz kränkten, meint Katharina Bluhm: „Das ist eine Kritik, dass der Westen Russland nie als Partner akzeptiert hat. Da gibt es klare Statements: Gebt es auf, ihnen gleich sein zu wollen, ihr werdet niemals akzeptiert, besinnt euch auf das Eigene. Wichtig ist das Souveränitätskonzept, also gegen die Dekadenz des Westens, sprich Europa, also was wir kennen, gegen Homosexualität, einen übertriebenen Minderheitenschutz, eine Zensur durch political correctness.“
Protest in Moskau gegen die Inhaftierung des Oppositionellen Alexei Navalny
Wer in Russland gegen das Putin-Regime auf die Straße geht, braucht viel Mut (pa/dpa/TASS/Sergei Savostyanov)

Verbot von NGOs und unabhängigen Medien

Putin inszeniert sich heute als Verteidiger der Freiheit der Russen gegen die Zumutungen eines angeblichen fremden, liberalen Lebensstils. Nicht-Regierungsorganisationen, die noch mit dem Westen zusammenarbeiteten, wurden als "Ausländische Agenten" gebrandmarkt und nach und nach verboten. Nach Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine wurden auch die letzten freien Medien geschlossen – wie der Fernsehsender „Doschd“, die Radiostation „Echo Moskwy“ und die Internetzeitung „Meduza“. Fast alle unabhängigen Journalisten flohen ins Ausland. Viele versuchen, von dort aus weiter zu arbeiten.

Ende März führten fünf unabhängige russische Medien ein Online-Interview mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi. Auf YouTube wurde das Video etwa 10 Millionen mal aufgerufen. Die Hoffnung war, dass dadurch die Wahrheit über den Krieg auch in Russland ankommen würde.

„Die Frage ist natürlich: Hat das irgendeinen Effekt? Beeinflusst das die öffentliche Meinung in Russland nachhaltig?“ Solche Fragen kann der Politikwissenschaftler Nils Weidmann von der Universität Konstanz selbst kaum beantworten. „Weil unabhängige Umfragen schwierig bis unmöglich sind, aber allen Anzeichen nach ist es doch eine recht große Mehrheit in Russland, die sich beeinflussen lässt von der staatlichen Propaganda, und deren Interpretation der Ereignisse zu folgen scheint.“

Kein Wunder: Zeitungen, Radio und Fernsehen sind fest in der Hand von Putins Medienaufsicht. Und beliebte soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram hat die Behörde gesperrt. „Es gibt natürlich russische Plattformen selbst, die noch funktionieren. Es gab auch schon mal Pläne, ein alternatives russisches soziales Netzwerk zu gründen und zu betreiben. Das ist immer schwierig, weil ein soziales Netzwerk immer von den Beiträgen aller Mitglieder dieses Netzwerks lebt. Man kann das nicht von heute auf morgen aufbauen, das muss sich langsam etablieren und langsam füllen.“

Wendet sich die Jugend vom Regime ab?

Wer technisch versiert ist, kann Blockaden manchmal umgehen. Bei YouTube scheint das bisher leidlich zu funktionieren. „Telegram ist deutlich weniger reguliert, wo sich einzelne Gruppen bilden können, die aber nicht geschlossen sind, wo man von außen dazustoßen kann. Insofern ist es eine eher klubbasierte Kommunikation, man kann nicht einfach, wie auf einem Portal Informationen einfach so abrufen. Sondern man muss halt einer dieser Gruppen beitreten, ohne das Suchen dieser Kanäle und dieser Gruppen geht es nicht.“

Vor allem junge Leute probieren es. Wie ihre Altersgenossen um Westen hat sich diese Generation, zumindest in den Großstädten, häufig vom klassischen Fernsehen verabschiedet und wird so von der Propaganda weniger gut erreicht. Putin könnte Teile der Jugend verlieren. Sergei Guriev: „Langfristig dürften alle gut qualifizierte junge Leute, die ich kenne, auswandern. Das tun jetzt schon viele. Und Investoren flüchten auch reihenweise. Russland droht eine heftige Wirtschaftskrise. 2014, nach der Annexion der Krim, habe ich so etwas nicht gesehen.“
Sergei Guriev glaubt, dass Putin sich vielleicht irgendwann zum Sieger des Krieges ausrufen könnte. Er habe aber kaum eine Chance mehr, den Frieden zu gewinnen. „Herr Putin steckt in großen Schwierigkeiten, wirtschaftlich und politisch. Für ihn ist das jetzt ein Kampf auf Leben und Tod.“
Um politisch zu überleben, bleibt ihm kaum etwas übrig, als auch im eigenen Land weiter Angst zu schüren. Und sich darauf zu verlassen, dass sein Volk auf Dauer in Anpassung erstarrt.