"Ich bin höchstwahrscheinlich um 1640 gebaut worden, so genau weiß ich das nicht mehr." Im Marktkirchhof 11 wohnt heute der 50-jährige CDU-Landtagsabgeordnete Ulrich Thomas. Es ist seine Idee, in der mittelalterlichen UNESCO- Weltkulturerbe-Stadt Quedlinburg - in der bis heute etwa 1.300 Fachwerkbauten erhalten geblieben sind - die Häuser zum Sprechen zu bringen.
Das passiert mittels eines kleinen schwarz-weiß gepunkteten Codes, dem QR-Code. Der ist auf kleinen gelben Plastikschildern in Häuschen-Form an den Hauswänden angebracht. Scannt den ein Passant mit seinem Smartphone, hört man illustre Geschichten aus etwa sieben Jahrhunderten. Aus dem Munde der heutigen Besitzer.
"Tourismus 3.0"
"1703 wurde ein gewisser Johann Christoph Linde mein Eigentümer, er eröffnete eine Drechslerei."
Es sind individuelle Stadtgeschichten. Ohne Stadtführer, nur mit dem Handy in der Hand.
Gerade junge Menschen sollen damit angesprochen werden. Tourismus 3.0 nennt es Hausbesitzer Ulrich Thomas.
"Ja, natürlich habe ich jetzt keine Berichte von den Leuten, wie sie gelebt haben. Ich muss doch mehr über Quellen berichten, die ich habe. Das sind oft die Einwohnermeldeämter, die Kirchenbücher, die Auskunft geben, wer wo gewohnt hat. Man hat in etwa eine Vorstellung. Aber natürlich - klar wissen wir, dass es ein Bad oder WC nicht gab. Insgesamt kann jeder, der ein Haus saniert hat, schon ein bisschen erahnen, unter welchen schwierigen Verhältnissen - heute würde das wahrscheinlich niemand mehr machen - in diesen Häusern, ich sag jetzt mal wirklich bewusst das Wort, die Menschen 'gehaust' haben."
Ulrich Thomas hat vor knapp 30 Jahren für etwa 400.000 DM das Haus in der Nähe des Rathauses gekauft. Ein ockerfarbenes denkmalgeschütztes schmales Fachwerkhaus, mit markant kreuzförmig verlaufenden schwarzen Balken.
Mühsam recherchierte Hausgeschichten
Neben Privatleuten und den Kirchen, sind es Besitzer von Apotheken, Gasthöfen, kleinen Läden die bei der Quedlinburger Privatinitiative "Stadt der sprechenden Häuser" mitmachen. Es geht dabei um keine akademische Angelegenheit, sondern um emotionale, mühsam recherchierte Hausgeschichten.
"Die wechselvolle Baugeschichte reicht bis in das 13. Jahrhundert zurück. Aus dieser Zeit ist das massive Tonnengewölbe aus Sandsteinquadern im Kellerbereich. Errichtet wurde das Gewölbe ohne Fundament, nur auf gewachsenem Boden. Von diesem Tonnengewölbe war ein Brunnen für die Wasserversorgung zugänglich."
Den Brunnen gibt es heute noch, erzählt Sylvia Marschner. Besitzerin eine kleinen Hotels in der Breiten Straße. Einst eine der wichtigsten Durchgangsstraßen Quedlinburgs, die in der frühen Neuzeit von vermögenden Handwerkerfamilien bewohnt wurde. Erbaut wurde das gotische Fachwerk Mitte des 13. Jahrhunderts. Vieles ist heute noch original erhalten. Außen: Großer rundgewölbter Torbogen, große Fenster. Innen: Dunkle holzvertäfelte Wände.
"Es ist doch einfach toll, wenn ich in eine Stadt komme und einfach sagen kann, das interessiert mich hier und ich mach mein Handy an und kann etwas über das Haus erfahren. Es ist einfach spannend. Für jeden, der herkommt."
Das Fachwerk - ein einfaches "Baukasten-System"
Die Fachwerkgebäude Quedlinburgs umfassen eine Zeitspanne von etwa 700 Jahren, vom späten 13. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Die Idee der "Sprechenden Häuser" sei eine Schule des Sehens, sagt Rudolph Köhler, Fachwerkspezialist und Inhaber eines kleinen Quedlinburger Architekturbüros.
"Das Fachwerk ist das Konzept eines System-Hauses, was schon Jahrhunderte alt ist. Das konnte letztlich jeder Zimmermann. Es brauchte keine Architekten dazu, keine Bauingenieure, sondern es ist ein einfaches Baukasten-System."
Das schnell an jede Mode angepasst werden konnte, aber auch an die sich wandelnden Bedürfnisse der jeweiligen Bauherren. So war es ein Leichtes, auch mal ein Geschoss auf ein bereits Bestehendes drauf zu bauen, wenn der Platz zu klein wurde.
"Als ich herkam, da habe ich schon das Gefühl gehabt, ich bin in einer Theaterkulisse. Wenn es nachts hier menschenleer war und dann diese Beleuchtung und dann diesen engen Gassen. Wie im Theater."
Ein Lebensgefühl, das es so - zumindest in Norddeutschland - nur noch in Quedlinburg gibt. Was auch damit zu tun hat, das eben die einst drei bedeutendsten norddeutschen Fachwerkstädte Braunschweig, Hildesheim und Halberstadt durch den Krieg nahezu komplett zerstört wurden.
Achtundzwanzig Hausbesitzer konnte Fahrlehrer Ulrich Thomas für seine Initiative "Stadt der sprechenden Häuser" bisher gewinnen.
"Natürlich haben wir einen gewissen Anspruch. Das ist jetzt keine Jux und Dollerei. Sondern es ist von dem Niveau, dass jeder Tourist sagt: Das ist interessant, das hat Spaß gemacht zuzuhören."