Thekla Jahn: Pünktlich zur Berlinale, die in dieser Woche beginnt, ist der erste deutschsprachige Sammelband zum sogenannten "Queer Cinema" erschienen – zu Kinofilmen also, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit schwulen, lesbischen und transgender Themen beschäftigen. Herausgegeben von zwei Filmwissenschaftlern, Dagmar Brunow und Simon Dickel. Simon Dickel ist uns Berlin zugeschaltet. Schönen Guten Tag.
Simon Dickel: Guten Tag, Frau Jahn.
Jahn: Herr Dickel, Anglizismen verkomplizieren das intuitive Verständnis. Queer – seltsam, eigenwillig, besonders: Was ist denn queer am queeren Film?
Dickel: Queer bezieht sich einerseits auf den Inhalt. Sie haben ja schon gesagt: Es geht um schwule- , lesbische- , trans- Positionen, aber auch um die Form. Und queer wird ja manchmal so als Sammelbegriff genommen für die verschiedenen sexuellen Orientierungen, aber es ist eben auch ein Theoriemodell, wo es dann darum geht, das was als normativ verstanden wird, kritisch zu hinterfragen. Und das passiert eben filmisch auch durch experimentelle Formen zum Beispiel.
Jahn: Sind denn dann queer und experimentell in Bezug auf Film synonym zu verwenden?
Dickel: Da sind sich die WissenschaftlerInnen nicht einig. Daniel Kulle, der einen Beitrag über experimentalen Kurzfilm geschrieben hat für unser Buch, würde sehr wahrscheinlich so argumentieren oder er argumentiert in diese Richtung in seinem Beitrag, andere Leute würden vielleicht aber auch sagen, dass es auch in konventionelleren Filmen queere Inhalte geben kann. Es ist ja auch eine Tradition in den Filmwissenschaften, dass zum Beispiel Hollywoodfilme queer gelesen wurden. Also, dass queere Ansätze genommen wurden und eine ganz hetero-normative Geschichte dann aber subversiv gewendet wurde. Und die queeren Elemente herausgearbeitet wurden.
Low-budget gleich lesbisch?
Jahn: Sie bringen nun ein Buch neu heraus über ein gar nicht neues Thema, nämlich das "Queer Cinema" und es startet mit einem 25 Jahre alten Text von B. Ruby Rich, die den Begriff "New Queer Cinema" geprägt hat. Ist das der wissenschaftlichen Gründlichkeit geschuldet oder bringt uns im Jahr 2017 der Text noch etwas, um queeres Kino von heute zu verstehen?
Dickel: Dieser Text ist ja so ein Schlüsseltext für Queer Cinema, B. Ruby Rich hat mit diesem Text den Begriff eigentlich geprägt: "New Queer Cinema". Mittlerweile gibt es jetzt den Begriff "New Wave Queer Cinema" für solche Filme wie zum Beispiel "Weekend", der vor einigen Jahren sehr erfolgreich lief. Ich glaube, dass der Text von B. Ruby Rich immer wieder gelesen werden sollte. Wir haben ihn deshalb an den Anfang gestellt, weil es die erste deutsche Übersetzung von diesem Text überhaupt ist. Und mit unserem Buch wollten wir auch Positionen versammeln und zugänglich machen in eben einem Buch, das es bisher so im deutschen Sprachraum noch nicht gab.
Jahn: Jetzt hat B.Ruby Rich in ihrem damaligen Text festgestellt, dass 1992 beim Toronto Film Festival, bei dem auch der renommierte Gus van Sant mit "My own private Idaho" vertreten war, eines offensichtlich wurde: Teure Filme sind eher schwul, low-budget-Projekte sind eher lesbisch. Gilt das noch heute?
Dickel: Sie sprechen ja Gus van Sant an und wie ich das gesehen habe, läuft sein neuer Film in der Berlinale im Wettbewerb, von den weiblichen Regisseurinnen, die sie in ihrem Text erwähnt, sehen wir das nicht. Und es gibt ja auch diesen Zusammenschluss Pro-Quote-Regie von weiblichen Filmemacherinnen in Deutschland, die immer wieder kritisieren, dass es sehr schwierig ist für Frauen auf dem Markt überhaupt Fuß zu fassen und Aufträge zu bekommen.
Jahn: Haben Sie eine Erklärung dafür?
Dickel: Das Patriarchat?!
Jahn: Sie haben es schon angesprochen Gus van Sants neuer Film "Don´t worry, he won´t get far on foot", der wird laufen im Festivalhauptprogramm und er hat Chancen auf einen Hauptpreis, aber auch auf einen Teddy-Award, das ist der bedeutendste queere Filmpreis der Welt. Welche Chancen räumen sie ihm ein?
Dickel: Das kann ich schwer beurteilen, weil ich ihn nicht gesehen habe. Ich weiß, es geht um den Comiczeichner Bill Callahan (Anm. d. Red.: er meint John Callahan) und um Disability auch als Thema, ich bin neugierig auf den Film. Ich freue mich auch den zu sehen. Aber das kann ich schwer beurteilen, auch weil ich nicht so einen richtigen Überblick über die anderen Filme hab, die im Wettbewerb laufen. Bei der Teddy-Jury könnte ich mir vorstellen, dass sie vielleicht auch etwas abseitigere Filme in die engere Wahl ziehen.
Teilweise Mainstream
Jahn: 2016 erhielt Barry Jenkins für seinen Film "Moonlight" – ein Beispiel für das "Queer Black Cinema" den Oscar. Mehrere queere Filme sind immer wieder mit Preisen bedacht worden oder auch mit Oscar-Nominierungen. Ist das "Queer Cinema" mainstreamkompatibel geworden?
Dickel: Dass "Moonlight" so gut ausgezeichnet wurde, darüber habe ich mich wirklich sehr gefreut. Es ist wirklich ein toller Film. Und das deutet natürlich in diese Richtung, dass queere Themen auch im Mainstream ankommen und da diskutiert werden. Im Buch haben wir ja auch zwei Interviews mit deutschen Filmemacherinnen, mit Angelina Maccarone und mit Monika Treut. Monika Treut berichtet zum Beispiel auch darüber, wie ihre Filme vermarktet und vertrieben werden. Und dass es immer wieder schwierig ist, Fördergelder zu bekommen oder Filme zu platzieren mit solchen Themen. Von daher ist die Antwort wahrscheinlich zweischneidig: Einerseits gibt es diese erfreulichen Entwicklungen und andrerseits ist es trotzdem aber auch schwierig.
Jahn: Was halten Sie von einer anderen Entwicklung, dass heterosexuelle Regisseure Filme über Schwule drehen, wie zum Beispiel Ang Lee den Film "Brokeback Mountain", der natürlich auch ein riesen Erfolg war. Eine gute Entwicklung?
Dickel: Ja, natürlich. Ich meine bei Barry Jenkins ist es meines Wissens, ja glaube ich, auch der Fall. Also da habe ich ja nichts dagegen. Das ist ja eher erfreulich. Alle sollten ja Filme über alle Themen machen können. Wenn sie das auf eine kluge und intelligente Weise machen.
Jahn: Jetzt hat B. Ruby Rich, von der wir am Anfang gesprochen haben – die den Begriff "Queer Cinema" geprägt hat -, sie hat schon 2004 in einem Interview gesagt: "Queer Cinema" gibt es überhaupt nicht mehr, denn die queeren Themen sind im Mainstream angekommen.
Das neue queer
Dickel: Im Director's Cut fragt sie dann auch: Ist trans das neue queer? Und wir haben einen Beitrag in dem Buch von Florian Kraus, der das auch im Titel übernimmt, "Ist trans das neue queer?" Möglicherweise haben sich sozusagen diese klassischeren Diskussionen von "Queer Cinema" noch verschoben. Also es geht dann einerseits auch um Transgender-Repräsentationen, da könnte man natürlich auch sagen, die kommen auch im Massenpublikum an. Wenn man jetzt an Webserien, wie zum Beispiel "Transparent" denkt, die ja auch Emmy-Awards gekriegt hat. Und andererseits, wenn man so fragt nach Intersektionalität: Wie überschneiden sich verschiedene Differenzlinien, wie sexuelle Orientierung, Disability, Race, Klasse, zum Beispiel. Ich glaube, es gibt immer wieder neue, interessante Themen, die im "Queer Cinema" bearbeitet werden können.
Jahn: Das heißt, "Queer Cinema" wird immer parallel weiterlaufen. Kein Ende in Sicht?
Dickel: Ich würde sagen, solange sich die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht grundlegend ändern, sehe ich da eigentlich kein Ende.
Jahn: Vielen Dank Simon Dickel, Mitherausgeber der Buches "Queer Cinema", das gerade im Ventil Verlag in einer Reihe zu Filmgenres erschienen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dagmar Brunow/Simon Dickel: Queer Cinema
Mainz: Ventil Verlag, Februar 2018, 288 Seiten, 20 Euro.
Mainz: Ventil Verlag, Februar 2018, 288 Seiten, 20 Euro.