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Queer Theory. Eine Einführung

Homosexuelle Handlungen hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben. Die Medizin und die Rechtswissenschaft waren es, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Homosexuellen vermessen und definiert, die ihn, wie der französische Philosoph Michel Foucault es ausgedrückt hat, den Homosexuellen erfunden, gleichsam zur "Spezies herabgedrückt" haben. Homosexuelle selbst trugen das ihre dazu bei, eigene Kategorien wie "Urning" oder "Das dritte Geschlecht" zu etablieren. Das Abweichende von der Norm musste einen Namen bekommen. Es wurde auf der einen Seite behandelt oder bestraft, auf der anderen diente es als Grundlage für ein neues, von Stolz geprägtes Selbstbewusstsein, für die Bildung einer eigenen "Wesenheit", einer Identität. In der ersten Hälfte ihrer Einführung in das relativ neue Terrain der "Queer Theory" zeichnet die in Australien lehrende Annamarie Jagose diesen Prozess nach.

Detlef Grumbach | 17.08.2001
    Im Spiegel der Homosexuellenbewegung und der Theoriebildung führt sie die Darstellung an den Punkt, an dem das mühselig erarbeitete Konzept einer homosexuellen Identität brüchig werden musste. Mit dem Auftreten des lesbischen Feminismus wurde ein Widerspruch deutlich, der latent von Beginn vorhanden war: Wir haben es mit Männern und mit Frauen zu tun, deren Stellung in der Gesellschaft nicht zu vergleichen ist, auch wenn beide die traditionellen Erwartungen an ihre Geschlechterrollen nicht erfüllen und gleichgeschlechtlich orientiert sind! Mit der Aids-Krise wurde dann aber auch die schwule Identität in Frage gestellt. Wurde Aids zunächst als "Schwulen-Seuche" bekannt und wurden Schwule als die "Risikogruppe" identifiziert, änderte sich der Blick auf die Wirklichkeit und damit auch die Sprachregelung hin zu "Risikoverhalten" und "riskanten Situationen".

    Verhalten und Identität wurde wieder getrennt, denn plötzlich gerieten verstärkt auch die Grenzgänger aller Couleur ins Visier der Forschung: Auch sie sollten schließlich mit den Präventionsbotschaften erreicht werden. Darüber hinaus differenziert sich die schwule Szene immer weiter aus, werden auch innerhalb der so genannten "gay community" bestimmte Gruppen wie Tunten und Pädophile ausgegrenzt.

    In dieser Situation - so die Autorin - schlug die Stunde der in den USA schon Anfang des Jahrhunderts gebräuchlichen Bezeichnung von "queer". Eine sich als "queer" verstehende politische Bewegung erweiterte die Perspektive, fasste alle von der heterosexuellen - in den Vereinigten Staaten zusätzlich auch weißen - Mittelstandsnorm abweichenden "queer people" zusammen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Wo sich neben dem amerikanischen Begriff "Gay Studies" hierzulande gerade die deutsche Version der "Schwul-Lesbischen Studien" durchgesetzt hat, ist heute überwiegend von "Queer Studies" die Rede.

    Was oberflächlich als politische Strategie und neue Bündnispolitik erscheint, erhält seine weit über die Szene hinausreichende und auch ins Mark eines heterosexuellen, ja auch eines feministischen Selbstverständnisses treffende Sprengkraft durch seine theoretische Unterfütterung. Wie sich der Begriff "Queer" in Theorie und politischer Bewegung etabliert hat, welche Diskussionen er ausgelöst und welche Kontroversen es innerhalb dieser noch jungen wissenschaftlichen Richtung gibt, stellt Annamarie Jagose im zweiten Teil ihrer Einführung dar und gibt dabei gewiss auch Anlass zu Irritationen und zu zweifelndem Staunen.

    Wo in der Vergangenheit der Frage nach dem Entstehen von Homosexualität nachgegangen wurde, um ihr so etwas wie "Natürlichkeit" und einen eigenen Wert zu bescheinigen, behauptet "Queer Theory" in der Nachfolge Michel Foucaults, dass Homosexualität ein gesellschaftliches Konstrukt ist, dass sie sich in ihrer jeweiligen spezifischen Lebensform herausgebildet hat und verändert, dass sie eine historische und gesellschaftliche Kategorie ist. Wenn sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch klar definiert und in den Rang einer Wesenheit erhoben wurde, geschah diese Festschreibung in einem bestimmten Zusammenhang: Die entstehende bürgerliche und patriarchale Gesellschaft mit der Kleinfamilie als Keimzelle des Staates brauchte eine disziplinierende, heterosexuelle Norm, die als gottgegeben oder wenigstens natürlich behauptet wurde und außerhalb jeder Kritik stand.

    Die Definition des Homosexuellen zielte also auf die Heterosexualität. Das eine geht nicht ohne das Andere. Das Abweichende in den Griff zu bekommen diente der Festigung und Bestätigung einer bestimmten historischen Form der Heterosexualität, die sich aus diesem Blickwinkel als genauso wenig "natürlich", unveränderbar und tragfähige Säule der Gesellschaft erweist. "Queer Theory" setzt bei der Diskussion lesbischer und schwuler Identitätskonzepte an, zerstört schließlich das Konstrukt einer in der Natur der Sache liegenden, einer universellen Heterosexualität und erklärt sie als Ausdruck einer Gesellschaftsordnung und von Herrschaftsverhältnissen. Nicht nur an der Oberfläche, an der sich die Rollenbilder und das Verhältnis der Geschlechter verändern, sondern im Kern.

    Den Essentialisten, die bei allen Zugeständnissen an historische und gesellschaftliche Einflüssen stets nach dem unverrückbaren Wesen einer Kategorie fragen, mögen die Haare zu Berge stehen: Folgt man einer Vertreterin der "Queer Theory" wie Judith Butler, existiert ein solcher Kern nicht, sondern nur eine "fortdauernde diskursive Praxis", die "stets offen für Eingriffe und neue Bedeutungen" ist. Folgt man ihrem Ansatz, steht auch ein radikaler Feminismus, der dem Patriarchat die grundlegende Kategorie "Frau" gegenüberstellt, plötzlich ohne Subjekte da. So unterzieht "Queer Theory" die Kategorien gesellschaftlicher Machtausübung einer radikalen Kritik und erhebt den Anspruch, dem einzelnen Subjekt mehr Freiräume zu eröffnen, sich spielerisch und frei entfalten und zwischen Rollen und Identitäten changieren zu können.

    Ein ausführliches Nachwort dieses von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Buchs verknüpft schließlich die sich vor allem auf den anglo-amerikanischen Raum beziehende Darstellung Jagoses mit den deutschen Diskussionen der letzten Jahre. Wer Spaß daran hat, bisheriges Denken in einer Frage durchrütteln zu lassen, die unmittelbar an die eigene Existenz rührt und das eigene Selbstbild rührt, kann diese Einführung mit Interesse und Gewinn lesen - auch wer nach wie vor Wert darauf legt, eine Frau oder ein Mann, eine Lesbe oder ein Schwuler zu sein. Wie ein Reiseführer zu einem Abenteuerurlaub führt sie in unbekannte Gebiete voller Überraschungen. Man kann dann ja immer noch zu Hause bleiben.