Große Menschenmengen, ein unübersichtliches Teilnehmerfeld – und zu erwartende gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder politisch Andersdenkenden: Diese Melange hat die sogenannten Anti-Corona-Politik-Demonstrationen in Leipzig, Berlin oder Dresden "besonders attraktiv" für Rechtsextremisten aus dem Fußballhooligan- und Kampfsport-Milieu gemacht.
Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der oppositionellen Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die dem Deutschlandfunk bereits vor Veröffentlichung vorliegt. Demnach wusste die Bundesregierung auch, dass die Szenen im Vorfeld über soziale Medien und Messenger-Dienste zur Demo-Teilnahme mobilisiert hatten. Für Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, ist klar:
"Wenn solche Gruppen gezielt zu solchen Anti-Corona-Maßnahmen-Demos aufrufen, dass es dann im Wesentlichen darum geht, bei einer Konfrontation mit anderen Gruppen eben auch Gewalt auszuüben oder bei einer Konfrontation mit der Polizei sich Kämpfe zu liefern und damit auch Teile der Anti-Corona-Bewegung auch für eigene Zwecke zu vereinnahmen."
Zunehmende Gewaltkompetenz
Dazu passt: Laut Bundesregierung habe sich die Gewaltkompetenz von Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren deutlich erhöht – vor allem durch den seit 2017 in der Szene immer populärer gewordenen Kampfsport, der vermehrt auch rechtsextreme Hooligans anzieht. Nicht nur die Schnittmengen zwischen ihnen und rechtsextremen Kampfsportlern seien dadurch gewachsen, sondern auch der Grad der Professionalisierung sowie die Anzahl von Neugründungen regionaler, neonazistischer Kampfsportgruppen – und damit auch die Gefährdungslage. Diese Entwicklung, so heißt es zur Überraschung von Grünen-Politikerin Irene Mihalic weiter, werde bereits seit geraumer Zeit mit "hoher Priorität" bearbeitet:
"Ich habe diese hohe Priorisierung in der Arbeit der Bundesregierung bisher nicht wahrgenommen. Es ist tatsächlich so, dass gerade die Kampfsportszene ziemlich unterbelichtet ist und wir nicht genau wissen, wie dort diese Strukturen aussehen oder wer hinter einzelnen Kampfsportlabels steckt. Da muss die Bundesregierung noch dringend genauer hinschauen."
Einerseits müsse die Analysekompetenz der Sicherheitsbehörden ausgebaut und andererseits der Entwicklung auch mit sportpolitischen Mitteln entgegensteuert werden. Denn: Rechtsextreme würden die Leute da abholen, wo sie schon sind. Auch im Sport, wo sie auf bereits vorhandene Strukturen und organisierte Fanszenen treffen würden:
"Und deswegen muss man mit entsprechend nicht nur sicherheitspolitischen Programmen oder Maßnahmen, sondern auch ganz gezielt mit Präventionsprogrammen versuchen gegensteuern, um den Sport, den Breitensport und einzelne Sportarten nicht anfällig zu machen für solche Vereinnahmungsstrategien von rechts."
Sportpolitisch relevant
Doch die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort explizit: Für sportpolitische Konsequenzen sieht sie keine Notwendigkeit. Die Begründung: Der Bund sei nur für den Spitzensport und seine Verbände zuständig – nicht aber für Kampfsportarten wie z.B. Mixed Martial Arts. Für Mihalic eine unzureichende Begründung, für Extremismusforscher Robert Claus sogar Politikverweigerung:
"Wir tun gesellschaftlich nicht gut daran, wenn Sportpolitik sich selber auf Olympiapolitik reduziert, d.h. nur auf die Sportarten, die auch bei Olympiaden vertreten sind. Sport ist ein viel größerer Bereich und wie wir genau an diesem Beispiel vom Kampfsport sehen, gibt es einen sehr großen freien Markt, mit dem man sich auch sportpolitisch beschäftigen kann."
Claus kritisiert zudem, dass potenziell zuständige politische Gremien wie der Sportausschuss des Deutschen Bundestags das Thema bislang noch nie auf ihre Agenda gesetzt hätten – und es dadurch verpassten, sich zumindest einen Überblick über die ausdifferenzierte, hoch-kommerzialisierte und nur in Teilen rechtsextreme Kampfsport-Landschaft zu verschaffen:
"Man kann mal abfragen, welche Bedürfnisse, welche Bedarfe an Förderung haben eigentlich die ganzen Gyms und Verbände des freien Marktes, wie viele Mitglieder haben die, wie viele gibt es davon und was tun die im Bereich von Prävention. So was hat natürlich auch mit politischer Anerkennung zu tun. Denn Prävention in einem Sportbereich zu tun, den man sonst weitestgehend meidet, ist sehr schlecht möglich."
Präventionsprogramme fördern
Obwohl es einige sportpolitische Hebel geben würde, um Einfluss zu nehmen: So könnten Präventionsansätze gefördert, ein eigenes Bundesprogramm gegen rechte Gewalt im Sport aufgelegt, die Eröffnung von Kampfsportgyms an staatliche Lizenzverfahren geknüpft und Trainerausbildungen standardisiert werden. Neben den Grünen wollen auf Deutschlandfunk-Nachfrage auch Mahmut Özdemir und Eberhard Gienger, die sportpolitischen Sprecher der Regierungsfraktionen SPD und Union im Bundestag, das Thema Rechtsextremismus im Kampfsport auf die Tagesordnung des Sportausschusses setzen. Ob noch in dieser Legislaturperiode? Unklar.
Klarer sind da schon die Erkenntnisse der Bundesregierung über die Hooliganszene: So sollen an zwei Anti-Corona-Politik-Demonstrationen in Leipzig neben Kampfsportlern auch rechtsextremistische Hooligans aus dem Umfeld der Fußball-Vereine 1. FC Lokomotive Leipzig und Chemnitzer FC teilgenommen haben.
"Wir können das nicht aus der Welt reden, dieses Problem gibt es", sagt Martin Ziegenhagen, Diplom-Pädagoge und seit März 2020 Anti-Rassismus-Beauftragter des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC: "Wir haben in Teilen unserer Fanszene ein rechtsextremes Potenzial. Dem müssen wir uns stellen."
"Wenn die Szene erstmal ausgeprägt ist, ist sie ein Faktor"
Mit harter sozialer Arbeit und über das vom Land Sachsen teilfinanzierte Präventionsprojekt "Lernort Stadion", mit dem Ziegenhagen nach der Pandemie politische Bildung für Jugendliche ins Chemnitzer Stadion bringen will. So soll verhindert werden, dass junge Menschen aus der Fußball-Fanszene überhaupt in den Sog von Rechtsextremen geraten. Zugleich warnt er jedoch vor zu hohen Erwartungen:
"Wenn eine Szene da ist und sich etabliert hat und immer größer ist und auch entsprechend schlaue Strukturen dahinterstehen. Davon müssen wir im Chemnitzer Raum leider sprechen, weil wir einen starken Zuzug von rechtsextremen Aktivisten erleben. Wenn sich diese Szene erstmal ausgeprägt hat, dann ist sie ein Faktor."
Nicht nur für Bundesregierung und Sportpolitiker und -politikerinnen ein warnendes Beispiel dafür, sich neuen Entwicklungen wie Rechtsextremismus im Kampfsport lieber zu früh als zu spät anzunehmen.