Peter Sawicki: Morgen konstituiert sich der neue Bundestag. Die SPD wird dort wohl die größte Fraktion in den Reihen der Opposition stellen. Wie gut ist die Partei aber für diese Rolle aufgestellt? Darüber haben wir vor der Sendung mit dem Politologen Jürgen Falter von der Universität Mainz gesprochen. Und die erste Frage war, ob so ein Neustart nach Maß aussieht.
Jürgen Falter: Nach Maß nicht, sondern das geht eigentlich weiter wie bisher. Das heißt, es holpert und es gibt Pannen im Vorfeld. Dass sich dann am Ende doch noch alles irgendwie richtet, das wird getrübt, einfach von dem Bild, das es gegeben hat, dass man sich nicht einig war und dass dann doch die beiden Kandidatinnen für das Vizepräsidentenamt des Bundestages zurückgezogen haben - ich nehme an, nach einer heftigen Selenmassage.
Thomas Oppermanns "Recht auf Dankbarkeit"
Sawicki: Schauen wir uns das Ergebnis von Thomas Oppermann mal an. 90 von 146 Stimmen hat er bekommen in der Fraktion. Kein gutes Ergebnis aus Ihrer Sicht?
Falter: Nein, das ist kein gutes Ergebnis - vor allen Dingen, wenn man sich überlegt, dass ja Thomas Oppermann ein gewisses Recht auf Dankbarkeit hat. Er ist ja abgelöst worden als Fraktionsvorsitzender. In einem Amt, das er überhaupt nicht schlecht gemacht hat, wo er die SPD gut vertreten hat im Bundestag, musste er gehen zu Gunsten eines anderen Personaltableaus. Und dann ist es schon in den Parteien üblich, dass man da eine gewisse Kompensation schafft, und die Kompensation für ihn sollte sein das Amt des Bundestagsvizepräsidenten. Das ist ja ein schönes Amt mit eigenem Büro und Dienstwagen und allem Drum und Dran. Dass er da nicht mehr Stimmen bekommen hat, zeigt doch, wie tief die Partei in sich gespalten ist.
Sawicki: Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Falter: Ich glaube, da gibt es verschiedene Aspekte, die sich kreuzen, Konfliktlinien. Die eine Konfliktlinie ist die zwischen links und rechts. Oppermann ist ja ganz eindeutig ein Mann der konservativeren SPD. Da wollten die Linken eigentlich gerne mal wieder eine Position besetzen. Dann hat er den riesen Nachteil, dass er keine Frau ist, und eigentlich sollte ja irgendwie paritätisch besetzt werden, ein bisschen stärker informell zu den Grünen, aber doch da ein Mann und dann kommt doch eine Frau hin. Das hat er auch durchbrochen, und ich glaube, das hat er beides gespürt in diesem Stimmergebnis.
"Nahles steht mindestens für zwei Frauenplätze"
Sawicki: Nun hätten die Gegenkandidatinnen, die dann zurückgezogen haben, Ulla Schmidt und Christine Lambrecht, aber auch nicht für eine personelle Neuausrichtung gestanden.
Falter: Nein! Eine personelle Neuausrichtung war das in keinem Fall. Aber das Amt des Bundestagsvizepräsidenten ist ja nun nicht gerade das geeignete Amt für eine personelle Neuausrichtung. Das macht man mit Parteipositionen. Das macht man mit dem Fraktionsvorsitz. Das macht man mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer, aber nicht mit dem Amt des Bundestagsvizepräsidenten. Das ist ja ein repräsentatives Amt. Das ist ja kein Amt mit Macht, in gar keiner Weise. Nein, ich glaube, da sollte man das nicht dran festmachen.
Sawicki: Es gibt ja jetzt einen neuen Parlamentarischen Geschäftsführer bei der SPD, möglicherweise auch bald einen neuen Generalsekretär. Wo liegt das Problem?
Falter: Das Problem ist, dass beide wiederum eher vom rechten Flügel der SPD kommen, dass die Linke sich dadurch nicht bedient fühlt und dass auch beides wieder Männer sind, keine Frau. Allerdings: Andrea Nahles macht das natürlich mehr als wett in der herausragenden Position als Oppositionsführerin im Bundestag. Das darf man auch nicht unterschätzen. Ich würde sagen, die steht mindestens für zwei Frauenplätze in dieser Hinsicht.
"SPD hängt sehr stark an ihrer Weltanschauung"
Sawicki: Sie hat ja jetzt selber auch gesagt, dass es um Befähigung gehen soll bei den zu vergebenen Posten. Martin Schulz hat erwähnt, von dem Proporzdenken müsste man sich lösen. Haben die beiden recht?
Falter: Ja, natürlich haben sie recht. Wenn man schlagkräftig werden will, dann muss ja mehrerlei gegeben sein. Es muss tatsächlich nach Befähigung besetzt sein. Es müssen die Besten jeweils für die Ämter gewählt werden. Der zweite Aspekt ist allerdings: Das kann man auch nur machen, wenn eine gewisse innere Einigkeit da ist, wenn die Flügelkämpfe nicht weiter vorangetrieben werden. Das schwächt immer das Bild einer Partei nach außen. So was können die Grünen sich leisten, bei der SPD ist es schon schwieriger, bei der CDU/CSU ginge es gar nicht.
Sawicki: Woran liegt es dann, dass es diese großen Flügelkämpfe gibt, die jetzt auch offensichtlich wieder hervorgetreten sind? An einzelnen Personen, oder ist das Denken in der Partei, sind die Denkstrukturen einfach immer noch zu verkrustet?
Falter: Das hat etwas mit den Traditionen der SPD zu tun. Die SPD ist ja eine Programmpartei, viel stärker, als es die Unions-Parteien beispielsweise sind. Sie ist eine Partei, die eine bessere Welt zu realisieren verspricht, und das seit 100 und fast 50 Jahren. Das heißt also eine Partei, die sehr stark hängt an ihrer Weltanschauung, und das zieht Menschen an, die selbst diesen Idealismus auch verkörpern. Andererseits hat die SPD allerdings immer regiert und mitregiert - nicht immer, aber sehr häufig -, und das erfordert einen gewissen Pragmatismus. Auf diese Weise sind diese beiden Flügel entstanden, die eigentlich schon aus den Flügelkämpfen des späten 19. Jahrhunderts her resultieren und die bis heute eigentlich in der Partei vertreten sind.
SPD kann gestärkt aus der Krise hervorgehen
Sawicki: Was bedeutet das jetzt für die Arbeit in der Opposition? Glauben Sie, dass das überwunden werden kann, oder werden die trotzdem weiter aufbrechen, diese Grabenkämpfe?
Falter: Die Grabenkämpfe werden immer mal wieder aufbrechen. Da allerdings keine Entscheidungen zu fällen sind, in dem Sinne, dass Regierungshandeln damit bestimmt ist, ist das weniger tragisch. Das heißt, die SPD kann, wenn sie geschickt ist, getrennt marschieren, vereint schlagen. Sie kann bei bestimmten Themen das soziale Profil stärker herauskehren, die Gerechtigkeitsvorstellungen sehr stark betonen. Auf anderen Gebieten kann sie dann sagen, wir sind "Majesty's Loyal Opposition", das heißt dann auch staatstragend, regierungstragend argumentieren. Ich glaube, wenn das geschickt gemacht wird, stärkt das die SPD sehr.
Sawicki: Wie könnte das passieren, dieses programmatisch geschickte neue Aufstellen?
Falter: Das muss natürlich entsprechend administriert werden. Das obliegt sehr stark der Führung durch Andrea Nahles, was die Fraktion angeht.
"Nahles wird Schulz weit in den Schatten stellen"
Sawicki: Was ist mit Martin Schulz? Ist er da der Richtige?
Falter: Der Martin Schulz ist jemand, der integrieren kann, soweit man sehen kann, gewisse Begeisterungsfähigkeit in der Partei durchaus wecken kann. Ich glaube, was die Partei angeht, wird er da wahrscheinlich eine positive Rolle spielen. Der Punkt ist nur der, dass die Hauptarbeit der SPD nun künftig als Opposition geleistet wird in der Fraktion. Ich bin völlig sicher, dass über die Jahre hinweg Andrea Nahles Martin Schulz weit in den Schatten stellen wird.
Sawicki: Wird sie ihn auch ablösen in dieser Legislaturperiode als Parteichefin?
Falter: Sie wird wahrscheinlich die nächste Kanzlerkandidatin werden, was viel wichtiger ist. Ob das dann eine Parteichefin ist oder nicht, das ist nicht so ganz klar. Das wird sich herausstellen. Aber sie hat eigentlich die mit Abstand beste Machtposition, die man sich vorstellen kann in der jetzigen Situation, in der die SPD ist.
Sawicki: Was erwarten Sie inhaltlich von Andrea Nahles?
Falter: Ich bin ganz sicher, sie ist eine relativ pragmatische Frau, dass sie versuchen wird, einen Kurs der Mitte zu fahren, der einerseits polarisiert gegenüber der Regierung und integriert, was die Fraktion angeht, was aber auch bedeutet, dass sie dann den Flügeln und den einzelnen Gruppierungen jeweils die Möglichkeit geben muss, sich zu entfalten, auch in der parlamentarischen Rede und in der parlamentarischen Außenvertretung.
Sawicki: Glauben Sie, dass Nahles beide Flügel im Griff haben kann?
Falter: Ich glaube schon, dass sie am ehesten die ist, die das kann, denn sie kommt ja von ziemlich weit links in der SPD. Das heißt, sie hat die Tour sozusagen durch den Flügel gemacht und ist in der Mitte gelandet. Als Arbeitsministerin hat sie außerordentlich effizient gearbeitet, hat auch viel Anerkennung bekommen, auch vom politischen Gegner oder, sagen wir mal in diesem Falle, vom Koalitionspartner. Sie hat die Dinge durchgesetzt, die sie wollte, und das sind Fähigkeiten, die ihr auch im Fraktionsamt mit Sicherheit nutzen werden.
Sawicki: Der Politikwissenschaftler Professor Jürgen Falter von der Universität Mainz.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.