Seine Forschungen beschäftigten sich mit den Auswirkungen unserer Wahrnehmung und Mobilität auf das Planen und Bauen. Er taufte sein neues Fach Spaziergangswissenschaft, Promenadologie oder englisch "Strollology". Dieses Nebenfach, wie er es selbst bescheiden nannte, gibt heute entscheidende Impulse für unseren Umgang mit Städten und Landschaften, für zukünftige Architektur und Planung. Mit Spaziergängen, immer schön programmatisch, gehen Promenadologen ihren Fragen nach. Lucius Burckhardt war Dozent im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel, wo er 1973 - 1997 lehrte.
Er kombinierte Spaziergänge im Kasseler Umland mit der Lektüre über die erste Expedition Captain Cooks nach Tahiti. Kümmerliche Verkehrsinselpflänzchen wurden mit kleinen Steckschildern und lateinischen Bestimmungsnamen versehen wie "Poa annua L., das Einjährige Rispengras". Im Seminar "Wahrnehmung & Verkehr" zogen Burckhardt und seine Studenten zu Fuß durch die Straßen von Kassel - jeder eine Windschutzscheibe vor sich her tragend.
Denn Spaziergangswissenschaftler interessieren weniger die schönen Aussichten als vielmehr Sichtweisen und das Beziehungsgeflecht, das Müßiggänger mit ihrer Umwelt verbindet. Der Verleger Martin Schmitz, geboren 1956, schloss sein Studium bei Burckhardt mit einer Diplomarbeit über das ambulante Essen in der Stadt ab, 1983 erschienen im Zürcher Unionsverlag unter dem Titel "Currywurst mit Fritten - über die Kultur der Imbissbude" (mit Birgit Knop). 2014 veranstaltete Martin Schmitz in Kassel eine Lucius Burckhardt Convention.
Querfeldein denken mit Lucius Burckhardt (1/3)
Von der Urbanismuskritik zur Spaziergangswissenschaft
Von Martin Schmitz
"Heute Abend seid ihr alle zu einem Fest eingeladen. Dort bekommt ihr euer Diplom, und morgen fangen wir an zu studieren."
Mit diesen Worten begrüßte uns Lucius Burckhardt zu Beginn meines Studiums im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung an der Gesamthochschule in Kassel. Das war 1976. Seit drei Jahren lehrte der Schweizer Soziologe bereits als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme in einem reformierten Studiengang, der erstmals alle planenden Berufe unter einem Dach versammelte. Dieser Fachbereich, der alle Disziplinen der Umweltgestaltung beherbergte, war wie geschaffen für ihn.
Der studierte Nationalökonom, der als Vordenker der Urbanismuskritik der 1960er-/70er-Jahre gilt, hat zeit seines Lebens über unsere Wahrnehmung von Stadt und Land sowie deren Auswirkungen auf das Planen und Bauen geforscht. In den 1980er-Jahren versammelte er seine Arbeit unter einem Dach: Er nannte sein Fach Spaziergangswissenschaft, Promenadologie oder englisch auch Strollology. Über sich und seine Arbeit sagte er anlässlich seines 60. Geburtstages:
"Ich bin Soziologe, mache aber ein bisschen was anderes, als die meisten Soziologen. Soziologie befasst sich im wesentlichen mit dem Verhalten der Bevölkerung - speziell das der Unterschichten. Ich mache etwas anderes. Ich befasse mich mit den Entscheidungsmechanismen, das heißt, wie kommen eigentlich die Leute, die befehlen dürfen, zu ihren Entschlüssen? Was mich also interessiert und womit ich mich beschäftige, das sind die Einwirkungen des Menschen auf die Umwelt. Wie beschließt man eigentlich, was man in der Umwelt verändert? Wir haben dabei eine Spiegelsituation: Auf der einen Seite wirkt der Mensch auf die Umwelt. Auf der anderen wirkt die veränderte Umwelt zurück auf den Menschen.
Das geht aber nicht so direkt, sondern man muss noch eine dritte Instanz einführen: Das wäre die Politik, und es ergibt sich eine Figur, ein Dreieck: Der Mensch steht der Umwelt gegenüber - das ist die Spiegelsituation - und wir führen noch die Politik ein. Das ist ein Sammelbegriff für Verschiedenes: Man kann sagen, dahinter stehen Fachleute, Architekten, Verkehrsplaner, Spezialisten und wirken auf die Politik. Politik trifft ein, sie wird verändern und sie verändert zuerst die Auffassung der Menschen über die Umwelt. Die Mittel, mit denen sie arbeitet, sind Lösungen. Das heißt, ein Politiker tritt auf, er sucht sich einen Übelstand - die Welt ist ja voller Übelstände - und er sucht eine Lösung. Die macht er den Menschen begreiflich, dass man so die Umwelt verändern kann. Da dahinter Architekten und Verkehrsplaner stehen, ist ja die Lösung meistens ein Bau. Das komplizierte Problem, was man da verändern und lösen will, das löst man mit einer Straßenverbreiterung oder einem Bau."
"Wie kommen eigentlich die Leute, die befehlen dürfen, zu ihren Entschlüssen?"
Lucius Burckhardt wurde 1925 in Davos geboren und wuchs als jüngster Sohn in einer Arztfamilie auf. 1943 begann er sein Studium in Basel, zunächst Medizin, dann wechselte er zur Nationalökonomie und belegte Philosophie und Kunstgeschichte. Er beendete sein Studium 1955 mit einer Dissertation über die Rolle der politischen Parteien bei der Gründung des italienischen Nationalstaates, die 1959 unter dem Titel "Reise ins Risorgimento" bei Kiepenheuer & Witsch in Köln erschien. Zuvor heiratete er Annemarie Burckhardt-Wackernagel, die ihn von da an stets begleitete und mit ihm bis zu seinem Tod 2003 zusammenarbeitete.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in Basel 1949 der sogenannte "Großbasler Korrektionsplan" präsentiert; ein autogerechter Umbau des - im Gegensatz zu vielen deutschen Städten - intakten Basel mit seiner gotischen Innenstadt, der historischen Bebauung und dem engen Straßenverlauf. Das Auto begann mit der Eroberung der Städte und der neue Individualverkehr forderte die Erreichbarkeit der Innenstädte und Parkplätze vor den Geschäften. Nun wollte jeder sein Fahrzeug am Marktplatz parkieren und einkaufen. Die Politiker und Stadtplaner waren völlig überfordert.
Diese Aufgabe hatte es zuvor nie gegeben. Sie standen vor dem Problem, gleichzeitig an vielen Stellen in die bestehende Substanz und die sozialräumlichen Zusammenhänge einer Stadt eingreifen zu müssen, um das neue System des Individualverkehrs zu integrieren. Dementsprechend sah der Korrektionsplan den Abriss ganzer Häuserzeilen zur Verbreiterung der Straßen vor. Am hilflosesten allerdings waren die Bewohner der Häuser, die dem Stadtumbau weichen mussten.
"Wenn die Zerstörung der Altstadt 30 Jahre aufgehalten werden kann, so ist alles gewonnen."
Die Dramatik dieses Moments hat Lucius Burckhardt als einer der wenigen zu seiner Zeit als Student erkannt. Er schrieb im Oktober 1949 in der Basler Studentenzeitung unter dem Titel "Altstadt in Gefahr":
"Heute sehen wir mit Besorgnis, dass Staat und Wirtschaft im Begriff sind, einen Schritt zu tun, dessen Folgen sie offensichtlich nicht übersehen, der zugleich zu großzügig und zu kleinlich ist, und den sie später bitter bereuen. Leider wird auch in der Tagespresse keine kritische Stimme laut, die Kommentatoren scheinen von der Verkehrspsychose angesteckt worden zu sein [...]. Wenn die Zerstörung der Altstadt aufgehalten werden kann, bis der erste Nachkriegsautorausch verflogen ist, und die Entwicklung der Verkehrsmittel wieder ein Stück weiter übersehen werden kann, bis der gute Geschmack etwas nachgewachsen und die Skala der Wertungen wieder korrigiert, bis die Bombenverluste Mitteleuropas auch dem Basler Unterbewussten bewusst geworden sind, - wenn die Zerstörung der Altstadt, sagen wir, dreißig Jahre aufgehalten werden kann, so ist alles gewonnen."
Lucius Burckhardt hielt die Planung für eine Zerstörung seiner Heimatstadt. So wurde das kritische Engagement zur Basis seiner Arbeit. Von da an dachte er über das Planen und Bauen in einer Demokratie nach, forderte die Beteiligung der Bewohner und kritisierte das politische Beschlussfassungssystem - viele Themen der bevorstehenden Urbanismusdiskussion der 1960er-Jahre. Was in Basel im kleineren Maßstab begann, sollte bald ganz Europa erfassen; nichts veränderte die Städte und Landschaften mehr, als die Folgen der Automobilisierung.
Als unmittelbare Reaktion auf die Vorhaben der Basler Verantwortlichen folgte - neben allen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf städtischer Ebene - 1953 die Publikation "Wir selber bauen unsre Stadt", die Lucius Burckhardt zusammen mit seinem Kommilitonen Markus Kutter verfasste. Es gelang ihnen, den Architekten und Schriftsteller Max Frisch für das Vorwort zu gewinnen, der wesentlich bekannter war als die beiden jungen Männer und sich schon häufiger äußerst kritisch zu Architektur und Planung geäußert hatte. Nach dieser ersten Publikation erschien zwei Jahre später das Büchlein "achtung: die Schweiz", für das alle drei, Lucius Burckhardt, Max Frisch und Markus Kutter als Verfasser zeichneten, und das - vor allem in der Schweiz - 1955 eine der ersten, größten und heftigsten öffentlichen Auseinandersetzungen über Planung auslöste. Man wünschte sich die Autoren in die Sowjetunion. Auch in der Neuen Zürcher Zeitung wurde der Begriff Planung mit Planwirtschaft verwechselt. Dabei hatten die drei Autoren lediglich darüber nachgedacht, wie unter den neuen Bedingungen des Individualverkehrs eine neue Stadt aussehen sollte.
"Der Stadtplan geht uns alle an"
"Wer plant die Planung?" fragte Lucius Burckhardt einige Jahre später. Die Reflexion der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen von Architektur und Planung wurde für ihn zum Beruf, der über viele Stationen führte und wechselnde Perspektiven ermöglichte. Die Proteste vom Anfang der 1950er-Jahre gegen die Basler Stadtplanung wurden auch im zerstörten Nachkriegsdeutschland wahrgenommen. Am 24. Februar 1955 trat das Schweizer Autorentrio auf der Tagung "Der Stadtplan geht uns alle an" in Dortmund auf, in der es darum ging, wie man die Öffentlichkeit an Planung und Wiederaufbau beteiligen könne.
"So war es beabsichtigt - doch im Verlauf des Gesprächs stellte sich bald heraus, dass die Mehrzahl der Tagungsteilnehmer keineswegs geneigt war, die Öffentlichkeit in ihre Karten und Pläne schauen zu lassen. Gelegentlich hatte man den Eindruck, als sollte der Sinn des Gesprächs in sein Gegenteil verkehrt werden. Aus dem beabsichtigten Appell an die Öffentlichkeit wurde eine Demonstration der Planungsautokratie gegen die Öffentlichkeit, als der Oberbaurat Schweizer aus Freudenstadt großen Applaus dafür erhielt, dass er laut und ungeniert forderte, man müsse 'gegenüber diesen Leuten, die einem dreinreden wollen', eine kraftvolle Haltung zeigen, man müsse 'diese Leute überfahren' und 'ohne Rücksicht auf Verluste eine Tat vollbringen'."
So kommentierte Wend Fischer die Dortmunder Tagung in der Zeitschrift "werk+zeit" des Deutschen Werkbunds aus Düsseldorf und schrieb weiter:
"Diese und andere Fürsprecher der Planungsautokratie machten es sich recht einfach, indem sie die 'Öffentlichkeit' schlechthin mit dem berühmten, im Verlauf des Gesprächs häufig genannten 'Lieschen Müller' gleichsetzten. Gegen diese unzulässige Simplifizierung wandte sich zuerst ein schweizerischer Teilnehmer: 'Ich würde es bedauern', sagte Lucius Burckhardt aus Basel, 'wenn der Kongress die Öffentlichkeit nur als eine anonyme Masse betrachten würde und seine Aufgabe lediglich darin sähe, eine möglichst geeignete Technik zum Beeinflussen und Überreden dieser Masse zu entwickeln'. Es gehe vielmehr darum, dass 'öffentlich' verhandelt werde, was heute vielfach in den 'Kliquen und Klüngeln der Stadtplaner und Architekten' gemeinschaftlich mit den pseudo-öffentlichen Funktionären der verschiedenen Interessengemeinschaften von Kaufleuten, Verkehrsteilnehmern, Hausbesitzern usw. verabredet werde."
Nach der Tagung blieb Lucius Burckhardt für einige Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dortmunder Sozialforschungsstelle der Universität Münster in der Stadt.
"Das Ruhrgebiet öffnet dem Fremden die Augen für die Wirklichkeit, man dachte an die Männer, die an den Feueröfen stehen und die sich durch jahrelang eingeübte Geschicklichkeit vor der Gefahr schützen. Was mögen das für Kerle sein? Wie leben sie? Was ist ihr Verhältnis zur Familie? Gerade all dieses sollte mich meine 'wissenschaftliche Mitarbeit' lehren."
Design ist unsichtbar
Die erste Lehrtätigkeit führte Lucius Burckhardt 1959 als Dozent an die legendäre Hochschule für Gestaltung in Ulm, für ihn eine wichtige Zeit, weil sich die Diskussion über Design nach dem Weggang von Max Bill nun nicht mehr nur auf das nur Sichtbare, ein "Die gute Form" beschränkte, sondern soziale und gesellschaftliche Themen mit einbezogen wurden. Als Redakteur der Zeitschrift "werk" präsentierte er anschließend zehn Jahre, von 1962 bis 1972, die zeitgenössische internationale Architektur und Planung, junge Architekturbüros und neue theoretische Ansätze. Zeitgleich lehrte er auf dem Lehrcanapé (statt Stuhl) an der ETH Zürich Soziologie für Architekten - immer an der Seite eines "richtigen" Architekten, so verlangte es die Studienordnung. Aber man hatte die Notwendigkeit einer Einbeziehung gesellschaftlicher und soziologischer Themen erkannt. Die Trabantenstädte der Architekten hatten sich völlig anders entwickelt und waren vielerorts zu sozialen Problemvierteln herabgesunken.
Lucius Burckhardt hat in vielen Rollen und Berufen, als Professor, als Vorsitzender des Deutschen Werkbundes oder als Gründungsdekan des Fachbereichs Gestaltung an der Bauhaus Universität in Weimar seine Forschungen vielschichtig und in verschiedene Richtungen vorangetrieben.
Design ist unsichtbar, schrieb er 1980. Zunächst klingt diese Formel paradox, denn man kann die Dinge, denen sich Gestaltung widmet, ja sehen. Den Wohnungssuchenden in einer Stadt interessiert weniger die äußere Form der Architektur, sondern unsichtbare Komponenten wie Mietpreis oder Hausordnung. Lucius Burckhardt vertrat die Auffassung, das beste Design einer Straßenbahn sei, wenn sie auch nachts führe. Hinter den sichtbaren Objekten existiert eine unsichtbare soziale Dimension, Fahrpläne oder Gesetze, die mitgestaltet werden müssen, damit die sichtbaren Dinge zusammen funktionieren.
"So kann man die Welt als eine Welt von Gegenständen auffassen und sie einteilen in - zum Beispiel - Häuser, Straßen, Verkehrsampeln, Kioske [...] Wir können uns aber die Welt auch anders einteilen - und wenn ich die Pattern Language recht verstanden habe, so hat das Christopher Alexander dort versucht. Sein Schnitt liegt nicht zwischen Haus, Straße und Kiosk, um bessere Häuser, Straßen und Kioske zu bauen, sondern er scheidet den integrierten Komplex Straßenecke gegen andere städtische Komplexe ab; denn der Kiosk lebt davon, dass mein Bus noch nicht kommt und ich eine Zeitung kaufe, und der Bus hält hier, weil mehrere Wege zusammenlaufen und die Umsteiger gleich Anschluss haben. Straßenecke ist nur die sichtbare Umschreibung des Phänomens, darüber hinaus enthält es Teile organisatorischer Systeme: Buslinien, Fahrpläne, Zeitschriftenverkauf, Ampelphasen usw. Auch diese Einteilung der Umwelt gibt einen designerischen Impuls. Aber dieser bezieht die unsichtbaren Teile des Systems ein."
Beraten statt Lösen
Wie Architektur, Planung und Gestaltung gelehrt und gelernt werden kann, das beschäftigte den Pädagogen Lucius Burckhardt immer wieder. Nach Auflösung der DDR kam aus dem neuen thüringischen Bildungsministerium der Auftrag, das Studium der Gestaltung an der Bauhaus Universität in Weimar neu zu organisieren.
"Bloß kein neues Bauhaus! Manche werden es nicht verstehen. Und doch ist es so selbstverständlich: Wer eine neue Ausbildungsstätte gründet, der hat an die Studenten und Studentinnen zu denken, an ihren künftigen Abschluss und an ihre Berufschancen. Und nicht an anderes. Nicht etwa daran, die Tradition des Bauhauses wieder herzustellen oder die Auseinandersetzung zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu fördern, nicht daran, die Kunst, das Produktdesign, die Grafik vom gegenwärtigen postmodernen Schnickschnack zu reinigen und was dergleichen sonst noch genannt wird. [...] Ziele und Methoden der Berufsausbildung werden sich ändern.
Deshalb forcieren wir in Weimar vor allem Projektunterricht. Damit meinen wir Unterricht, der von einer Aufgabenstellung ausgeht und den Studenten von da an das notwendige Wissen vermittelt und zu den notwendigen Fingerfertigkeiten führt. Damit negieren wir bewusst eine der großen Traditionen des Bauhauses. [...] Wir denken uns unsere Projekte als 'Problematisch'. Das heißt, dass die Projekte bislang noch nie gelöst wurden; sie haben vielleicht auch gar keine Lösung.
Unsere Welt krankt ja an den untereinander nicht kompatiblen Lösungen: Die sauberen Lösungen der Ingenieure verschmutzen die Umwelt. Die versprochene Lösung des Verkehrsproblems verstopft unsere Straßen. Die moderne Küche treibt die Bewohner ins Restaurant. Wir denken, dass Designer und Grafiker in Zukunft eher 'Consultants' denn Problemlöser sind. Die Beratung - das Nachdenken über Zusammenhänge und künftige Wandlungen, Veränderungen im Kundenverhalten und dergleichen - ist wichtiger als eine 'perfekte' Lösung."
Anfänge der Spaziergangswissenschaft
Anfang der 1980er-Jahre tauchte der Begriff "Spaziergangswissenschaft" in der Burckhardtschen Forschung zum ersten Mal auf. Und 1990 konnte sich das neue Fach wissenschaftlich etablieren:
"Der Präsident der Kasseler Hochschule hat unfreiwillig daran teilgenommen. Es ging darum, dass die Universität in die Deutsche Forschungsgemeinschaft aufgenommen werden sollte. Dafür musste man für den Antrag seine Forschungsschwerpunkte angeben. Das war im Jahr 1990 und ich habe in meinem Antrag von den Spaziergangswissenschaften gesprochen. Der Präsident sagte dann, dass es sehr schwierig sei für ihn. Trotzdem galt es als Forschungsschwerpunkt."
In den 1960er-/70er-Jahren wurde der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in Form von Autobahnen und Straßen unbeirrt vorangetrieben - trotz Urbanismuskritik. Unsere Mobilität erreichte in den 1980er-Jahren einen vorläufigen Höhepunkt und nahm bis heute in Europa ein nie gekanntes Ausmaß an. Auch die Menge der Informationen und Botschaften, die die Medien täglich auf uns aussenden, nahm und nehmen immer weiter zu. Es sind diese gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse, die zu Themen der Spaziergangswissenschaft wurden. Lucius Burckhardt führte in seinem neuen Fach Mobilität, Wahrnehmung und Gestaltung zusammen.
"Wir sind mobil wie nie zuvor, und das hat Folgen für unsere Wahrnehmung."
"Wir führen eine neue Wissenschaft ein: die Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft. Sie gründet sich auf die These, dass die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann aufgrund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben. Der klassische Spaziergang geht vor die Mauern der Stadt, in die Hügel, an den See, auf die Klippen. Der Spaziergänger durchquert eine Reihe von Orten [...] Am Schluss, nach Hause zurückgekehrt, erzählt der Spaziergänger, was er gesehen hat. [...] Dabei beschreibt er keinen der durchquerten Orte, den Wald, das Flusstal, schon gar nicht die Fabrik oder den Müllplatz, sondern er beschreibt integrierte Landschaftsbilder. Die Wahrnehmung beruht auf dem kinematografischen Effekt des Spazierengehens."
Das Spazierengehen ist die "natürlichste" und einfachste Art, sich eine Landschaft oder eine Stadt zu erschließen. Allerdings spazieren wir heute nur noch selten durch die Welt; selbst wenn wir wandern wollen, steigen wir zunächst einmal ins Auto, das uns in den Wald oder auf den Berg bringt. Hochgeschwindigkeitszüge rücken Städte und Regionen näher zusammen, das Flugzeug bringt uns in wenigen Stunden zu fernen Kontinenten. Wir sind mobil wie nie zuvor, und das hat Folgen für unsere Wahrnehmung: Wir sehen die Welt im Schnelldurchlauf. Entsprechend unscharf sind die Bilder und Vorstellungen in unseren Köpfen. Wahrnehmung beruht auf dem kinematografischen Effekt eines Spaziergangs, wie es schon die englischen Landschaftsgärtner mit ihren Rundwegen und angelegten Perspektiven wussten. Einzelne Sequenzen des Gesehenen werden im Kopf abgespeichert und wir sprechen, nach Hause zurückgekehrt, von typischen Landschaften und Regionen.
"Landschaft wahrzunehmen muss gelernt sein. Das gilt sowohl historisch wie individuell. Unser Kulturkreis wurde befähigt, Landschaft wahrzunehmen, weil die römischen Dichter, weil die Maler der Spätrenaissance, weil die englischen Landschaftsgärtner Landschaft darzustellen verstanden. Landschaft also ist ein kollektives Bildungsgut. Diesen Lernprozess müssen wir aber auch individuell durchmachen. Natürlich braucht es dazu nicht die Lektüre römischer Dichter, den Besuch des Gemäldemuseums: Groschenromane, Zigarettenreklamen, Schokoladepackungen zeigen uns die kollektiven Produkte des kulturellen Prozesses der Bildung und Entdeckung der Landschaft. Jeder also hat sich Wahrnehmungsfilter zur Identifizierung eines Ortes als Landschaft angeeignet. Aber natürlich sieht jeder nur, was er zu sehen gelernt hat."
"Wer schnell ist, hat keinen Blick fürs Detail"
Die höhere Mobilität - die Spaziergangswissenschaft beschäftigt sich mit allen Fortbewegungsarten - führt dazu, dass wir über riesige Gebiete kompakte Aussagen treffen, etwa: So ist es in Skandinavien, das ist typisch chinesisch. Der Autofahrer, der in wenigen Stunden das Burgund durchquert hat, sagt, dass es auch nicht mehr das sei, was es mal war. Aber woher weiß er das? Gesehen hat er nur, was an der Windschutzscheibe vorbeigehuscht ist. Wer schnell ist, hat keinen Blick fürs Detail.
Wohin wir auch reisen: Wir bringen unsere Bilder schon mit, wobei es eine große Sehnsucht nach Idyllen gibt. Die Reiseindustrie hat sich in ihrer Werbung längst darauf eingestellt.
"Wir haben es also offenbar mit zwei Bewegungen zu tun, was die Sache sehr kompliziert: einerseits mit der Veränderung des konkreten Raumes, wie immer dieser mess- oder darstellbar sei, und andererseits mit der Entwicklung und Veränderung unserer Landschaftswahrnehmung - und daraus nun unser Nachdenken: Könnte es sein, dass unsere Landschaftswahrnehmung in dem Sinne veraltet ist, dass sie mit der Veränderung der Landschaft heute nicht mitgekommen ist?"
Unter Ferien auf dem Bauernhof verstehen wir nicht den Aufenthalt mit 20.000 Mastschweinen. Vor einigen Monaten fischte ich einen Prospekt aus dem Briefkasten, der ein oder zwei Wochen Sommerurlaub mit Sonne, Strand und Meer versprach. Nicht ungewöhnlich, und doch war es seltsam: Die Pauschalangebote verrieten nicht, in welches Land die Reise gehen sollte! Das hätte man früher für einen Druckfehler gehalten. Heute jedoch spielt scheinbar die Geografie bei der Wahl des Ferienortes nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen Sonne, Strand und Meer - klischeehafte Vorstellungen von einer Bilderbuchlandschaft und einer Bilderbucherholung. Gerne werden auch Landschaften mit geliehenen Bildern und touristischen Vorzügen aufgepeppt: So wird der Aufenthalt am bayerischen Königssee als "Fjord-Urlaub" vermarktet, eine Hotelanlage im türkischen Antalya wirbt damit, ein "Klein-Amsterdam" zu sein. Ski fahren in der Wüste bei Dubai und ayurvedische Anwendungen mit japanischer Teezeremonie in den Tiroler Alpen, das ist heute ganz normal.
"Nie hat man sich so sehr um die Ästhetik der Umwelt gekümmert wie heute; nie waren so viele Kommissionen mit Bewilligungsverfahren beschäftigt, nie gab es so potente Vereinigungen zum Schutze der Umwelt, der Landschaft, der Heimat, der Denkmäler, noch nie war es so schwierig, einen Neubau in eine historische Umgebung zu setzen oder an eine Stelle, wo noch Reste früherer Gärten oder Landwirtschaft zu sehen sind. Aber trotz aller Schutzbestimmungen, Verfahren und abgelehnter Baugesuche wächst ständig die Klage über die Verhässlichung der Umwelt und die Zerstörung der Landschaft."
Die Sehnsucht nach intakten Städten und idyllischen Landschaften hat ebenso unseren Alltag und die zeitgenössische Planung erreicht. Nachdem 30 Jahre umfangreiche Zerstörungen durch Architektur und Planung vorgenommen wurden, bauen die Frankfurter am Main zwischen Dom und Römer eine neue Altstadt, ein Stück Italien entsteht am Berliner Tiergarten im Investorenstil und Schlösser ohne Prinzen und Prinzessinnen werden gebaut. Allesamt Ziele unserer Reisen mit dem Navigationsgerät. Viel zu selten weichen wir aber auf dem Weg von A nach B von der Strecke ab, viel zu selten verlassen wir den virtuellen Raum der Postkarten- und Prospektwelt.
"Hinschauen - das tun wir oft schon gar nicht mehr. Stadtplanung, Verkehrsplanung, Soziologie - sind es nicht Schreibtischwissenschaften? Die Spaziergangswissenschaft sucht den Ort und das Lebendige auf, versucht sich darin, das Betrachten wiederzuentdecken. Betrachten heißt, neue Blickwinkel erschließen, Sehweisen ausprobieren, ungewohntes wahrnehmen, störende Elemente aufdecken, Fehler machen und bei sich selbst bemerken. Spaziergangswissenschaft will ein anderes Verständnis von Zeit und Raum gewinnen. Spazierengehende Menschen sind schon durch den Gebrauch ihrer Füße langsamer - und da sie gehen, weil sie dazu Lust haben, und nicht, um anzukommen, sind sie zeitlich unberechenbar. Raum sieht die Spaziergangswissenschaft als Konstrukt der Wahrnehmung - also als vieldeutig."
Wie Fallschirmspringer landen wir an bestimmten Orten der Metropolen. Nach einer U-Bahnfahrt in Paris stehen wir direkt in den Tuilerien, einem Park, dessen Bedeutung sich eigentlich nur mit dem Weg dorthin erschließt und einmal architektonisch auch so geplant war. Man sieht die Zusammenhänge nicht mehr. Des Öfteren fragen wir uns: Sind wir schon auf dem Land oder noch in der Stadt? Der Unterschied ist weitgehend aufgehoben.
"Schauen wir uns in jenen unendlichen Zonen um, welche wir die 'Metropole' nennen können. Es sind die Zonen, wo die Stadt gerne Land sein möchte, wo jeder, ob er nun ein Wohnhaus oder eine Fabrik errichtet, sich mit möglichst viel Grünem umgibt, und anschließend die Zonen, wo das Land gerne Stadt werden möchte, wo jeder Bürgermeister einer Ortschaft einen Investor sucht, der ihm ein Hochhaus beschert oder mindestens einen Bahnhof mit einer unterirdischen Ebene für die Schiene, einem Fußgängergeschoss und einem Parkhochhaus. - Und nun meine Feststellung: In diesen, von den meisten Menschen bewohnten und besuchten Zonen unserer Lebenswelt ist der promenadologische Kontext, der zum Verständnis des Gesehenen führt, zusammengebrochen."
In diesem Sinn gibt die Spaziergangswissenschaft einen gestalterischen und planerischen Impuls.
"Wir sind die erste Generation, die eine neue, eine promenadologische Ästhetik aufbauen muss. Promenadologisch deshalb, weil der Anmarschweg nicht mehr selbstverständlich ist, sondern weil er im Objekt selbst, darstellend, reproduziert werden muss. Diese mehrschichtige Aussage, die ein Bau, oder im andern Fall, eine gärtnerische Anlage oder eine gepflegte Landschaft erbringen müsste, kann nicht mehr durch den Geniestreich des Schöpfers erbracht werden. Die Aussage des potenten Architekten 'Wo kein Ort ist, kreiere ich selber den Ort' reicht nicht aus; genügend solche ästhetische Kakteen stehen schon herum, ja eben sie sind es, die zu der vielfach beklagten Verhässlichung der Umwelt entscheidend beigetragen haben."
Mit der Kritik an der Basler Stadtplanung 1949 begann die Forschung von Lucius Burckhardt. Sie bereitete die Urbanismusdiskussion der 1960er-/70er-Jahre vor. Mit der Promenadologie führte er die kritische Auseinandersetzung mit der Architektur und Planung weiter, und die ist mehr als zehn Jahre nach seinem Tod aktueller denn je.