"Die Sozialgeographie, insbesondere die Stadtgeographie, die moderne Statistik, die Computertechnik, die Systemtheorie, sie alle haben in kurzer Zeit unsere Fähigkeit zu planen stark erweitert. Man sollte denken, dass wir einem goldenen Zeitalter entgegen gehen, in dem uns alles systematisch geplant und durchgeführt wird, gelingen muss." Die Radiodokumente bilden das Spektrum seines Schaffens ab. Das Gespräch "Die große Landzerstörung" mit Wolfgang Pehnt nahm 1989 einen Rückblick auf kulturelle Diskussionen der letzten vierzig Jahre vor und fragte nach den Anfängen der Ökologie-Debatte. Landschaft entsteht im Kopf. Warum ist Landschaft schön? Aber wie sehr ist unsere Wahrnehmung kulturell vorgeprägt?
In dem Gespräch "Bergsteigen auf Sylt" mit Nikolaus Wyss sagte Lucius Burckhardt 1990: "Wir stehen vor einer neuen Situation. Heute gibt es nicht mehr die eindeutige Polarisierung in Stadt oder Land. Heute finden wir in allen Schattierungen nur eines, die Metropole. Dabei handelt es sich um eine Stadt, die nie aufhört", (erschienen in der Zeitschrift bauwelt).
Radioaufnahmen und Gespräche 1973-1989-1990
Auch im dritten Teil der Lucius-Burckhardt-Reihe geht es um die Reflexion der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen von Architektur und Planung sowie um die Spaziergangswissenschaft. Diese Sendung präsentiert Radioaufnahmen aus den Jahren 1973 und 1989, die im Deutschlandfunk gesendet wurden, sowie das Gespräch "Bergsteigen auf Sylt". Lucius Burckhardt las 1973 seinen architektursoziologischen Text "Wer plant die Planung?" im Deutschlandfunk.
Wer plant die Planung? Lucius Burckhardt (DLF 1973)
"Mehrere in rascher Entwicklung befindliche Wissenschaftszweige unterstützen den Fortschritt der Planungstheorie. Die Sozialgeografie, insbesondere die Stadtgeografie, die moderne Statistik, die Computertechnik, die Systemtheorie, sie alle haben in kurzer Zeit unsere Fähigkeit zur Planung stark erweitert. Man sollte denken, dass wir einem goldenen Zeitalter entgegengehen, in dem uns alles, was systematisch geplant und durchgeführt wird, gelingen muss. Werfen wir aber einen Blick auf unsere Städte, auf die unbeholfenen Straßenkorrektionen, auf die überteuerten Wohnmieten sogenannter sanierter Quartiere, auf die Vorstädte und Vororte mit ungenügender Versorgung, so fragen wir uns: Wer plant denn die Planung, die so versagt? Wer sind denn die Techniker, die sogar auf dem technischen Gebiet Ungenügendes leisten? Die Planung ist niemals selbstständig, sie ist abhängig von einem gesellschaftlichen und politischen Rahmen, der bestimmt, was geplant wird und, wie wir noch sehen werden, auch, wie geplant wird. Das ist nur natürlich, denn es gibt keine objektive oder wissenschaftliche Methode, mit der man feststellen kann, was geplant werden soll. Ob eine Gemeinde eine vorbildliche Altersversorgung oder lieber eine Badegelegenheit für die Jugend planen soll, darüber kann nur der politische Konsens, nicht aber der Planer befinden. Beide Projekte sind ebenso wohl nötig wie entbehrlich und neben ihnen gibt es noch vieles, was auch notwendig wäre: eine Mensa für die Schüler, eine Poliklinik, eine neue Buslinie oder gar ein Ortsmuseum. Unter den zahlreichen Mängeln, mit welchen unsere Umgebung behaftet ist, wählen die Politiker einzelne aus und begeben sich damit in die Arena, treten an zum Wettlauf um Stimmen. Nur diejenigen Übelstände, die herausgegriffen und zu politischen Streitfragen gemacht werden, haben überhaupt die Chance, bekämpft zu werden. Damit ist aber auch vieles, was uns stören könnte, nicht Gegenstand der Planung und wird nicht geändert. Jedermann schimpft über das Wetter, aber keiner tut etwas dagegen, heißt ein bekannter Urlauberwitz."
Die Radiodokumente von Lucius Burckhardt bilden das Spektrum seines Schaffens ab. Diese Aufnahme mit Lucius Burckhardt stammt aus dem Jahr 1973, als der Ruf an die Gesamthochschule Kassel feststand, Deutschlands erste Reformuniversität und Gegenentwurf zu den klassischen Universitäten und technischen Hochschulen. Die Studentenbewegung hatte die Gesellschafts- und Planungskritik in das allgemeine Bewusstsein gerückt. Die Stärkung der Geistes- und vor allem der Sozialwissenschaften in den Planungsdisziplinen an der Gesamthochschule waren wie geschaffen für Lucius Burckhardt. Die sogenannte "Kasseler Schule" hat viele neue Planungs- und Denkansätze hervorgebracht.
Das Deutschlandfunk-Gespräch "Die große Landzerstörung" mit Wolfgang Pehnt nahm 1989 einen Rückblick auf kulturelle Diskussionen der letzten vierzig Jahre vor und fragte nach den Anfängen der Ökologie-Debatte. Ein zweiter Ausschnitt:
Die große Landzerstörung - Lucius Burckhardt und Wolfgang Pehnt (DLF 1989)
"Also, ich glaube, der Prozess ist anders. Ich glaube ja auch nicht an das absolute Vergehen von Moden, sondern ich habe da ein Schlagwort, das heißt, nichts stirbt. Ich meine, dass die Entwicklung der menschlichen Gedanken so ist, dass alles ... Also, es gibt ja das schöne deutsche Wort aufgehoben, dass alles aufgehoben ..."
"Im Hegelschen Sinne bewahrt ..."
"Es ist bewahrt, es ist aufgehoben. Es mag sich verändert haben, aber es ist da. Und die Ökologiedebatte ist eine der Großdebatten, sage ich jetzt mal, der Menschheit, die nicht untergehen. Man wird in zumindest unserer Kultur nie mehr so denken, dass man glaubt, etwas machen zu können, und es hat keine Nebenwirkungen auf die Natur. Also, man wird vermutlich nie mehr mit ganz gutem Gewissen einen Assuan-Staudamm bauen, ohne zu denken, dass dieser Staudamm zwar vielleicht Energie bringt und Wasser bringt, aber dass er ganze Ökosysteme da an der Nilmündung und so weiter eben beeinflusst und verändert. Insofern ist das ein Beitrag, der nicht mehr verschwindet. Wieweit er politisch relevant wird, das wissen wir nicht."
Lucius Burckhardt und Wolfgang Pehnt im Gespräch im Deutschlandfunk 1989.
"Weshalb wohl sind Landschaften schön? Weil wir sie im Kopf haben. Wir sehen nur, was wir sehen wollen - und sind dabei, zugunsten einer künstlichen Vielfalt von 'Landschaft' wirkliche Landschaften zu zerstören."
Mit diesen Worten leitete Nikolaus Wyss 1989 ein Gespräch mit Lucius Burckhardt über die Spaziergangswissenschaft ein. Ein Nebenfach, wie sie der Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme bescheiden nannte. Das machte neugierig.
"Wo fängt Landschaft eigentlich an?" war eine der ersten Fragen, die 1985 auf einem inszenierten Spaziergang gestellt wurde. Mit einem "Null-Meter-Zeichen", wie man es aus der Landvermessung kennt, visualisierte der Pariser Künstler Paul-Armand Gette diese Frage im Kasseler Park Wilhelmshöhe. Was vor uns liegt, wächst oder krabbelt, ist noch nicht Landschaft, sondern Stein, Pflanze oder Käfer und kann, zur näheren Bestimmung, mit wissenschaftlichen, mineralogischen oder zoologischen Namen belegt werden. Plötzlich aber integriert sich alles zu einer Landschaft, wenn wir den Kopf heben ... Wo fängt sie also an, die Landschaft? Wann setzen sich die Einzelteile zu einem Bild zusammen?
Parallel konnte während dieser Aktion durch zehn zuvor aufgestellte Rahmen aus Lochblech die Landschaft des Wilhelmshöher Landschaftsgartens in Kassel wie ein Bild wahrgenommen werden. So war es möglich, kritisch über einige Teile des Parks, ähnlich wie ein Kunstverständiger Bilder kritisiert, zu sprechen. Die Beschreibungen und Kritiken bewegten sich auf mehreren Ebenen. Einige Rahmen fassten die Landschaft zu solchen Bildern, wie sie wohl der Gartenkünstler des 18. Jahrhunderts angelegt hatte und auf Postkarten zu sehen sind. Andere dagegen fassten mehrschichtige Situationen, die man gemeinhin als Stilbrüche bezeichnet - hier aber als Träger von Bedeutungen aufgefasst wurden. Mehr als 100 Interessierte folgten damals diesem Parcours, zu dem auch anlässlich des 60. Geburtstages von Lucius Burckhardt eingeladen worden war.
Die andere Aktion, "Die Fahrt nach Tahiti", fand 1987 parallel zur 8. documenta in der Kasseler Dönche statt, einem ehemaligen Truppenübungsplatz. Hervorgegangen war die Veranstaltung aus einem Seminar an der Hochschule, in dem die Frage untersucht wurde, wie die Sprache das Aussehen von Landschaft vermittelt. Ein halbes Jahr wurden Texte aus der Literatur untersucht. Beim Lesen von Geschichten, Märchen, Romanen und vor allem von Reisebeschreibungen treten vor unserem inneren Auge sogleich entsprechende Landschaftsbilder hervor. Dabei ergeben sich zwei Fragen. Die eine: Wie viel oder wie wenig gibt der Schriftsteller vor und wie vieles schafft unser Vorstellungsvermögen hinzu? Und die zweite: Können Landschaften mit Worten so beschrieben werden, dass wir dann tatsächlich eine Vorstellung von ihnen gewinnen?
In diesem Zusammenhang stieß die Studentengruppe um Lucius Burckhardt auf das Buch Reise um die Welt des Deutschen Georg Forster, der 1772 als 17-Jähriger an Bord der "Resolution" mit Captain Cook auch die Insel Tahiti besucht hat - Inbegriff eines Paradieses im 18. Jahrhundert. Cook hatte ihn auf die Weltumseglung mitgenommen, da er universell gebildet war, botanisieren und zeichnen konnte. Und damit er den Europäern nach der Rückkehr vermittelte, was er gesehen hatte. Aus diesem Text von Forster - den Beschreibungen der Landschaft, der unbekannten Pflanzen und Tiere, der Häuser und der Bewohner Tahitis wurden zehn Textpassagen ausgewählt, die von einem Schauspieler an zehn Stationen des Spaziergangs im Rahmen der Aktion "Die Fahrt nach Tahiti" vorgetragen wurden. Busse hatten die Besucher an den Stadtrand gebracht, die Erkundung konnte beginnen. Auf dem Weg entlang der Stationen, an denen der Textvortrag durch ein Megafon verstärkt wurde, passierte etwas Verblüffendes. Auch auf die Kasseler Dönche, dem ehemaligen Truppenübungsplatz, trafen die Beschreibungen der paradiesischen Insel zu.
In der akademischen Welt trat man der neuen Wissenschaft von Lucius Burckhardt - das ist bisweilen bis heute so - skeptisch gegenüber. Die Verschränkung der Begriffe Wissenschaft und Spazierengehen weckt aber bis heute die Neugier. Wir schalten uns in ein Gespräch ein, das Nikolaus Wyss, der damalige Rektor der Hochschule Luzern vor über 25 Jahren mit Lucius Burckhardt führte und das unter dem schönen Titel "Bergsteigen auf Sylt" erschienen ist.
© Auszug aus dem Gespräch "Bergsteigen auf Sylt" zwischen Lucius Burckhardt und Nikolaus Wyss, das in dem 1990 vom Martin Schmitz-Verlag herausgegebenen Buch "Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft" veröffentlicht worden ist. (ISBN 978-3-927795-42-6)
"Bergsteigen auf Sylt" (1990)
Nikolaus Wyss und Lucius Burckhardt im Gespräch
Nikolaus Wyss: Womit beschäftigt sich ein Promenadologe, also ein Spaziergangswissenschaftler?
Lucius Burckhardt: "Das Fach könnte auch Landschaftsästhetik genannt werden. Es geht dem Spaziergangswissenschaftler also nicht um die ideale Form des Wanderschuhwerks oder um die optimale Zusammensetzung des Proviants. Wir fragen uns vielmehr, weshalb Landschaft schön ist, und worin denn diese Schönheit besteht.
Wyss: Und wie gelangen Sie zu Antworten auf solche Fragen?
Burckhardt: Wir rekonstruieren beispielsweise einen idealen Spaziergang, sozusagen ein Modell. Der klassische Spaziergang würde so aussehen: Der Städter merkt, dass es Frühling wird, und tritt zum Stadttor hinaus aufs Land und durchstreift es. Das ästhetische Problem besteht nun darin, dass er auf seinem Spaziergang verschiedene Dinge sieht. Er durchquert ein Tal, er überschreitet einen Bach, er sieht einen Bauernhof, er erklimmt einen Hügel und genießt die Aussicht, dann geht er durch einen Wald, und zuletzt gelangt er wieder in die Stadt zurück. Er hat also eine Rundreise gemacht und die unterschiedlichsten Sachen wahrgenommen. Wenn er nach Hause zurückkehrt, gelingt es ihm, zusammenfassend etwas über seinen Spaziergang zu sagen. Er sagt, in der Umgebung von Zürich oder von Bern sei es schön, oder er sagt, der Spaziergang von Baden hinauf zur Lägern sei schön. Und wenn man dann bohrt und fragt, was hast du denn gesehen, dann stellt man fest, dass dieser Spaziergänger sechs oder sieben ganz unterschiedliche Orte durchstreift hat, die für sich stehen und miteinander nichts zu tun haben. Und doch hat der Spaziergänger das Gefühl, er könne eine Umgebung charakterisieren. Er macht also in seinem Kopf aus seinen einzelnen Wahrnehmungen eine Integration. Er ist in der Lage, sie im Geiste zu einem Gesamteindruck, zu einem einzigen Bild zu verbinden. Das ist die Fragestellung der Spaziergangswissenschaft: Wieso kann man eine Landschaft beschreiben, obwohl sie gar nirgends so aussieht, wie man sie charakterisiert?
Wyss: Sie sprechen idealtypisch vom Städter, der das Tor öffnet und aufs Land hinaustritt. Ein romantisches Bild!
Burckhardt: Die Landschaft, die wir in diesem Sinne betrachten, kann nicht ohne die Stadt existieren. Nur dem Auge des Städters erscheint die Umgebung der Stadt als Landschaft.
Wyss: Wie steht es denn mit dem Spaziergang eines Landmenschen?
Burckhardt: Ein Bauer geht schauen, ob der Nachbar mehr Kohl ernten wird, oder ob dessen Kirschen schon reif sind, oder ob jener den Mist schon ausgefahren hat. Das ist eine andere Landschaftswahrnehmung. Er spricht zunächst einmal von ihrer Nutzung, Ausbeutung, von ihrem Ertrag. Ganz im Gegensatz zum spazierenden Städter, der eine Landschaft ohne ökonomisches Interesse betrachtet, ohne gleich die Qualität des Bodens und besonders geeignete Stellen für die Kartoffelsaat zu erkennen. Der Städter nimmt die Landschaft sogleich auf einer ästhetischen Ebene wahr. Er findet sie schön, wenn sich der Weg dem Hügel entlang schlängelt, und ihm kommt nicht in den Sinn, dass derselbe Weg ein Hindernis für eine rationelle Bewirtschaftung sein könnte.
Der Landschaftsbegriff entsteht also, historisch gesehen, in den Städten. Dichtungen über Landschaften sind städtischen Ursprungs, sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern: Vergil zum Beispiel entdeckt Landschaft als Thema genau zu dem Zeitpunkt, als es für den Städter nicht mehr lebensnotwendig war, die Hände an der Scholle schmutzig zu machen, weil es auf Sizilien Sklavenarmeen gab, die für die Getreideversorgung Roms aufkamen. Bereits die Römer gingen so weit, dass sie nicht einmal mehr in die Landschaft schauten. Sie erlebten sie um so intensiver und sehnsüchtiger auf dem Papier des Dichters oder in Malereien: Römische Villen wurden zwar immer an den schönsten Aussichtspunkten erstellt, doch ohne Außenfenster. An den Innenmauern dieser Häuser hingegen erfreuten sich die Bewohner an Landschaftsmalereien mit flötenspielenden Hirten an einem Weiher. Die Sklaven draußen vor der Türe, die im Schweiße ihres Angesichts schuften mussten, hätten das Landschaftserlebnis des kultivierten Römers nur geschmälert. Zur Landschaft, wie sie vom Städter empfunden wird, gehört der Mensch, der dort arbeitet, aber in einem abgespalteten Sinn, wie wenn er nichts mit uns zu tun hätte. Der Hirte und der Bauer in dieser Landschaft sind Staffage. Das Intelligenteste, das wohl je über den Spaziergang geschrieben worden ist, ist das Spazierganggedicht von Schiller. Dort sieht der Städter die Bauern und sagt: "... Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwachet ...". Schillers Städter meint also: Die Bauern sind im Gefilde und ans Gefilde gebunden und haben es gut, dass sie dort arbeiten dürfen, denn das ist natürlich, während wir Städter es schlechter haben, weil wir zur Freiheit erwacht sind, die ja doch eine große Last darstellt. Wir müssen so kompliziert denken und können an dieser Landschaft nicht mehr tätig teilhaben, weil wir schon das Bewusstsein, die Freiheit haben und die Landschaft nur noch ästhetisch genießen können.
Wyss: Ein gefährliches Gedicht.
Burckhardt: Das ist das revolutionärste Gedicht für die Spaziergangswissenschaft, denn es zeigt die ganze Paradoxie unserer Gesellschaft auf, die sich in Stadt und Land teilt. Zu Zeiten Schillers beherrschte eine städtische Minderheit eine ländliche Mehrheit und diktierte den ästhetischen Kanon von dem, was Schönheit sein soll. Und gleichzeitig fühlte sie sich schuldig und verantwortlich für das, was draußen auf dem Felde passierte. Heute sind die Städter aber im Übergewicht, sie wissen also in ihren Landschaftsempfindungen die Mehrheit hinter sich. An der ökologischen Diskussion ist dies gut erkennbar. Es sind wir Städter, die heute den Bauern vorwerfen, sie würden nicht schön und ökologisch bauern, obwohl wir sie ja gleichzeitig in diese Zwangslage hineintreiben, weil wir die Landfrüchte schön und preisgünstig haben wollen. Als Städter schaffen wir Bedingungen, dass unsere Landwirtschaft rationell wirtschaften muss, und gleichzeitig beklagen wir uns als Spaziergänger, dass die Bauern die Landschaft verschandeln. Die widersprüchliche Interessenlage des Städters hat Schiller in diesem Gedicht bereits erkannt.
Wyss: Heute ist es ja insofern anders, als auch Bauern im städtischen Sinne spazieren gehen.
Burckhardt: Wir stehen vor einer neuen Situation. Heute gibt es nicht mehr die eindeutige Polarisierung in Stadt oder Land. Heute finden wir in allen Schattierungen nur eines, die Metropole. Dabei handelt es sich um eine Stadt, die nie aufhört, also um etwas Grenzenloses: Alles gehört zur Stadt, alles findet in der Stadt statt, das Land ist von ihr aufgesogen. Auch soziologisch gesehen gibt es keine Trennung mehr zwischen Stadt und Land. Der Förster lebt in der Stadt und fährt morgens mit seinem Auto zum Wald, und am Nachmittag fährt er zu seinem Büro in die Stadt.
Wyss: Zu Anfang hatten Sie die landschaftliche Schönheit als ein Bild in den Köpfen der Städter beschrieben. Wenn es nun in der Metropole keine eindeutigen Städter und kein Volk der Gefilde mehr gibt, was wird dann aus der Landschaftswahrnehmung?
Burckhardt: Diese Frage beschäftigt mich als Spaziergangswissenschaftler sehr, und wir haben das anhand eines praktisch durchgeführten Spaziergangs auch schon thematisiert.
Im Rahmen der Triennale von Mailand, die unter dem Motto "Oltre la città la Metropoli" stand, waren wir im vergangenen Herbst eingeladen, einen Spaziergang zu organisieren. Wir suchten uns zu diesem Zwecke ein typisch metropolitanes Quartier aus, eines, wo im 18. Jahrhundert, von Landwirtschaft umgeben, die Adligen ihre Sommerresidenzen hatten, und dazwischen stehen die Ansiedlungen der Landarbeiter. All das ist noch vorhanden; in der Zwischenzeit sind chemische Industrien, ein Gaswerk und Arbeitersiedlungen hinzugekommen, die aber auch schon wieder veraltet sind und verlassen, die Fabriken stehen vor dem Einsturz, einige sind vorsorglich schon demontiert worden. Die Landspekulation floriert, und männiglich hofft man, dass sich dort etwas Städtischeres ansiedelt, aber noch ist es nicht so weit. Ein Paradies für Biologen und Ökologen: Längs der Bahntrasse und entlang der vielen Autobahnborde wuchert reiche Spontanvegetation. Auch auf den düngerreichen Abfallhalden blüht es und auch in den vielen illegalen Schrebergärtchen, um die herum aus den wildesten Materialien große Zäune errichtet worden sind. In gewissen Gebieten verschönert die Stadtverwaltung die Umgebung mit Parks. Dort haben sich berittene Zigeuner angesiedelt. Bovisa heißt der Ort, dort wohnen Zehntausende von Menschen. Bessere Mailänder runzeln die Stirn, wenn man den Namen des Quartiers erwähnt, und niemandem käme es in den Sinn, dort freiwillig einen Spaziergang zu unternehmen.
Unser Spaziergang beruhte auf einem Verfremdungseffekt. Wir gingen davon aus, dass man dieses Quartier nur dann gewinnbringend entdecken und betrachten kann, wenn man es mit ganz fremden Augen tut. Wir wählten dafür einen Entdecker aus dem 18. Jahrhundert, Captain Cook, und seinen Tagebuchschreiber, Georg Forster. Wir, das heißt, Studenten aus Mailand und aus Kassel, wählten zwölf Stationen, den Bahnhof beispielsweise, ein Industriegelände, ein nettes Gärtchen, die Zigeunersiedlung, ein Schlösschen, und an diesen Stellen las ein Schauspieler dann jeweils eine Seite aus dem Tagebuch von Georg Forster über die Erforschung von Tahiti vor. Wir hatten die Stellen so ausgesucht, dass sie halbwegs passten, und dieses halbwegs Passen und halbwegs Nichtpassen erzeugte eine Verfremdung und eine Erkenntnis zugleich.
Wyss: Wie sehr wird man dieser Umgebung mit einer Ironisierung gerecht? Wird nicht etwas hineinprojiziert, auf Kosten dieser Landschaft?
Burckhardt: Die Projektion ist offensichtlich. Der verfremdete Blick aber führt auch dazu, Einsichten in die Art, wie widersprüchlich wir Metropolen anschauen, zu gewinnen. Zum Beispiel die Spontanvegetation. An den Bahnborden und auf den Abfallhalden sind afrikanische Pflanzen anzutreffen, für die in den vornehmen Blumengeschäften derselben Stadt viel Geld verlangt wird. In Bovisa aber sind diese Pflanzen Unkraut, und die Stadtgärtnerei bekommt den Auftrag, sie zu entfernen und statt dessen Rasen anzusäen. Und wenn wir jetzt eine solche Stelle aufsuchen und gleichzeitig zu hören bekommen, wie Captain Cook und Georg Forster tropische Pflanzen entdeckt haben, die jetzt bei uns in den Blumenläden feilgeboten werden, dann merkt der Spaziergänger schon etwas, und wir haben diesem Stadtteil etwas hinzugefügt und sichtbar gemacht, was sonst zwar vorhanden ist, aber übersehen wird.
Wyss: Es ist ein historisch weiter Weg von der Lust am Spaziergang vor die Stadttore bis hin zur Lust am Spaziergang in der Metropole.
Burckhardt: Die Geschichte des Spaziergangs gibt auch Antwort auf die Frage, was die Leute zu den jeweiligen Epochen als schön empfunden haben. Hirten mit der Flöte an einem Wasser empfinden wir heute als zu konventionell, und auch keinem Dichter käme es mehr in den Sinn, Landschaft so zu besingen. Schon am Ende des 18. Jahrhunderts ist die Ablösung des Lieblichen durch das Erhabene feststellbar. Schreckliche, furchteinflößende Dinge, wie steile Felsen und Wasserfälle, werden attraktiv. Jahrhunderte lang überquerten die Maler den Gotthard und fanden am Gebirge keinen Gefallen; sie hatten das schöne Italien zum Ziel. Und plötzlich wurde das erhabene Gebirge mit seinen eigenen ästhetischen Qualitäten attraktiv. Die Geschichte des Spaziergangs zeigt also deutlich, dass man nicht zu jeder Zeit das Gleiche suchte.
Auch Verkehrsmittel spielen eine Rolle. Die Veränderung der Verkehrsmittel hatte eine Veränderung der Landschaftswahrnehmung zur Folge. Der erste wichtige Schritt war ab 1840 die Eisenbahn. Mit ihr lässt sich ganz schnell eine bestimmte Strecke zurücklegen. Weil der Zug nur an Stationen hält, wurden für den zum Touristen gemauserten Spaziergänger der Weg immer unwichtiger und die Zielorte immer wichtiger. ... Mit dem Aufkommen des Autos und seit der populären Propaganda für Topolino und Volkswagen in den 30er-Jahren - noch vor dem Bau der Autobahnen - wird der Weg wieder Bestandteil des Landschaftserlebnisses. Der Ausflug mit dem Auto verstärkt das Phänomen des Spaziergangs. Der Automobilist kommt an vielen Orten vorbei, die ganz verschieden aussehen, und muss zu Hause mit wenigen Stichworten die durchfahrene Gegend schildern, als ob es sich um einen einzigen Punkt handele. Der Autospazierer erzählt nicht mehr, wie es auf der Lägern aussieht oder im Baselbiet, er weiß jetzt von viel umfassenderen Gebieten zu berichten, von der Toscana oder von Spanien oder vom Burgund. Er kann ganz genau sagen, wie das Burgund aussieht. Die Integrationsleistung in seinem Kopf ist ungeheuer groß und kaum zu schaffen, sodass er versucht ist zu erzählen, was darüber im Baedeker oder im Guide Bleu geschrieben steht. Wie wir aber alle wissen, ist weder das Burgund noch die Toscana so, wie es einem Prospekte weismachen wollen, und nirgends wäre der vom Autospazierer locker beschriebene Punkt zu finden, von dem man sagen könnte: Das ist die Toscana, das ist das Burgund. Oft beschleicht dann den Heimkehrer das Gefühl, dass das Burgund auch nicht mehr das ist, was es einmal war, und er meint, die Leute, die dort leben, hätten es kaputt gemacht. Der Autospaziergang ist also insofern noch stärker auf die eigene Interpretation angewiesen als der Spaziergang zu Fuß, da all die vielen Eindrücke auf ganz wenig Typisches reduziert werden müssen, das so gar nicht existiert.
Die Prospekte von Reiseveranstaltern bedienen sich genau dieses Umstands. Ich las kürzlich ein Inserat für Ferien auf Zypern: "Zypern ist Bergsteigen auf Sylt." Was soll das heißen? Auf Zypern muss es also Strände geben wie auf Sylt und Berge, die entweder so flach wie auf Sylt sind, oder aber solche, wie sie auf Sylt nicht existieren, dafür aber eben auf Zypern. Alles will man miteinander zur Deckung bringen, zu einem Paket, zu einem Gesamtangebot, in das hinein alle Träume und Sehnsüchte projiziert werden können. Man sieht einen langen Sandstrand und titelt: "Voilà la France!
Ich bin ganz generell pessimistisch, sowohl was die Überforderung des Spaziergängers als auch was die Entwicklung der Landschaft als solche angeht. Jetzt wird ja neuerdings Landschaftsschutz betrieben. Das bedeutet auch Veränderung. Leider erfolgt jedoch der Schutz nach Gesichtspunkten, die nicht sehr reflektiert und sehr zeitgebunden sind.
Wyss: Welches ist denn das gängigste Anliegen des Landschaftsschutzes?
Burckhardt: Die Vielfalt. Die Landschaft sollte vielfältig sein, und die Fahrt durch eine Landschaft sollte vielfältig sein, ein Spaziergang sollte vielfältig sein, alles sollte vielfältig sein. Die Vielfalt ist das weitaus verbreitetste Kriterium an Begründungen, wieso eine Landschaft schützenswert sei. Das macht mir große Sorgen, denn die so beschworene Vielfalt birgt in sich etwas Gleichmacherisches. Wenn alles vielfältig ist, so ist doch alles gleich. Zypern auf Sylt ist die vielfältige Landschaft, die völlige Einebnung durch Vielfalt. Überall, wo aktiv Landschaft verändert wird, schafft man Vielfalt und erzeugt Gleichförmigkeit.
Wyss: Um der Forderung nach Vielfalt nachzukommen, wird also der Inszenierungsgrad einer Landschaft in Richtung Disneyland immer größer. Hier hinein passt auch das Alpamare, die Südseebadelandschaft am Zürichsee.
Burckhardt: Ich sehe das als logischen Endpunkt einer Landschaftsentwicklung. Alles ist überall, man muss nicht mehr auf Reisen gehen, die Reise kommt zu einem. Die Erlebnis-Landschaft, die Erlebnis-Thermen in finnisch-japanischem Stil mit Aussicht auf eine an die Wand gemalte Alpenlandschaft, vor der Palmen stehen. Das ist die Reduktion des Spaziergangs auf den Nullpunkt.
Wyss: Dort befinden sich auch Fitness-Zentren, damit der Spaziergänger doch noch etwas Bewegung hat. - Was würden Sie denn als Spaziergangswissenschaftler dieser Entwicklung entgegenhalten wollen?
Burckhardt: Mein Ratschlag beschränkt sich auf die Bitte, einen Rasthalt zu machen und über uns selber nachzudenken. Vielleicht können wir in der Folge lachend auf vieles verzichten, was wir heute noch als notwendig erachten. Unsere Vorstellungen davon, was zu einer schönen Landschaft gehört, sind schließlich historisch, und einem Wandel unterworfen. Schon in zehn Jahren halten wir etwas für schön, was uns heute nicht im Traum in den Sinn gekommen wäre, und anderes, was wir heute für besonders gerissen halten, ist aus der Mode. Solche Überlegungen sollen unsere Sicherheit darüber, dass das, was wir tun, richtig ist, relativieren. Wir müssen einsehen, dass wir unseren Nachkommen vorerst noch nichts Gutes tun, wenn wir eine Landschaft verändern. Wenn wir sie verändern, so haben wir offenbar in der vorhandenen Landschaft nichts Schönes erkannt und schaffen etwas für uns Schönes, das im ästhetischen Repertoire unserer Nachfahren vielleicht als blöd, kitschig oder verschandelnd eingestuft wird.
Wyss: Die Folge wäre, dass nichts mehr gemacht wird.
Burckhardt: Die Folge wäre, dass stattdessen mehr geredet würde: darüber, was an einer Landschaft schön sein könnte, die wir noch nicht als solche erkennen. Über Landschaften sprechen ist besser als diese mit Bulldozern verändern. Verschiedene Landschaften sind schön geworden allein dadurch, dass sie besungen oder gemalt worden sind. Die Heide war zunächst ein Abfallprodukt der Torfstecherei; und der Künstlerort Worpswede war kein Zielort und hatte nichts Erhabenes an sich, bevor eine Gruppe von Künstlern vor 80 oder 90 Jahren mehr oder weniger zufällig dorthin gelangt ist, was dann neugierige Städter vom nahen Bremen veranlasste, hinauszupilgern. Weil diese Künstler Bilder der Torflandschaft malten und Rilke darüber schrieb, also allein durchs Bereden und Besingen einer vermeintlich hässlichen Abfall-Landschaft, wurde sie schön. Spazierengehen schafft Schönheit.