Es ist eine kleine Gruppe, die bei Rabbiner Joel Rembaum zusammengekommen ist. Sie haben gemeinsam gegessen und nun sprechen sie über einen Midrasch-Text, in dem es um die Opferung Isaaks geht.
"Wir haben darüber diskutiert, wie eigentlich der Prozess war, den Abraham durchlaufen hat, bis er zu dem Punkt gekommen ist, wo er bereit war, Isaak zu opfern."
Naomi Henkel-Gümbel studiert am Zacharias Frankel College in Potsdam und Berlin. Aufgewachsen ist sie in München. Schon mit 14 träumte sie davon, Rabbinerin zu werden. Sie hat viele Jahre in Israel gelebt und zunächst Psychologie studiert. Anfang des Jahres kehrte sie nach Deutschland zurück und bereitet sich nun am Frankel College in einem dreijährigen Studium auf das Rabbinatsamt vor.
"Ich finde es sehr wichtig, dass man als Rabbiner die Fähigkeit hat, zu verstehen, wo denn eigentlich der Schuh drückt. Ob das jetzt im Text ist oder bei einem Gemeindemitglied oder in einer hitzigen Debatte mit einem anderen Rabbiner aus einer anderen Strömung."
"Traditionen entwickelt sich"
Rabbiner Joel Rembaum aus Los Angeles, Professor für Halacha und rabbinische Studien, ist derzeit Gastdozent am Frankel College.
Er sagt: "Masorti ist das, was ich progressive Tradition nenne. Das Fundament ist die Tradition, das jüdische Gesetz, die Bräuche. Aber ich nenne es progressiv, weil es ein Verständnis davon gibt, dass sich die Tradition entwickelt. Sie ist nicht statisch. Sie entwickelt sich konstant und führt die Tradition in die jeweilige Zeit, in der die Menschen leben."
Vor fünf Jahren wurde das Zacharias Frankel College gegründet. Mit ihm wurde – einmalig in Europa – eine Rabbinerausbildung für die konservative Ausrichtung im Judentum ermöglicht. Masorti, hebräisch für Tradition, nimmt eine Position zwischen Orthodoxie und Reform ein. Zugleich ist Masorti egalitär und bietet Frauen die Möglichkeit, ein geistliches Amt zu übernehmen. Sandra Anusiewicz-Baer ist die Koordinatorin des Frankel Colleges:
"Die Mittelposition fehlte einfach, eine Mittelposition, die auf der einen Seite sich der Tradition verpflichtet fühlt und andererseits aber eben auch ganz klar sagt, wie können wir die Moderne integrieren und wie können wir uns mit der Moderne auseinandersetzen und das auch in der Halacha weiterentwickeln."
Gleichzeitigkeit von Wissenschaft und Tradition
Diesen Mittelweg finden, das geht zurück auf Zacharias Frankel. Die Spur führt nach Breslau. Dort wurde 1854 das Jüdisch-Theologische Seminar unter Führung des Dresdner Oberrabbiners Frankel gegründet.
"Breslau war ja die erste Ausbildungsstätte in der Art, dass man sich eben so sehr diesem akademischen Ideal verpflichtet gefühlt hat und diese universitäre Ausbildung mit der Ausbildung an einem Rabbinerseminar zueinander bringen wollte."
Frankel, der aus einem orthodoxen Elternhaus kam, betonte die Gleichzeitigkeit von Wissenschaft und Tradition.
"Er selber nannte es positiv historisch. Ein positives Judentum, was auch mit Geschichte sich begründet und seinen Gegenwartsbezug auch klärt."
Die Judaistin Mirjam Thulin lehrt an der Goethe Universität in Frankfurt am Main.
"Das deutsche Wissenschaftsideal war damals ja führend. Und dann hatten viele den Willen, das zu verbinden. Nicht nur zu sagen, wir machen historische Forschung generell, sondern auch eben, wir erforschen das Judentum."
Innerjüdischer Streit im Zeitalter der Emanzipation
Die Pionierarbeit von Zacharais Frankel war eine Initialzündung. In Philadelphia, Budapest, schließlich in New York und Wien gründeten sich nach Breslauer Vorbild in der Folgezeit Tochterinstitutionen. Es war eine Zeit der Revitalisierung und des Aufbruchs im Judentum. Dem oft erfolgten Druck zur Assimilation setzten Leute wie Frankel jüdisches Selbstbewusstsein entgegen, sagt Thulin.
"Diese Gruppe hat gesagt, nein, wir haben selber eine gute, stolze Tradition, die können wir erforschen, die können wir auch zugänglich machen den Nichtjuden."
Innerjüdisch gab es um die richtige Ausrichtung des Judentums im Zeitalter der Emanzipation heftigen Streit. Eine Bruchlinie war vor allem die Frage der Gottesdienstsprache – Hebräisch oder Deutsch. Breslau versuchte gleichwohl eine Art Brücke zu schlagen, nicht nur geografisch, sondern auch inhaltlich zwischen Ost und West, zwischen sehr traditionsbewusstem, in Osteuropa stark chassidisch geprägtem Judentum und dem Reformjudentum, das vor allem in Deutschland immer mehr Anhänger fand.
Das Jüdisch-Theologische Seminar war die weltweit führende Institution für die konservative Rabbinerausbildung. Der Historiker Heinrich Graetz hat in Breslau unterrichtet, Leo Baeck war später ein Schüler. Für Studenten des 1886 gegründeten Jewish Theological Seminary (JTS) in New York gehörte es zum guten Ton, für ein oder zwei Semester nach Breslau zu gehen. All das erfuhr mit der erzwungenen Schließung durch die Nationalsozialisten im November 1938 ein jähes Ende.
Der Staffelstab ging an das JTS in New York über.
"In Berlin kann ich Rabbiner sein"
Doch die Idee von Zacharias Frankel ist nach Jahrzehnten der Abwesenheit nach Deutschland zurückgekehrt. Angefangen hat es mit drei Studenten, zurzeit sind es sieben. Mit Nizan Stein-Kokin wurde im vergangenen Jahr die erste Masorti Absolventin ordiniert.
"Dieser Geist von Breslau, der spiegelt sich bei uns wider. Das, wofür Breslau steht, nämlich die Betonung, der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum und gleichzeitig das Festhalten aber an den Traditionen."
An der School of Jewish Theology in Potsdam bekommen die Studenten des Frankel Colleges neben ihren Seminaren zur Vorbereitung auf das Rabbineramt ihre akademische Ausbildung. Josh Weiner wurde in Jerusalem geboren und wuchs in London auf. Er war vor seinem Studium am Frankel College Sozialarbeiter.
"Nur in Berlin fühlte ich, dass ich ein Rabbiner sein kann. Es gibt hier ein Loch, das ich etwas zu dieser Stadt und zu dieser Welt geben kann. In Jerusalem ist einfach da. Und hier ist alles eine Entscheidung. Ich musste zum ersten Mal in meinem Leben denken und wirklich entscheiden, ein Jude zu sein."