Manfred Götzke: Noch sind nicht alle Attentäter von Paris identifiziert, die Behörden wollen aber schon den Drahtzieher der Anschläge ermittelt haben: den belgischen Dschihadisten Abdelhamid Abaaoud. Zwei Angreifer sollen ebenfalls Belgier sein, mindestens ein weiterer Franzose. Sie eint also: Sie sind Europäer und sie sind alle sehr jung, zwischen 20 und 31 Jahre alt. Wie groß ist die Gefahr, dass es auch in Deutschland junge Islamisten gibt, die zu solchen Taten fähig wären, und was kann Schule, was kann ein guter Islamunterricht dagegen ausrichten? Bestens beurteilen kann das Ahmad Mansour. Er war als Jugendlicher selbst Islamist, hat sich während seines Psychologiestudiums aber vom Islamismus distanziert, und er hat vor wenigen Wochen das Buch "Generation Allah" veröffentlicht, in dem er schildert, wie islamistische Radikalisierung funktioniert. Herr Mansour, gibt es in der Generation Allah in Deutschland auch Muslime, die mit den Attentätern sympathisieren, die ebenfalls zu solchen Taten fähig wären?
Ahmad Mansour: Kaum. Kaum. Da braucht man natürlich noch viel mehr Radikalisierungsprozesse und Wege zu gehen, bis man in der Lage ist, solchen Taten zu begegnen. Die Basis aber ist schon da. Ich will die Generation Allah jetzt nicht unter Generalverdacht für alle Jugendlichen stellen, da geht es um viel mehr - Richtung Werte und Ideologien, da geht's um die Richtung Integration, da geht's um die Richtung, diese Menschen zu gewinnen. Terroristen kann man nicht gewinnen, das ist viel, viel zu spät. Ich bin der Meinung aber, dass aus der Generation Allah ein Pool entsteht, von dem die Radikalen ihre zukünftigen Mitglieder dann auch fischen werden.
"Wer warten will, dass Islamismus in Gewalt umschlägt, hat verloren"
Götzke: Wie groß ist denn aus Ihrer Sicht der Pool der radikalen oder der potenziell radikalen jungen Leute hier in Deutschland?
Mansour: Das ist eine Frage der Definition. Wenn Sie den Verfassungsschutz fragen, dann geht's um 8.000 bis 10.000 Menschen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, aber ich bemerke in den Schulen, im Alltag, dass es viel mehr Jugendliche gibt, die mit solchen Ideologien sympathisieren. Das bedeutet nicht, dass sie dazugehören, aber auch Jugendliche, die in sich Feindbilder, Opferrollen tragen, die den Westen als homogene Gruppe, die den Islam bekämpfen will, sieht, ist hoch problematisch. Das sind deutsche Jugendliche, sie gehören zu Europa, sie gehören zu Deutschland, also wir müssen sie auch gewinnen. Jugendliche, die antisemitische Einstellungen in sich tragen, die ihre Religion als ein Ausschließen der Ideologie verstehen, die auf jegliche Kritik an der Religion mit Aggressivität reagieren, das sind Zustände, die sehr alltäglich sind, die natürlich ganz andere Intensität haben als die Anschläge in Paris - da dürfen wir sie nicht in den gleichen Topf werfen. Aber trotzdem, da fängt die Präventionsarbeit an. Wer warten will, dass Islamismus in Gewalt umschlägt, hat verloren. Wir müssen viel früher agieren.
Götzke: Was macht denn die Schule da konkret falsch in Deutschland?
Mansour: Die Schule ist nicht das Allheilmittel. Sie ist eine sehr, sehr wichtige Institution, um diese Jugendlichen zu erreichen. Die Schule muss die Aufgabe als ein Sozialisationsinstrument einfach ernst nehmen. Wir müssen in der Lage sein, vor allem da ein Wir-Gefühl zu schaffen, wir müssen in der Lage sein, diese Jugendlichen für Demokratie, Menschenrechte, Grundgesetze zu begeistern. Es kann nicht sein, dass wir so einfach Jugendliche für Apple-Produkte begeistern können, aber nicht für Demokratie und Menschenrechte. Wir müssen da über aktuelle politische Themen reden. Wenn wir das nicht in den Schulen differenziert tun, suchen die Jugendlichen die Informationen im Internet, und dann landen sie bei undifferenzierten radikalen Stimmen. Wir müssen in der Lage sein, kritisches Denken zu fördern, diesen Jugendlichen zu vermitteln, dass sie hinterfragen dürfen, dass sie selber denken, dass sie ihre eigene Meinung bilden sollen und nicht einfach patriarchalische Strukturen hinnehmen und Jugendliche akzeptieren, die nicht in der Lage sind, ihre eigene Meinung zu bilden. Das ist hochgefährlich. Wir müssen endlich in der Lage sein oder wir müssen verstehen, dass wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben und dass die pädagogischen Konzepte sich dieser Vielfalt anpassen müssen.
"Unsere Sozialarbeit ist weit entfernt von den Welten dieser Jugendlichen"
Götzke: Stoßen Salafisten, auch radikale Salafisten da in eine Lücke, die eigentlich auch die Schulen füllen müssten?
Mansour: Sie stoßen auf eine Marktlücke, die wegen sehr unterschiedlichen Gründen entstanden ist. Die Muslime oder die muslimischen Verbände haben sich jahrelang auf die erste Generation konzentriert, sie beten ihr Freitagsgebet und ihre Moscheen viel mehr auf Türkisch oder auf Arabisch. Da gehen die Jugendlichen hin, verstehen nicht, was da gepredigt wird. Sie finden die Themen langweilig, und die Salafisten betreiben ihre Propaganda im Internet, da, wo die Jugendlichen sind. Sie sprechen die Sprache der Jugendlichen und sie sprechen vor allem die Probleme und die Themen der Jugendlichen an. Auf der anderen Seite sind heute die Salafisten die besseren Sozialarbeiter. Sie warten nicht vor den Moscheen, dass die Jugendlichen da hinkommen, sie sind da, wo die Jugendlichen am Zweifeln sind, wo sie mit ihrem Alltag nichts anfangen können. Sie machen ihnen Angebote, schwarz-weiß, die supergut ankommen. Und wir haben diese Entwicklungen verschlafen. Unsere Sozialarbeit von heute ist weit entfernt von den Welten dieser Jugendlichen, und das muss sich schnell ändern. Ansonsten werden die Salafisten immer weiter sehr einfaches Spiel haben bei der Rekrutierung.
Götzke: Das heißt, die Salafisten machen ein jugendgerechteres Angebot?
Mansour: Sie machen ein Angebot, das gut ankommt, aber ich will dieses Angebot nicht aufwerten. Das ist Rekrutierung, das ist freiheitsfeindlich, das ist demokratiefeindlich, und die Ziele, die sie haben, sind ganz, ganz anders als die Sozialarbeit. Sozialarbeit ist unglaublich wichtig, und deshalb müssen wir sie den Jugendlichen anpassen. Das bedeutet nicht, dass wir Schwarz-Weiß-Bilder vermitteln müssen, wir müssen aber die Jugendlichen auf differenzierte Art und Weise, auf pädagogische, sozialarbeiterische Art und Weise erreichen, und das tun wir gerade nicht.
"Wir brauchen einen Religionsunterricht, der die Schüler verbindet"
Götzke: Was muss denn da passieren, was muss sich da ändern?
Mansour: Wir müssen zum Beispiel in der Lage sein, Sozialarbeit im Internet zu betreiben. Wir müssen in der Lage sein, Jugendliche mit Themen anzusprechen, die bei denen ankommen. Wir müssen Verschwörungstheorien entgegenkommen, wir müssen Feind- und Opferrollen entgegenkommen, wir müssen diesen Jugendlichen Zugänge in der Mehrheitsgesellschaft ermöglichen, wir müssen diesen Jugendlichen Perspektiven öffnen. Wer was zu verlieren hat, wird nicht zum Terrorist, sondern wir müssen in der Lage sein, diese Jugendlichen für unsere Grundgesetze, für unsere Grundordnung zu begeistern. Und gerade laufen diese Jugendlichen in einer ganz parallelen Welt und haben mit der Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun. Es fällt ihnen viel einfacher, diese Mehrheitsgesellschaft zu hassen, abzulehnen, wenn sie nicht Teil davon sind und wenn sie das nicht kennen. Und deshalb ist Inklusion eine der wichtigsten Aspekte, die wir betreiben müssen in den nächsten Jahren.
Götzke: Sie haben vorhin gesagt, die Salafisten, die holen die Jugendlichen mit ihren Themen in gewisser Weise ab. Ein religiöses Angebot in deutscher Sprache, das sollten ja auch die Schulen anbieten können, es gibt ja auch längst Islamunterricht an vielen Schulen in Deutschland. Ist das nicht genug, wird er nicht richtig gemacht, was funktioniert da nicht?
Mansour: Also nicht in allen Schulen, weitaus nicht, und Islamunterricht ist auch nicht ein Allheilmittel für alle Probleme, die wir in dieser Gesellschaft haben. Es ist wichtig, aber ich frage mich, ob es okay ist, im Jahr 2015 Jugendliche, Kinder nach ihrer Religionszugehörigkeit zu trennen. Wir brauchen einen Religionsunterricht, einen Islamunterricht, der die Schüler und Schülerinnen verbindet, der ihnen eigentlich Grundordnung und Grundgesetze beibringt, die ihnen ein Islamverständnis repräsentiert, das eigentlich mit Demokratie und Menschenrechten ohne Wenn und Aber verbunden sein kann. Wir brauchen eigentlich nicht die Jugendlichen nach ihrer Religionszugehörigkeit trennen, sondern alle Jugendlichen müssen von allen Religionen erfahren und lernen, was Christentum ist, was Judentum ist, was Islam ist. Die Jugendlichen zu trennen, die Schüler und Schülerinnen zu trennen, halte ich für hoch problematisch.
Götzke: Sagt der palästinensisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour. Er hat kürzlich das Buch "Generation Allah" veröffentlicht.
Ahmad Mansour wurde 1976 in Kfar-Saba/Israel geboren, lebt aber seit vielen Jahren in Deutschland. Er ist Programme Director bei der European Foundation for Democracy in Brüssel, Gruppenleiter beim Heroes-Projekt in Berlin und Familienberater bei Hayat, einer Beratungsstelle für Deradikalisierung.
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