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Radikalisierung und Ideologisierung
Soziologe: Rechtsextreme Gewalt wird nicht ausreichend beachtet

Die Öffentlichkeit habe 2011 auf den NSU "schockiert" reagiert, doch seitdem habe sich die Situation deutlich verschlimmert, sagte der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent im Dlf. Rechtsextreme Gewalt werde nach wie vor nicht als die Gefahr betrachtet, die sie tatsächlich sei.

Matthias Quent im Gespräch mit Sandra Schulz |
Demonstration, Aufmarsch von Rechtsextremen der Partei Die Rechte hier in Essen zum 1. Mai, mit Flagge Deutsches Reich.
Die Zahl der Gewalttaten und auch die Zahl der Todesopfer in Deutschland sei im rechten Bereich ja über ein Zehnfaches höher als im islamistischen Spektrum, sagte Matthias Quent im Dlf (picture alliance / Imagebroker)
Sandra Schulz: Seit Anfang Juni gab es vor allem Rätselraten über den Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Immer wieder erwähnt wurde dessen flüchtlingsfreundliche Haltung im Herbst 2015. Die Ermittler hielten sich zunächst im Wesentlichen bedeckt. Gestern dann teilte der Generalbundesanwalt mit, dass die Ermittler von einem rechtsextremen Hintergrund ausgehen.
Das ist jetzt noch mal unser Thema im Gespräch mit Matthias Quent, Soziologe, Rechtsextremismus-Forscher und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Matthias Quent: Guten Morgen.
"Radikalisierung passiert in rechtsradikalen Subkulturen"
Schulz: Die Ermittler suchen nach Hinterleuten, sehen im Moment aber keine Anhaltspunkte dafür. Halten Sie es für plausibel, dass das die Tat eines Einzelnen war?
Quent: Einerseits ist das durchaus möglich, dass der Täter bei der Tatbegehung allein gehandelt hat. Wir haben das in der Vergangenheit tatsächlich des Öfteren gesehen, dass es rechtsterroristische Anschläge gab von Personen, die bei der Tatbegehung keine direkte Unterstützung hatten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Radikalisierung, die politische Ideologisierung nicht im luftleeren Raum passiert, sondern dass das in Netzwerken passiert, dass das in rechtsradikalen Subkulturen im Internet passiert, dass das aber auch – und da deuten ja die bisherigen Hinweise auch im Fall der Ermordung von Walter Lübcke darauf hin – realweltliche Netzwerke gibt.
Dr. Matthias Quent, Rechtsterrorismus-Experte und Direktor des Instituts fuer Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, aufgenommen im Rahmen einer Bundespressekonferenz zum Thema Jahresstatistik zum Ausmafl rechter Gewalt in 2018 .
Matthias Quent (imago / Florian Gärtner)
Das heißt, die Kontakte zur NPD, zu Combat 18. Gestern wurde bekannt, dass der Mörder sogar an die AfD gespendet haben soll. Das sind ja Hinweise darauf, dass es nicht so ist, dass das jemand ist, der gar keine Verbindungen zu rechtsradikalen Organisationen hat. Das bedeutet, unabhängig von der Frage, ob es bei der Tat direkt noch andere Beteiligte gegeben hat, muss geklärt werden, ob es Verbindungen, ob es Netzwerke gibt möglicherweise auch noch aus dem NSU-Komplex, der ja auch in Kassel sehr aktiv war, in diesem Milieu verstrickt war, was dort eigentlich Strukturen sind im konspirativen Bereich, die bisher nicht aufgeklärt sind.
"Strafrecht kennt eigentlich keinen Terrorismusbegriff"
Schulz: Wir haben im Strafrecht den Begriff der terroristischen Vereinigung. Muss der, um diese Vernetzung zu verstehen, weiter gefasst werden?
Quent: Es ist ja nicht nur eine juristische Frage, sondern es ist auch eine Frage von Strukturermittlungen im Vorfeld. Unterstützungsnetzwerke sind nicht nur die, die direkt tatbeteiligt sind im juristischen Sinne, sondern im soziologischen und im politischen Kontext auch diejenigen, die möglicherweise Stichworte geben, die Handlungsanreize setzen, die zur Legitimation beitragen, auch solche wie diverse rechtsradikale Internetseiten, die die Privatadresse von Walter Lübcke im Internet veröffentlicht haben und damit in einer Gemengelage kleine Beiträge, kleine Tröpfchen zur Tatbegehung möglicherweise mit geliefert haben. Es stimmt aber, dass das Strafrecht eigentlich keinen Terrorismusbegriff kennt oder hat, der mit den neueren Entwicklungen, die wir ja auch beim OEZ-Attentat in München gesehen haben, die wir beispielsweise beim Christchurch-Attentat erst im März in Neuseeland gesehen haben, alleine handelnde Terroristen, die aber aus einer politischen Szene heraus und aus einer politischen Motivation heraus handeln, dass es da möglicherweise nicht das richtige Handwerkszeug im Strafrecht bisher gibt und dass auch die sicherheitsbehördlichen Diskussionen diesen Entwicklungen, die so neu nicht sind – seit mindestens zehn Jahren treten solche Fälle verstärkt auf -, dass die da möglicherweise noch hinterher sind.
Schulz: Woran hapert es da aus Ihrer Sicht bei den Sicherheitsbehörden?
Quent: Ganz grundsätzlich – und das betrifft nicht nur die Sicherheitsbehörden; das betrifft auch die öffentliche Diskussion – wird rechte Gewalt, wird rechtsextreme Gewalt nicht als die Gefahr betrachtet und öffentlich diskutiert, nach wie vor, die sie tatsächlich ist. Wir haben vor einigen Jahren, 2011, als der sogenannte NSU, der Nationalsozialistische Untergrund aufgeflogen ist, sehr schockiert reagiert. Die Öffentlichkeit hat nicht fassen können, was da passiert ist, diese Mordserie mit zehn Todesopfern, die von Behörden und von der Öffentlichkeit, auch von der Forschung übrigens nicht gesehen wurde, und seitdem hat sich die Situation drastisch verschlimmert.
Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn Neonazi-Mordopfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v.l). 
Porträtfotos der zehn Neonazi-Mordopfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v. (dpa / Polizei-Handouts, Norbert Försterling)
Es gab viele rechtsextremistische Gruppen, die in den Bereich des Terrorismus gegangen sind, auch allein handelnde Terroristen, die Anschläge beispielsweise auf Henriette Reker, auch auf andere Bürgermeister, auch insbesondere auf geflüchtete Menschen, auf angebliche oder tatsächliche politische Gegner begangen haben. Das sind Hunderte von Fällen, zum Teil sehr schwere Fälle, Brandanschläge, Bombenanschläge, Messerattacken, die in der Öffentlichkeit überhaupt nicht gewürdigt werden und auf die sich auch die Sicherheitsbehörden in meiner Wahrnehmung vor allem auf der Landesebene und auf der kommunalen Ebene gar nicht adäquat bisher eingestellt haben, obwohl die Bundesanwaltschaft – das muss man durchaus sagen – mittlerweile viel sensibler ist und da auch frühzeitig Ermittlungen an sich genommen hat.
Keine hinreichenden Konsequenzen aus dem NSU-Komplex
Schulz: Wir hören aus der Politik aber ja die Einschätzungen, habe ich jetzt mehrfach gehört seit gestern, dass die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen seien. Was konkret vermissen Sie denn?
Quent: Ich vermisse zum einen, dass die Aufklärung von Netzwerken des NSU-Komplexes, das bedeutet die Aufklärung von Unterstützerstrukturen, von auch der Weiterexistenz dieser Netzwerke, Stichwort Combat 18, diese Blood and Honour Organisation, die auf Deutsch heißt Kampfgruppe Adolf Hitler, von der immer wieder bekannt wird, dass sie sich mit Waffen versorgen, dass sie wollen, dass sie Waffentrainings zum Teil im Ausland machen, dass sie enorm gewaltaffin sind, gewaltverherrlichend agieren, die aber aus irgendeinem Grund, obwohl Blood and Honour in Deutschland verboten ist, schon seit 2001, diese Splitterorganisation, diese noch militantere Organisation nicht verboten ist.
Das ist eine Dimension, wo Konsequenzen aus dem NSU-Komplex aus meiner Sicht nicht hinreichend gezogen wurden. Es geht aber auch weiter in der Auseinandersetzung damit, dass wir attestieren müssen, festhalten müssen, dass der Rechtsextremismus das größte Problem ist und auch viel stärkere gesellschaftliche, politische Anstrengungen darauf verwendet werden müssen, dem zu begegnen, in Ost- wie in Westdeutschland, und in den Bereichen von Prävention ebenso wie in der Repression.
"Handlungsspielräume von Neonazis einschränken"
Schulz: Jetzt sagen die Innenpolitiker, wir wollen keine Priorisierung, wir wollen keinen Wettstreit, welcher Bereich des Terrorismus gefährlicher, wichtiger oder bekämpfungswürdiger ist. Wir haben bei den islamistischen Attentaten nach den Anschlägen ja oft die Diskussion gehabt mit Einschränkungen der Freiheitsrechte, mit genaueren Beobachtungen der Gefährder. Muss das jetzt auf den Bereich des Rechtsterrors erst richtig anlaufen?
Quent: Das muss erst anlaufen, dass man feststellt, dass die Gefahr, obwohl die Daten ja ganz eindeutig sind - die Zahl der Gewalttaten, auch die Zahl der Todesopfer in Deutschland ist im rechten Bereich ja über ein Zehnfaches höher als im islamistischen Spektrum -, dass man das, was man an Terrorismusprävention, an Repressionsmaßnahmen in diesem Bereich entwickelt hat, dass man das auch auf den hausgemachten, auf den rechten Terrorismus überträgt, dort wo es wirkungsvoll ist. Was natürlich keine Antwort ist, ist, Freiheitsrechte zu beschränken, überzureagieren. Das ist etwas, was ein Ziel des Terrorismus ist. Es geht ihm darum, Angst und Schrecken zu verbreiten. Es geht ihm aber auch darum, den Staat als nicht demokratisch darzustellen. Das heißt, es darf natürlich nicht darum gehen, Bürgerrechte einzuschränken. Aber es muss darum gehen, die Handlungsspielräume von bekannten Neonazis, von Gewalttätern, von Rechtsextremen so einzuschränken, dass sie beispielsweise nicht an Waffen kommen.
"Es gibt Flüsterpropaganda in der rechtsextremen Szene"
Schulz: Wir haben bei den islamistischen Attentaten oft die Situation, dass ein Täter, dass ein Selbstmordattentäter am Schauplatz "Allahu Akbar" ruft, dass wir schnell IS-Bekennerschreiben sehen. Das hatten wir beim NSU nicht, was ja auch eine der Ursachen war, neben vielen anderen auch, dass es so lange gedauert hat, bis überhaupt diese rechtsextremistische Motivation niet- und nagelfest zu machen war von den Ermittlern. Und so ähnlich haben wir es jetzt im Fall Walter Lübcke auch wieder gesehen. Das dauerte jetzt erst mal, bis die Ermittler diesen Verdächtigen Stephan E. genauer einzirkeln konnten und dessen Motivation genauer untersuchen konnten. Wie gehen wir mit dieser Ungewissheit um?
Quent: Mit der Ungewissheit kann man nur umgehen, indem man die Möglichkeit eines rassistischen oder rechtsextremen, neonazistischen, staatsfeindlichen Motives immer in Erwägung zieht. Denn wir wissen seit Anfang der 1990er-Jahre übrigens aus Studien und auch aus den Publikationen, den Blaupausen des Rechtsterrorismus, dass dort gesagt wird, kein Bekenntnis abzulegen. Wir sind viel stärker, so wird dort argumentiert, wenn wir nicht in der Öffentlichkeit identifizierbar sind, sondern wenn es so wirkt, als wären die Fälle, als kämen die Mordfälle und Anschläge aus der Mitte der Gesellschaft, und die Verunsicherung ist viel größer, wenn es nicht zuordbar ist auf eine kleine Zelle oder auf eine Gruppe, und dann ist auch der Schutz für die Szene größer. Das bedeutet, dass man aus diesen taktischen Vorgaben, aus dieser Strategie die Rückschlüsse ziehen muss, auch auf Umgebungsvariablen zu achten.
Das sind Aspekte der Tatumstände, die bei der Ermordung von Walter Lübcke ja sehr an den NSU erinnert haben. Das sind aber auch Aspekte, wie reagiert die Szene. Es gibt Flüsterpropaganda in der rechtsextremen Szene nach diesen Taten. Es gab ja auch im Vorfeld schon enormen Hass gegen Walter Lübcke, wo einige damals schon spekuliert haben, kurz nach der Tat, da ist doch ein rechtsextremes Tatmotiv nicht unwahrscheinlich. Das hat sich jetzt bewahrheitet. Natürlich muss man mit Spekulationen immer vorsichtig sein, aber wir sehen, dass der Rechtsterrorismus vielfältig ist, nicht mehr nur, wie noch vor einigen Jahren, insbesondere Migrantinnen und geflüchtete politische Gegner angreift, Linke angreift vor allem, sondern dass er jetzt auch amtierende Politiker hinrichtet, was im Übrigen der erste Fall seit 1945 ist, dass das aus der rechtsradikalen Szene passiert. Das heißt, man muss mit einer analytischen Offenheit herangehen und da auch die Entwicklungen und Diskurse der Szene und der Forschung ernst nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.