Bettina Klein: Die mögliche Terrorgefahr während der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich hat die Sicherheitsbehörden und vielleicht auch viele Fans im Vorfeld beschäftigt. Zweifel an der Zusammenarbeit mit französischen Institutionen tauchten auf. In den vergangenen Tagen zeigte sich dann allerdings, die Gefahr ging zu allererst von randalierenden Fans, von Hooligans aus. Heute Morgen nun die Meldung über einen Mordanschlag gegen ein Polizistenpaar. Der Angreifer bekannte sich zum Islamischen Staat. Am Telefon ist jetzt Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dort arbeitet er in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Ich grüße Sie, Herr Kaim.
Markus Kaim: Ich grüße Sie, Frau Klein.
Klein: Schauen wir zunächst auf die ganz aktuellen Entwicklungen jetzt in Frankreich, auf den Angreifer dort. Der war ja offenbar verbunden mit einem islamistischen Netzwerk, also kein Einzeltäter im Unterschied zu Orlando. Dennoch ist das vorher nicht aufgedeckt worden. Haben Sie schon eine Erklärung, weshalb nicht?
Kaim: Nein. Dafür ist der Ermittlungsstand auch noch zu unklar. Aber die Parallele, die sich zu Orlando aufdrängt, losgelöst von Einzeltäter oder terroristischem Netzwerk: Beide Täter waren bereits auf dem Radar der Sicherheitsbehörden. Aber es gab offensichtlich eine Einschätzung, dass diese nicht oder nicht mehr eine unmittelbare Gefahr darstellen würden und dementsprechend die Akten weitgehend geschlossen worden sind beziehungsweise im französischen Fall das verhängte Urteil zu einer Bewährungsstrafe ausgesetzt worden ist. Da wird man jetzt sicherlich in den nächsten Tagen fragen müssen, ob die Einschätzung der Sicherheitsbehörden richtig gewesen ist, aber das ist einfach zu früh zu beurteilen.
"Terroristische Netzwerke sind einfach zu identifzieren"
Klein: Wenn Sie den Bogen herstellen zur Tat in Orlando, dann will ich das auch tun. In der Tat, Sie haben es angedeutet: In vielen Interviews, die wir gehört haben in den vergangenen Tagen auch von Sicherheitsexperten, war so ein bisschen herauszuhören, wir können eigentlich nicht so richtig was machen, wir haben keine Gedankenpolizei. In Orlando wurde der Täter dreimal vom FBI gehört, auch dort hat man die Akte geschlossen. Unter dem Strich steht für den Zuhörer, für den Zuschauer, für den Bürger: Im Grunde genommen stoßen die Sicherheitsbehörden an ihre Grenzen und sind nicht in der Lage, diese Risiken zu vermeiden und zu verhindern. Also ein Risiko, das nicht abwendbar ist?
Kaim: Ganz so scharf würde ich das vielleicht nicht formulieren. Aber vielleicht hilft es, noch mal zu differenzieren zwischen Netzwerk und Einzeltäter. Es ist, glaube ich, relativ einfach zu erklären und zu verstehen, dass terroristische Netzwerke, also institutionalisierte Organisationen für die Sicherheitsbehörden relativ gesehen leichter zu identifizieren sind. Wenn sie sich über Grenzen bewegen, wenn Flüge gebucht werden, wenn Grenzkontrollen zu überwinden sind, wenn es darum geht, eine Tat logistisch vorzubereiten, auch gegebenenfalls finanzielle Unterstützungsleistungen erbracht werden, dann sind das immer Anknüpfungspunkte, wo Sicherheitsbehörden gegebenenfalls aufmerksam werden können. Das betrifft den IS, aber das betrifft andere terroristische Organisationen aus der Vergangenheit gleichermaßen. Ungleich schwerer ist es bei Einzeltätern. Da wird man, glaube ich, ganz woanders hingucken müssen. Wenn man mal Revue passieren lässt die Radikalisierungsprozesse von Einzeltätern, dann gibt es immer bestimmte Anknüpfungspunkte, wo man im Nachhinein sagen muss, da hätte man vielleicht aufmerksam werden können.
Politik ist bei Einzeltätern oft machtlos
Klein: Welche Punkte sind das?
Kaim: Zum Beispiel, wenn Jugendliche mit einer schwierigen Vergangenheit, die bisher nicht sonderlich religiös gewesen sind, sich in kürzester Zeit dem Islam zuwenden und das in radikalisierter Form, dann sind die Sicherheitsbehörden alleine natürlich überfordert. Woher sollen sie das in Erfahrung bringen. Dann liegt die Verantwortung eher beim Elternhaus, gegebenenfalls bei muslimischen Gemeinden, gegebenenfalls bei Schulen, die entsprechende Indizien geben müssen.
Klein: Aber der Staat, die Politik ist dann eben doch machtlos?
Kaim: In der Tat. Mit den rechtlichen und institutionellen Grenzen, die da gezogen sind, ist das kaum möglich. Ein weiterer Ansatzpunkt, vielleicht weniger für Deutschland, aber gerade für die USA ist das natürlich ein ganz wichtiges Thema: Die Umstände, unter denen Waffen erworben werden können, sind zumindest Anknüpfungspunkte, um bestimmte Personen zu identifizieren, die bisher vielleicht noch keine Waffen erworben haben, die in bestimmten Kontexten auffällig geworden sind, denen man aber nichts nachweisen kann. Da gilt es, tatsächlich die existierenden Ermittlungsbemühungen anderweitig zu nutzen.
Radikalisierung durch Katalysatoren beschleunigt
Klein: Das ist noch mal ein großes Extrakapitel, das Waffenrecht in den USA. - Ich würde ganz gerne noch mal bei dem Faktor Radikalisierung oder Selbstradikalisierung bleiben. Diese These wurde ja inzwischen sogar vorausgesetzt, gerade was den Attentäter in Orlando angeht. Wir haben uns gefragt, wie geht so was eigentlich, wenn man doch auf der anderen Seite bei anderen Phänomenen immer sagt, man kann nicht so schnell die Linie ziehen von zum Beispiel ich schaue gewalttätige Computerspiele und radikalisiere mich dann. Wieso ist es selbstverständlich, dass sich Jugendliche radikalisieren im Internet, wie es dann heißt, weil sie IS-Seiten lesen?
Kaim: Wenn wir mal uns die Profile genauer angucken von Jugendlichen, die genau da reinfallen in dieses Phänomen der Selbstradikalisierung, dann stellen wir fest: Es gibt kein Profil, sondern die Wege in die Radikalisierung sind sehr unterschiedlich. Es gibt bestimmte Muster oder bestimmte Komponenten, die häufig zusammenkommen. Wenn wir mal Revue passieren lassen zum Beispiel die ganzen in der Regel jungen Männer, die aus Deutschland in den Irak, nach Syrien aufgebrochen sind, zum Teil wieder zurückgekehrt sind, sich selber dem IS zugehörig bekannt haben, dann sind das häufig Jugendliche mit schwierigen familiären Verhältnissen, mit einer Geschichte von Kleinkriminalität. Das ist häufig eine Komponente. Zumeist sind es ja auch Männer, das ist auch schon ein Kriterium, die sich von der Gesellschaft abgewendet haben, weil sie glauben, ihnen sei Unrecht zugefügt worden, sie seien zu kurz gekommen oder andernorts. Das ist eine weitere Komponente. Aber wir stellen dann fest am Ende des Tages, dass diese Radikalisierung genauso abgelaufen ist, wie Sie es angesprochen haben, sehr schnell, dass es dann bestimmte Katalysatoren gegeben hat oder gibt. Das kann das Internet sein, das kann eine bestimmte radikale muslimische Gemeinde sein oder anderes mehr. Und dann vollzieht sich diese Selbstradikalisierung in einer Art und Weise, dass die Attentäter bis zur Tat weitgehend oder komplett unter dem Radar der Sicherheitsbehörden bleiben und dann wir einen Anschlag haben, der vom IS ja gar nicht in Auftrag gegeben worden ist, der gar nicht organisatorisch unterstützt worden ist, sondern der letztlich inspiriert worden ist.
Klein: Es müssen immer mehrere Faktoren zusammenkommen? Da verstehe ich Sie richtig? Allein radikale Seiten zu lesen, das reicht noch nicht aus?
Kaim: Ich glaube, das würde zu kurz greifen. Ich glaube, Eltern von jungen Männern, die radikale Seiten lesen im Internet, werden gut daran tun, mit ihren Zöglingen ins Gespräch zu kommen. Aber ich glaube, hier ist es angebracht, auch vor einem gewissen Alarmismus zu warnen.
Abgrenzung exportiert Instabilität
Klein: Sie haben es angesprochen, das Umfeld ist gefordert, die Gesellschaft ist gefordert, die Gemeinden in diesem Falle auch, die Familien, dann vielleicht auch Sozialarbeiter, die in diesen Netzwerken dann auch arbeiten und Jugendliche versuchen, vor der Radikalisierung zu bewahren. Sie haben eben auch gesagt, Herr Kaim, Politik und Staat sind in Teilen irgendwie machtlos. Und da würde sich meine Frage anschließen: Öffnet sich da nicht gerade ein Raum, in den Menschen hineinstoßen, die wir Populisten nennen, wie Donald Trump, die dann doch Rezepte anbieten, auch wenn sie zu einfach oder zu wenig praktikabel sind, und dann sagen, Muslime sollen gar nicht mehr einreisen dürfen? Macht man es sich da nicht auch zu einfach, auf politischer Seite zu sagen, da können wir halt nichts tun?
Kaim: Soweit würde ich nicht gehen und ich glaube, bei Donald Trump hätten wir eine politische Agenda oder eine vergleichbare politische Agenda, die auch ohne die jüngsten Anschläge und auch ohne die Anschläge aus der Vergangenheit vorhanden ist. Sondern ein Kennzeichen des Populismus, losgelöst von Terrorangst, ist ja die bewusste Abgrenzung nach außen, in den USA, wie wir es genau jetzt feststellen würden in europäischer Lesart, diese antiintegrationistische und auch antiglobalistische Komponente. Das ist ja ein Charakteristikum des Populismus, die Abgrenzung nach außen, und das nimmt jetzt diese konkrete Form an und wird noch mal in spezifischer Form aufgeladen in Abgrenzung zur islamischen Welt. Angesichts der Tatsache, dass es Staaten zwar gelingt, ihre Grenzen weitgehend zu kontrollieren, aber auch nicht vollständig - das ist ja eine Lehre aus den vergangenen Jahren -, glaube ich, ist das kein Patentrezept gegen islamistische Anschläge. Und vielleicht noch wichtiger: Sofern man Grenzen abriegeln kann, hält man vielleicht das eine oder andere Problem draußen, aber man exportiert damit natürlich Instabilität, jetzt konkret auf Europa runtergebrochen für die Peripherie Europas. Ein Ring von instabilen Staaten Europas ist ja wahrscheinlich die Folge.
Klein: Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk zur Frage, wie sich Staat und Gesellschaft positionieren sollten gegenüber radikalisierten Tätern oder Einzeltätern. Haben Sie Dank für das Gespräch, Herr Kaim, heute Mittag.
Kaim: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.