Jonas Reese: Der Verfassungsschutz warnt vor islamistisch erzogenen Kindern. Das kann ich jetzt besprechen mit Lamya Kaddor. Sie ist Islamwissenschaftlerin und beschäftigt sich seit Langem mit der Deradikalisierung von Kindern und Jugendlichen. Guten Abend, Frau Kaddor!
Lamya Kaddor: Guten Abend, hallo!
Keine "Kinderarmee von jungen Dschihadisten"
Reese: Frau Kaddor, wächst in Deutschland eine Art Kinderarmee an Terroristen heran?
Kaddor: Nein, so würde ich das tatsächlich nicht bezeichnen. Wohl aber wissen wir um die Gefahren, unter denen auch junge Menschen, auch Kinder oder Heranwachsende durchaus gegenüberstehen, das schon. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass wir hier demnächst hier eine Kinderarmee von jungen Dschihadisten haben, das nicht.
Reese: Der Präsident des Verfassungsschutzes, Maaßen, spricht jetzt von rund 300 Kindern. Er hat das jetzt auch schon wiederholt. Anfang des Jahres hat er das schon mal gesagt. Halten Sie denn diese Zahl für realistisch, können Sie das einschätzen?
Kaddor: Ich glaube schon, dass das deutschlandweit durchaus eine realistische Zahl darstellen kann. Wobei da ja noch nicht ganz klar ist, was das im Einzelfall eigentlich wirklich bedeutet, wenn diese Kinder Gefährder darstellen. Was genau macht sie zu Gefährdern beziehungsweise – ich glaube auch, zwischen Gefährder und Gefährder gibt es natürlich Unterschiede. Insofern kann man wahrscheinlich schon pauschal sagen, dass es 300 Kinder aus bestimmten Konstellationen in einem bestimmten Umfeld von Islamisten gibt, die angesprochen worden sind, oder wo man versucht hatte, die zu rekrutieren. Ja, ich glaube schon, dass 300 da eine durchaus realistische Zahl ist.
Reese: Das wäre auch gleich meine nächste Frage. Wie erkenne ich denn, ob sich ein Kind radikalisiert hat?
Kaddor: In der Regel geht das einher mit einem plötzlichen Wandel von Einstellungen tatsächlich, aber auch von Verhaltensweisen. Wichtig ist dabei, ich kann jetzt nicht sagen, also wenn das Kind plötzlich besonders auffällig oder plötzlich besonders ruhig ist, sondern es geht tatsächlich um das plötzliche Anderssein. Wenn es vorher meinetwegen ein relativ unauffälliges Kind war und binnen kürzester Zeit relativ auffällig wird, es vielleicht auch ein bestimmtes politisches Interesse plötzlich hat an Verschwörungstheorien plötzlich klammert und diese aufstellt. Dass es den Westen versus den Islam gibt, diesen Kampf womöglich. Dass man Weltverschwörungstheorien teilt im Sinne von Amerika oder vielleicht auch sogar, Israel ist an allem Übel dieser Welt schuld. Wenn man dieses Denken vorher gar nicht hatte und auf einmal dieses Denken schon hat, und das dann vielleicht auch einhergeht mit stärkerer religiöser Zuwendung, obwohl diese vorher vielleicht gar nicht da war, und auf einmal ist sie da. Diese jungen Menschen fangen dann an, plötzlich demonstrativ zu beten, demonstrativ zu fasten, sich demonstrativ anders zu verhalten, islamische Floskeln plötzlich in ihre Alltagssprache auftauchen, dann ist das mit Sicherheit zumindest auffällig. Das muss mindestens mal hinterfragt und doch näher beobachtet werden. Das heißt nicht unbedingt, dass das jetzt alles Islamisten sind, bitte nicht falsch verstehen, aber es ist zumindest schon so auffällig, dass man das mal beobachten sollte.
Kinder werden gezielt angesprochen
Reese: Ja, das wäre auch das Stichwort, beobachten. Denn einige Unionspolitiker haben jetzt als Reaktion auch auf die wiederholt formulierte Sorge des Verfassungsschutzpräsidenten geäußert, dass man diese Gruppe von diesen 300 Kindern beobachten soll, um eben diese Gefahr, die von ihnen mutmaßlich ausgeht, zu begrenzen. Halten Sie das für den richtigen Weg?
Kaddor: In Gänze nein, aber in begründeten Einzelfällen halte ich das für den richtigen Weg tatsächlich, und zwar nicht nur, und das ist ganz wichtig, dass ich das hier betone – es ist mir nämlich persönlich wichtig, das zu sagen – nicht unbedingt, weil wir als Gesellschaft tatsächlich vor 12-jährigen Attentätern vielleicht geschützt wären, also angenommen, das wären dann irgendwann Attentäter, sondern auch zum Schutz dieser Kinder selbst. Tatsächlich, ich glaube schon, dass in bestimmten Konstellationen, Familienkonstellationen, wo vielleicht die Eltern oder das nähere Umfeld ohnehin schon beobachtet wird wegen islamistischer Aktivitäten in diesem Land. Wenn Kinder dann gezielt – gern übrigens über soziale Netzwerke und immer häufiger Kinder übrigens, es passiert immer häufiger – dass es natürlich Sinn macht, wenn wir wissen, auch so ein Jugendlicher, bestimmte Einzelfälle von Kindern standen tatsächlich in direkter Verbindung, denen wurden Propagandavideos schon längst zugeschickt, da gibt es einen Austausch, was weiß ich, im Rahmen von irgendwelchen, weiß ich nicht, Koranzirkeln, keine Ahnung, irgendwelche Zirkel und Versammlungen, dann finde ich schon, also wenn man unter diesen bestimmten Kriterien oder diese Kriterien aufstellt, dann halte ich es für richtig, dass man da genauer hinschaut, und zwar auch zum Schutz des Kindes.
Kontakt in die salafistische Szene
Reese: Ich meine, das Problem ist ja wahrscheinlich eher oder sind ja eher die Eltern, die ein Kind dann radikalisieren oder das Umfeld, das dann eben salafistisch oder in irgendeiner Weise extrem ist. Aber würde es dann was bringen, das Kind zu beobachten?
Kaddor: Ja und nein, denn das stimmt nicht ganz, dass tatsächlich bei jungen Menschen oder bei Kindern, die angesprochen werden, die Eltern auch schon als Gefährder gelten. Das stimmt so nicht. Denn häufig ist es tatsächlich so, dass die Kinder ganz unabhängig von ihren Eltern angesprochen werden und tatsächlich direkt über soziale Netzwerke, also wirklich direkt über Snapchat, Facebook, zum Teil über WhatsApp direkt kontaktiert werden, ohne dass die Eltern davon Wind bekommen. Deshalb macht es natürlich schon Sinn, auch da mal genauer hinzuschauen. Wir kennen ja hier nun mal einige Figuren der salafistischen Szene, die ja auch schon unter Beobachtung stehen, und auch deren Handlanger und auch deren Netzwerke und Personen in deren Netzwerken. Und wenn die nun mal gezielt an Jugendliche herangehen oder nicht mal Jugendliche, an Kinder rangehen und die auch schon unter Beobachtung stehen, dann ist es insofern gar nicht unbedingt falsch, auch diese Verbindungen weiter zu beobachten, nicht nur diesen jungen Menschen, sondern auch diese Verbindungen. Ich glaube, das ist nicht immer so – ganz sicher ist es nicht so, dass die Eltern das alles wussten und dass die Eltern diese Kinder quasi gefährden. Leider ist das häufig nicht so.
Reese: Welche anderen Möglichkeiten gibt es denn neben dem Beobachten noch zusätzlich? Wie kann man an die Kinder herankommen?
Kaddor: Am besten ist es, wenn wir es schaffen, Jugendliche vor diesen Gefahren aufzuklären, oder junge Menschen, am besten schon nach dem Ende oder kurz vor Ende der Grundschulzeit. Denn wir wissen ja, dass ungefähr ab zehn, elf, zwölf Jahren tatsächlich junge Menschen angesprochen werden.
Reese: Ich meinte jetzt aber auch schon Kinder, die eben sich schon angefangen haben zu radikalisieren. Wie kommt man an die noch ran?
Kaddor: Da wird es schwierig. Da kann man nur hoffen, dass unmittelbare soziale Umfeld, sprich Familienmitglieder oder Nachbarn oder engste Verwandte oder Lehrer oder Sozialarbeiter, Betreuer, Sporttrainer – dass vielleicht auch der Denkwandel, also dieser radikale Wandel auffällt und die möglichst schnell sich an bestimmte Stellen wenden. Hier in NRW ist das "Wegweiser", das ist dieses Präventionsprogramm, das sich gerade diesen Kindern und Jugendlichen verschrieben hat, ihnen die Augen ein Stück weit zu öffnen, die Familien aber auch zu begleiten. Häufig sind es ja auch familiäre Konflikte, die dazu beitragen, dass junge Menschen sich radikalisieren. Das hat ja auch Ursachen. Die versuchen, eben diese Familien ein Stück weit zu unterstützen und diese jungen Menschen zu begleiten. Aber ich muss auch deutlich sagen, wenn der Grad der Radikalisierung so weit fortgeschritten ist, dann stellen wir alle häufig fest, dass man an diese Jugendlichen kaum mehr ran kann. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft, dass wir als soziales Umfeld möglichst früh darauf reagieren und sensibel genug dafür sind.
Äußerungen von Herrn Maaßen sind "zu alarmierend"
Reese: Leistet dazu der Verfassungsschutzchef einen Beitrag, indem er immer wieder darauf aufmerksam macht?
Kaddor: Ja und nein. Ich halte tatsächlich diese Äußerungen von Herrn Maaßen manchmal auch für zu alarmierend und auch für zu problematisch, um ehrlich zu sein, gerade, weil er nicht unbedenklich die Sensibilität steigert in der Bevölkerung, sondern das eher manchmal als Panikmache empfunden wird, nicht nur von mir, sondern auch von vielen Menschen, die in meinem Umfeld leben und auch damit tatsächlich beruflich zu tun haben. Aber andererseits – ich meine, dass der Islamismus in Deutschland definitiv eine konkrete Gefahr in gewisser Form darstellt, auch und vor allen Dingen für unser demokratisches und friedliches Zusammenleben, das ist ja nicht von der Hand zu weisen. Insofern muss da natürlich auch vernünftiges Maß gehalten werden zwischen einer gewissen Tatsachenerklärung und einer bestimmten Berichterstattung, aber auch einer gewissen Zurückhaltung, die Menschen hier nicht völlig verrückt zu machen und vielleicht auch gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. Insofern ist es tatsächlich auch eine Frage des Tons und wie man diese Themen sozusagen öffentlich kundtut.
Reese: Frau Kaddor, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.