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Radio Lotte
Wichtige Größe in der NSU-Berichterstattung

Als zu Beginn des NSU-Prozesses die Akkreditierungen verteilt wurden, erntete Radio Lotte einen der begehrten Plätze - und Häme: Würde das Bürgerradio ernsthaft über den historischen Prozess berichten? Mehr als fünf Jahre später sind die Kritiker verstummt.

Von Henry Bernhard |
    Beim Weimarer Sender Radio Lotte hängt am ein Firmenschild neben der Eingangstür.
    Radio Lotte wurde im Losverfahren für die Berichterstattung beim NSU-Prozess zugelassen. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Mittwochmorgen, 8 Uhr. Das Bürgerradio Radio Lotte aus Weimar geht auf Sendung. Aber nicht aus dem kleinen Studio in Weimar, sondern vor dem Oberlandesgericht in München. Mit technischen Schwierigkeiten. Der Chefredakteur Shanghai Drenger arbeitet von einem kleinen Mischpult aus. Noch am Vorabend war nicht klar, ob sie eine feste Leitung bekommen würden oder das Wagnis eingehen, über das Mobilfunknetz zu senden. Der Programmchef, Markus Pettelkau, war im Vorfeld dennoch optimistisch. "Uns wurde ein Stellplatz zugewiesen an einer U-Bahn-Station, und zwar genau ein Quadratmeter."
    Das, was ab heute morgen in einer vierstündigen Sondersendung zu hören war, klingt nach viel Improvisation. Damit sind die Bürgerfunker von Radio Lotte vertraut. Im Laufe der fünf Jahre des NSU-Prozesses haben sie an markanten Prozesstagen ein bis zwei Mal jährlich mehrstündige Sondersendungen aus München gemacht - zum Erstaunen der Medienöffentlichkeit, die sich zuvor amüsiert und Häme über Radio Lotte ausschüttet hatte - weil der Name mehr nach Schunkeln und Promi-Tratsch, denn nach solider Berichterstattung klang. Recht schnell aber hatte sich Radio Lotte einen guten Ruf erarbeitet - durch die kontinuierliche Berichterstattung von Friedrich Burschel.
    "Ich mache wöchentlich einen Bericht, der so um die zehn Minuten dauert, wo ich über die verschiedenen Prozesstage berichte, aber eben auch versuche, aus dem Gerichtsaal rauszuschauen, zu schauen, was passiert in den Untersuchungsausschüssen, welche Enthüllungen sind gerade in welchem Medium veröffentlicht worden, und irgendwie zu versuchen, Zusammenhänge herzustellen."
    Mehr Hörer als manche Zeitung Leser
    Burschel hat nicht alle, aber die meisten Prozesstage begleitet und war damit einer der bestinformierten Prozessbeobachter - auch durch seine guten Kontakte zu den Nebenklägern. Davon profitierten auch regelmäßig andere Bürgerradios deutschlandweit, die sich kostenlos an das Radio-Lotte-Programm drangehängt haben, wie Programmchef Markus Pettelkau erklärt. "Das sind Deutschland-weit knapp 20 Bürgersender, von Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein bis runter nach Baden-Württemberg. Das sind, glaube ich, knapp über 200.000 Hörer, wir dann mit dieser Berichterstattung erreichen. Also, mehr als manche Zeitung, die sich vorher lustig gemacht hat."
    Die Kosten für eine solche Live-Berichterstattung sind zwar im Vergleich zu denen kommerzieller oder öffentlich-rechtlicher Anstalten niedrig, bei aller Improvisation jedoch immer noch sehr hoch für das nur dünn finanzierte Bürgerradio. "Aus unserem normalen Topf könnten wir es nicht. Für solche speziellen Sendungen, da holen wir uns Förderer. Das kann z.B. das Bundesland Thüringen sein über bestimmte Stiftungen. Das kann über bestimmte Initiativen, wie z.B. die 'Alternative 54' sein, die uns für diese Berichterstattung 450 Euro übergeben hat. Denn das kostet jedes Mal über 2.000 Euro."
    Und wie ist es um die Unabhängigkeit bestellt?
    An dieser Stelle wird ein Problem deutlich: das der fehlenden Unabhängigkeit. Der Spendengeber "Alternative 54" etwa besteht aus Abgeordneten der Linksfraktion im Thüringer Landtag. Friedrich Burschel, der über die fünf Prozessjahre wöchentlich für Radio Lotte berichtet hat, ist ausgebildeter und versierter Journalist, aber angestellt bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linkspartei nahesteht. Anders wäre diese kontinuierliche Berichterstattung für Radio Lotte aber gar nicht möglich. Burschel und auch der Chefredakteur von Radio Lotte sehen aber auch kein Problem darin, wenn Berichterstattung, Kommentar und linker Aktivismus Hand in Hand gehen, wie auch in der heutigen Live-Sendung aus München.
    Man spricht mit Anwälten der Nebenklage, lässt Opfer des Kölner Bombenattentats zu Wort kommen, Hinterbliebene der Ermordeten. So wie es alle Journalisten tun. Einen großen Raum nehmen Aktivisten der linken Szene ein, Politiker der Linkspartei. Man kennt sich, man duzt sich, man engagiert sich. Radio-Lotte-Chefredakteur Shanghai Drenger kann kein Problem erkennen: "Wir sind ein Bürgerradio. Und beim Bürgerradio kann jeder und jede mitmachen, der oder die das möchte. Das passiert eben halt zum größten Teil nebenberuflich, ehrenamtlich. Wir machen aus purem Enthusiasmus Radio. Das hat dann auch Fritz Burschel gemacht. Und warum sollte das dann ein journalistisches Problem sein?"
    Trotz dieser deutlichen politischen Grundierung hat Radio Lotte in den vergangenen fünf Jahren gezeigt, dass der Sender ernstzunehmen ist, dass er eine wichtige Größe war in der Berichterstattung zum NSU-Prozess.