Es ist Mitte Dezember, ein kalter Mittwochmorgen. Ich stehe am Rand von Tübingen, ein Zentimeter Neuschnee ist über Nacht gefallen, und bin auf dem Weg zu einem Wanderparkplatz. Jetzt geht es schon den Berg hinauf, eine Streuobstwiese entlang. Ich bin mit einem Jäger verabredet. Einem von fast 400.000 in Deutschland.
"Sie wollen überwiegend wissen, was die Wildschweine hier so tun?"
"Was die Wildschweine so tun: Vielleicht können wir mal einen Ansitz hochklettern."
Michael Datz kennt sich aus mit einem heimischen Wildtier, das derzeit viele Menschen in Deutschland beschäftigt.
Über Jahrzehnte sind die Bestände in den Wäldern immer weiter gewachsen. Landwirte fürchten, dass es die Afrikanische Schweinepest überträgt und verbreitet. Das Wildschwein verstärkt zu jagen, ist daher Gebot der Stunde. Doch das Tier ist klug, geländegängig und stark. Und sein Fleisch ist mancherorts noch immer radioaktiv belastet.
Auf der Pirsch
"Ja, dann fahren wir gleich mal da hin. Dann rein."
Einen Jäger nachts auf der Pirsch nach Wildschweinen zu begleiten, das geht natürlich nicht. Schon nach meiner ersten Frage wären die hinter dem nächsten Busch verschwunden. Deshalb fahren wir bei Tag in das Jagdrevier, auf einen bewaldeten Höhenzug und suchen Fährten.
"Hier würden Sie sehen, wenn es keinen Schnee gäbe, dass hier alles aufgebrochen ist. Rechts und links vom Weg ist alles aufgewühlt. Asko, hey!"
Wenige Fahrtminuten entfernt springt der Jagdhund, ein gutmütiger 13-jähriger Münsterländer, schwanzwedelnd über den Trampelpfad.
"Jetzt haben wir hier ypsilonförmig eine große Fläche als Wildwiese angesät. Und da können wir dann hoffen, dass das Wild herkommt. Aber wir haben auch noch eine andere Möglichkeit. Und wenn ich hier abends ankomme, dann kann es sein, dass es da vorne schon steht. Und damit ich hier nicht zu viel Krach mache, habe ich hier die letzten paar Meter Sägemehl drauf geschmissen. Da ist es jetzt ganz leise."
Eine Lichtung mit aufgebrochener Erde, auf der ein Hauch Neuschnee liegt. Dazwischen immer wieder Flecken hüfthohen Grases. Auch Topinambur hat Michael Datz gepflanzt. Die Wildschweine kommen gerne vorbei, um die schmackhafte Wildkartoffel auszugraben. Vom Hochsitz fällt der Blick dorthin, wo nachts die Schweine wühlen.
"Die Sauen wissen ja sicher auch, dass Sie hier gelegentlich abends oben sitzen. Das stört sie aber nicht?"
"Das stört die Sauen schon. Das heißt, wenn ich hier abends herkomme, muss ich erstmal meine Seifenblasendose herausholen und muss gucken, wie der Wind steht. Denn wenn ich hier herlaufe und die kriegen von mir Wind, dann sind die weg. Und man glaubt das gar nicht, eine Sau, so schwer sie auch ist, die ist sowas von schnell. Das ist unwahrscheinlich, wie schnell die weg sind."
Verstrahlte Schweine auch 30 Jahre nach Tschernobyl
Michael Datz kennt allerlei Tricks, die klugen Tiere vor seine Flinte zu locken. Doch das Fleisch ist nicht überall bekömmlich. Es sind die Nachwehen von Tschernobyl: Manche Wildschweine strahlen bis heute.
"Diese Cäsiumbelastung rührt noch von dem Fallout 1986 her, als die radioaktiven Wolken sich ganz regional ausgeregnet haben. Das sind hauptsächlich Gebiete im Bayerischen Wald, sehr regional, dann im Thüringer Wald und in Oberschwaben in Baden-Württemberg."
Torsten Reinwald vom deutschen Jagdverband will das Problem nicht größer machen, als es ist – denn bundesweit betrachtet spiele radioaktiv belastetes Wildschweinfleisch kaum eine Rolle. Als ich darüber aber vor wenigen Jahren einen Artikel verfasste, erhielt ich einen empörten Leserbrief - von Helmut Rummel.
Helmut Rummel: "Sie haben ja gut her gefunden."
Karl Urban: "Zu Fuß, aber es war kein Problem."
Helmut Rummel: "Bei dem Wetter."
Karl Urban: "Es ist sehr schön heute. Hallo."
Nun bin ich zu ihm gefahren, nach Murnau, eine Stunde südlich von München. Mit Blick auf die Alpenhänge in der Ferne stehen am Stadtrand mehrere dreigeschossige Wohnblöcke.
Helmut Rummel: "So nehmen sie Platz."
Karl Urban: "Ja, danke."
Eine schmale Küche mit rustikalen Möbeln.
Karl Urban: "Jetzt müssten wir eigentlich rausgehen."
Helmut Rummel: "Da habe ich ein Problem, mein rechtes Knie macht immer Probleme. Und dann bin ich gestern drei Stunden geradelt."
Helmut Rummel ist 79 Jahre alt, ein Naturfreund und ein Pilzesammler. 1986 arbeitete er im Strahlenschutz bei der Bundeswehr
"Ich habe da bereits Messgeräte gehabt. Die habe ich mir geschnappt und bin hergegangen und in meiner damaligen Naivität habe ich mir gesagt, jetzt will ich doch mal schauen, ob man draußen in der Natur auch was messen kann."
Geigerzähler im Wohnzimmer
Die Fähigkeiten des pensionierten Strahlenschutzbeauftragten aus Murnau waren gefragt.
"Da ich einen Bekannten habe, der jahrzehntelang die Jägerausbildung im Landkreis Garmisch gemacht hat, habe ich zu dem gesagt, ich könnte für euch Wildschweinfleisch messen. Hier gibt es ja gar keine Messstelle."
So wurde Helmut Rummel Betreiber einer Messstelle für den Bayerischen Jagdverband. Mit dem Geigerzähler in seinem Wohnzimmer.
"Nachdem ich als Messstelle offiziell im Landkreis Garmisch eingesetzt war, hat die Untere Jagdbehörde eine Annonce in die Zeitung gesetzt: Da gibt es eine Messstelle mit meiner Adresse et cetera. Und dann haben die Jäger bei mir angerufen und gefragt: Wann kann ich kommen, ich habe eine Sau erlegt und wie sieht das aus?"
Viereinhalb Jahre lang brachten Jäger ihm Proben: von Keilern, Bachen oder Jungtieren – in der Jägersprache Überläufer. Lagen die Messwerte über dem Grenzwert, ließ sich das Tier nicht mehr verkaufen. Denn es ist strafbar, derart belastetes Wildschweinfleisch in den Handel zu bringen.
"Ich trage die Messwerte in das Messprotokoll ein: welche Sau, weiblich, männlich, Überläufer et cetera. Sogar das Gewicht ist vorgeschrieben vom Landesamt für Umwelt. Dann unterschreibe ich natürlich. Das Wichtigste ist: Ich trage den korrekten Messwert ein, von mir aus 600 Becquerel als Beispiel. Das wäre ja die amtliche Grenze oder aber 3.500 oder aber 9.999. Das ist die Messgrenze des Geräts. Mehr nimmt das Gerät nicht an."
"Das nimmt der Jäger mit. Und die Daten, die Sie als Messstellenleiter aufgenommen haben, geben Sie die nicht weiter an die Behörden?"
"Nein, ich gebe die nicht weiter. Ich habe die anfangs weitergegeben an den BJV. Da gibt es ein Computermessprogramm. Da kann man das eintragen. Wie ich aber dann nach kurzer Zeit feststellen musste, sind die Ergebnisse des BJV so dürftig, dass ich die Sache eingestellt habe."
Das war es also, was Herr Rummel mir erzählen wollte: Bayernweit werden Messwerte gesammelt, in 120 Messstationen, mit Geigerzählern wie jenem in seinem Wohnzimmer. Aber niemand trägt die Daten zusammen, wertet sie aus und zieht Schlüsse daraus. Der Bayerische Jagdverband BJV fragt seine Messstellen nur, wie viele Fleischproben über und unter dem Grenzwert gelegen haben. Nur die Höhe der gemessenen Cäsium-Belastung würde auch etwas über das persönliche Risiko bei einem Verzehr aussagen. Doch gerade die interessiere den Jagdverband nicht, sagt Rummel.
"Wenn man ihn denn fragen würde und er eine Beurteilung über die Strahlenbelastung der Wildschweine machen sollte, dann könnte er das gar nicht tun, weil ihm die Messwerte fehlen. Er hat von seinen eigenen Messstellen nur einen kleinen Teil der Messwerte. Wenn ich von Messwerten spreche, dann meine ich die Messungen in der Höhe. Wie viel Becquerel und nicht die Anzahl der Messungen."
Wildschweine tanzen aus der Zerfalls-Reihe
Was im Wildschwein strahlt, ist das Isotop Cäsium-137. Seine Halbwertszeit liegt bei 30 Jahren und somit müsste die Hälfte davon inzwischen wieder aus der Umwelt verschwunden sein.
"Ich heiße Georg Steinhauser und ich bin Radiochemiker. Ich komme aus Österreich, wie man hört, und beschäftige mich vor allem mit Umweltradioaktivität, insbesondere mit Freisetzungen aus Nuklearunfällen."
Speziell die Wildschweine haben es Georg Steinhauser angetan.
"Was die Wildschweine so ganz besonders macht, ist, dass sie sich nicht an die Naturgesetze halten, möchte ich jetzt unter Anführungszeichen sagen, die wir für andere Lebensmittelkategorien kennen."
Heu von der Weide, damit verbunden die Milch grasender Kühe, aber auch Waldbeeren oder vereinzelt das Fleisch von Reh und Hirsch: All das war im Jahr 1986 durch den Fallout von Tschernobyl belastet. Diese Belastung aber verschwand binnen weniger Monate bis Jahre, weil kurzlebige Radionuklide schnell zerfielen. Das langlebigere Cäsium-137 wurde in tiefe Bodenschichten gewaschen, wo es für Pflanzenwurzeln und andere Organismen in der Nahrungskette offenbar kaum noch erreichbar war. Nur das Wildschwein ist auffällig geblieben.
"Der Trend ist grundsätzlich von Ort zu Ort leicht unterschiedlich. Aber wenn man die ganze Thematik anschaut, dann ist es eindeutig und geradezu frappierend, dass die Konzentrationen, das heißt der Gehalt an radioaktivem Cäsium, konstant bleibt, teilweise sogar noch leicht ansteigt. Das heißt, wir haben jetzt zum Teil höhere Gehalte an radioaktivem Cäsium im Wildschweinfleisch als es vor 30 bis 32 Jahren der Fall war."
Für Forscher ist bis heute nicht ganz klar, warum einige Wildschweine noch immer so stark belastet sind. Georg Steinhauser wagt aber eine These:
"Es wird etwas mit der Ernährung der Wildschweine zu tun haben. Eine Spezies ist in der Betrachtung der Community besonders in den Fokus gerückt und das ist die Hirschtrüffel. Es dürfte schon damit zusammenhängen, wie viele Hirschtrüffel so ein Wildschwein zu sich nimmt und frisst und dass das den Grad der Kontamination quasi diktiert."
Strahlenquelle Hirschtrüffel
Selbst in den vom Tschernobyl-Fallout am stärksten betroffenen Regionen ist ein Großteil der Wildschweine unauffällig, mit Cäsium-Messwerten weit unter dem Grenzwert. Fressen also einzelne Wildschweine die unterirdisch wachsenden Hirschtrüffeln – und das auch nur manchmal?
"Die Hirsche fressen sie gar nicht so sehr, obwohl sie Hirschtrüffel heißt, sondern die Wildschweine fressen die. Es sind nicht alle Hirschtrüffel verstrahlt. Es sind nicht alle Wildschweine verstrahlt. Aber es gibt halt so Flecken, wo dann beides zusammentrifft, sodass dann die Halbwertszeit gar nicht viel ausmacht, weil die Dosis immer noch groß genug ist."
So lautet die Interpretation von Oliver Keuling, Wildtierbiologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Wild schmeckt vielen. Die Frage lautet daher: Landet das belastete Fleisch auch auf dem Teller? Der bayerische Jagdverband gibt Entwarnung:
Von den in Bayern im vergangenen Jagdjahr erlegten Wildschweinen weist nur ein geringer Prozentsatz eine erhöhte Strahlenbelastung auf.
[Webseite Bayerischer Jagdverband]
[Webseite Bayerischer Jagdverband]
Auf der Webseite des Verbands heißt es zwar einschränkend, in wenigen Falloutgebieten würden circa 20 Prozent der gemessenen Wildschweine eine erhöhte Radiocäsium-Belastung aufweisen. Aber:
Um sicherzustellen, dass nur einwandfreies Wildbret auf den Teller des Verbrauchers kommt, hat der Landesjagdverband ein flächendeckendes Netz von Messstationen in ganz Bayern aufgebaut.
[Webseite Bayerischer Jagdverband]
[Webseite Bayerischer Jagdverband]
Also alles halb so schlimm?
"Also, hier haben wir das Messgerät. Das können wir ja mal anschalten."
Helmut Rummel führt in sein Wohnzimmer. An der Wand ein Reh in Öl, auf dem Couchtisch ein grauer Kasten.
"Hier haben wir das Bleigefäß. In dieses Bleigefäß, mit Bleideckel, kommen dann 500 Gramm, abgewogen, reines Muskelfleisch vom Schwein rein."
Karl Urban: "Also es sieht aus wie ein Autoradio, mit drei verschiedenfarbigen Knöpfen und einer kleinen Anzeige."
Helmut Rummel: "Dann sagen wir mal, dass es so weit ist, nehmen wir mal an. Und dann starten wir die Messung."
Irgendwann begann Helmut Rummel, die Daten selbst zu sammeln: nicht nur seine eigenen, sondern bayernweit. Er fragte dafür bei anderen Messstellen an und bei Landratsämtern.
Helmut Rummel: "Den Landkreis Augsburg möchte ich mal erwähnen. Das ist der, der nach dem Landkreis Regen am höchsten vom Fallout belastet wurde. Demzufolge sind auch die Wildschweine sehr hoch belastet. Und ausgerechnet der Landkreis Augsburg weigert sich also, Daten rauszugeben. Ich habe da alles Mögliche versucht."
Karl Urban: "Da stehen bei Ihnen jetzt auch Zahlen. Wo haben Sie die her?"
Helmut Rummel: "Von Augsburg habe ich nur Daten von einer Messstelle, den Namen will ich hier nicht erwähnen. Da hatte ich 2013 extrem hohe Messwerte mitgeteilt bekommen und nur daher weiß ich auch, dass Augsburg, also der Landkreis Augsburg und dort die Wildschweine, so extrem hoch belastet sind. Die Messstelle hat mir damals gemeldet, 88 Messwerte über 10.000 Becquerel. Seitdem habe ich nie mehr etwas vom Landratsamt oder von Augsburg erfahren können, auch nicht von den Messstellen, weil die Messstellen auch alle angehalten wurden, nichts herauszugeben."
Wildschwein-Ortung per Drohne
Man könnte die Tiere aus belasteten Regionen einfach in Ruhe lassen. Doch das ist kein gangbarer Weg: Schon heute leben viermal so viele Wildschweine in Deutschland wie noch 1986. Und Wildtierökologe Oliver Keuling schätzt, dass das Nahrungsangebot der Wälder noch zehnmal mehr Wildschweine ernähren würde. In unserer Kulturlandschaft könnten wir das kaum tolerieren.
"Die Probleme, die sich daraus ergeben, sind Schäden in der Landwirtschaft, weil sie in den Feldern fressen, uns unsere Nahrung oder das Futter für unser Vieh wegfressen oder einfach viel umwühlen. Und dann kommt natürlich dazu, dass Krankheiten übertragen werden können. Das Wildschwein kann sehr viele Krankheiten tragen."
Die am meisten gefürchtete Krankheit hat Deutschland noch gar nicht erreicht: die Afrikanische Schweinepest. Die Seuche grassiert seit mehreren Jahren in Osteuropa und dem Baltikum, aber auch in Polen und Belgien. Sie kann Wildschweine wie Hausschweine gleichermaßen befallen. Für den Menschen ist sie ungefährlich, aber Schweinemastbetrieben droht die Keulung des gesamten Tierbestands.
Eine Drohne mit vier Rotoren steigt bis auf eine Höhe von 80 Metern: Behörden, Forstbetriebe und Jäger haben sich in den vergangen Monaten intensiv auf den ersten Seuchenfall vorbereitet, auch hier bei Warthausen im Landkreis Biberach.
Die Jagd auf Wildschweine soll intensiviert werden, vorbeugend und notfalls sogar mit technischen Mitteln, die in der Jagd bislang verpönt oder illegal waren.
"Bei der Seuchenübung ist der Plan, dass wir versuchen, das Waldstück zu überfliegen."
Die Drohne überfliegt ein nahes, herbstlich gefärbtes Waldgebiet, an Bord eine Wärmebildkamera. Bislang hätten sie Drohnen vor dem Mähdreschereinsatz nur über Felder fliegen lassen, um Rehkitze zu entdecken, erläutert Kreisjägermeister Dieter Mielke.
"Wir haben 45 Einsätze und 75 Rehe gefunden. Und ein Abfallprodukt der Rehwildsuche ist jetzt natürlich: Wir versuchen nur Schweine zu lokalisieren. Das ist das einzige, was wir mit Drohnen können, das muss man ganz klar sagen. Neulich stand etwas in der Bild-Zeitung: "Schweinedrohne" und "-jagd" und so - alles Nonsens. Man kann nur lokalisieren, ob sie da sind."
Die Drohnen sollen nicht etwa aus der Luft schießen, aber die traditionelle, weidgerechte Jagdmethode über Kimme und Korn vereinfachen. Zusätzlich werden derzeit die Drückjagden immer zahlreicher, bei denen eine Gruppe von Jägern und Hunden ein ganzes Waldgebiet durchstreift und Wildschweine aus ihren Verstecken vor die Flinte treibt. Die Schonzeit für die Tiere in den Frühlingsmonaten, wenn die meisten Bachen ihre Frischlinge werfen, ist mittlerweile aufgehoben worden. Dem erfahrenen Wildschweinjäger Michael Datz geht all das noch nicht weit genug.
"Was unser Landwirtschaftsminister uns beschert hat, das ist nur lächerlich"
"Guckt, dass ihr die Schweine weidgerecht und sauber dezimiert: Das wäre meine erwartete Antwort von der Politik gewesen. Aber das, was unser Landwirtschaftsminister uns beschert hat, das ist nur lächerlich. Wir dürfen jetzt also eine Lichtquelle verwenden, also sprich eine Taschenlampe. Die darf aber nicht fest mit dem Gewehr verbunden sein. Jetzt müssen Sie sich vorstellen, jetzt habe ich also einhändig in der rechten Hand mein Gewehr, in der linken Hand habe ich eine Taschenlampe. Und dann muss ich erstmal mit der Taschenlampe suchen, wo sind die Schweine? Dann muss ich im Gewehr gucken, dass ich auf den Punkt komme. Mittlerweile haben die Sauen schon lange ein Hohn- und Spottgelächter auf dem Gesicht und sind schon lange fort."
Dennoch haben es die Jäger in der letzten Saison vermutlich zum ersten Mal seit Jahrzehnten geschafft, den Zuwachs des Wildschweins abzuschöpfen - also mehr Tiere zu erlegen als neue Frischlinge geboren wurden. 836.000 Wildschweine wurden deutschlandweit geschossen. Wie viele davon radioaktiv belastet waren, das würde der pensionierte Strahlenschutzbeauftragte aus Murnau gern genauer wissen.
"Das ist ein Saustall. Man muss wirklich sagen, das ist ein Unding."
2017 wird Helmuth Rummel sein Status als Messstelle entzogen, angeblich wegen einer persönlichen Fehde; immer weniger Ämter beantworten seine Anfragen. Die bayerischen Staatsforsten verlangen auf Anfrage eine Gebühr von 80 Euro, erzählt er – für gerade drei Messwerte.
"Für was habe ich denn das bayerische Umweltinformationsgesetz, wenn dann für einfache schriftliche Auskünfte – und die Reduzierung auf drei Messwerte ist nun wahrlich einfach – wenn man 80 Euro verlangt? Ich habe das natürlich abgelehnt."
Am Ende hat Rummel dennoch eine stattliche Liste zusammen: ein Blatt Papier, mit dem Kugelschreiber eng mit Zahlen beschrieben. Speziell die Höhe der Werte fand er bemerkenswert.
"Beispiel: Ich habe 2017 zirka 500 Messwerte über 1.700 Becquerel festgestellt bis hin zu 12.000 Becquerel. Das war 2017 der höchste Messwert. In diesen 500 Messwerten waren zudem noch 34 Messwerte über 10.000 Becquerel enthalten."
10.000 Becquerel: Das entspricht dem 16-fachen Grenzwert für Lebensmittel und dem Limit der Geigerzähler. Noch höhere Messwerte können nur aufwendig mit einem Gammaspektrometer bestimmt werten – und liegen einzelnen Landratsämtern vor.
"Jetzt habe ich einen Vergleich gemacht, den Internetauftritt durchforstet, also mal nachgesehen und siehe da: Im Internetauftritt des LfU findet der Verbraucher keinen einzigen dieser hohen Messwerte."
Das Bayerische Landesamt für Umwelt, kurz LfU, veröffentlicht stattdessen überwiegend Stichproben von Wildschweinfleisch aus dem Handel.
Kein Interesse die Strahlenbelastung publik zu machen
An das Landesamt für Umwelt: "Warum werden - anders als etwa in Baden-Württemberg - nicht pro Landkreis und Jahr deutlich aussagekräftigere Maximal- und Medianwerte aller gemessenen Tiere veröffentlicht?"
Die Antwort schickt das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, LGL
Das LGL […] prüft stichprobenartig […] ob Lebensmittelunternehmer der Verpflichtung zur Einhaltung Ihrer Sorgfaltspflicht […] entsprechen. Die Ergebnisse der Wildbretmessstellen, die von den Jägern zu Eigenkontrollen im Rahmen der Einhaltung der Sorgfaltspflicht genutzt werden, liegen dem LGL jedoch nicht vor.
[Schriftliche Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf eine Anfrage des Deutschlandfunks]
[Schriftliche Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf eine Anfrage des Deutschlandfunks]
Bis heute ist kein nennenswert belastetes Fleisch im Handel entdeckt worden. Die Behörden sagen: Weil solches Fleisch auch nicht verkauft werde. Helmut Rummel dagegen meint: Es werden schlicht zu wenige Daten überhaupt zusammengetragen und ausgewertet. Obwohl es sie sehr wohl gibt. Wenn schon nicht beim Bayerischen Jagdverband, dann doch zumindest bei den Kreisverwaltungsbehörden: Jeder Jäger, dessen erlegtes Wildschwein über dem Grenzwert für Radiocäsium liegt, kann nämlich eine Entschädigung erhalten. Dafür hat er einen Antrag zu stellen – und muss das Messprotokoll einreichen. Diese Daten sind es, die Helmut Rummel bei vielen südbayerischen Landratsämtern abfragte und zu seiner umfangreichen Liste zusammenführte.
"Die Information des Landesamtes für Umwelt ist absolut untauglich und verstößt gegen das Strahlenschutz-Vorsorge-Gesetz Paragraph 1: Vereinfacht ausgedrückt, die Strahlenexposition der Menschen durch angemessene Maßnahmen so gering wie möglich zu halten, heißt es dort. Der Verbraucher kann sich ja nur adäquat verhalten, wenn er die zum Teil extrem hohen Messwerte überhaupt erfährt. Aber in Bayern erfährt man diese Messwerte nicht."
Zumindest die Jäger könnten so unwissentlich ein Risiko eingehen. Denn nicht jeder Jäger dürfte den Weg zu einer Messstelle in Kauf nehmen, wenn er das Tier selbst verzehren möchte.
Frage an das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit: "Sehen Sie ein erhöhtes persönliches Risiko für Mitglieder von Jägerfamilien, die Tiere selbst verwerten?"
Antwort des LGL:
Sehr geehrter Herr Urban, entsprechend den dem LGL vorliegenden Informationen sind die Jäger sehr gut über die Thematik informiert und nehmen Eigenkontrolluntersuchungen der Radiocäsiumbelastung der erlegten Wildschweine vor.
[Schriftliche Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf eine Anfrage des Deutschlandfunks]
[Schriftliche Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit auf eine Anfrage des Deutschlandfunks]
Sechs Kilo Wildschwein entspricht zwölf Mal Lunge röntgen
In seinem Wohnzimmer in Murnau widerspricht Helmut Rummel vehement.
"Ein ganz wichtiger Punkt meiner Recherchen ist folgender: Im Jahr 2017 wurden alleine in Südbayern in den Regierungsbezirken Oberbayern, Niederbayern und Schwaben und nur dort über 14.000 Wildschweine nicht gemessen aber verzehrt."
Das Bundesverwaltungsamt in Köln hat im gleichen Zeitraum bundesweit nicht einmal 5.000 Entschädigungen für belastetes Wildschweinfleisch ausgezahlt. Auch das Fallwild, also etwa bei Verkehrsunfällen getötete Wildschweine, hat Rummel herausgerechnet. Am Ende zieht er diesen Schluss: Viele bayerische Jäger verzehren die Wildschweine ohne Kontrollmessung. Und aus einem 50 Kilogramm schweren und möglicherweise schwer cäsiumbelasteten Keiler lässt sich längst nicht nur ein Sonntagsbraten zubereiten.
"Ich habe ja auch eine Rechnung gemacht aufgrund der vorliegenden hohen Messwerte. Und da sieht es nun so aus: Der Jäger braucht, wie ich meine, einen anschaulichen Vergleich. Und wenn man dem Jäger das sagt: Du isst sechs Kilo Wildschweinfleisch, belastet mit 3.000 Becquerel, dann hast du pro Kopf und Jahr eine Dosisbelastung vergleichbar mit zwölf Röntgenaufnahmen der Lunge, dann wird er da vorsichtiger."
Helmut Rummel hat in den vergangenen Jahren hart um mehr Einsicht bei den Beamten gekämpft und sich dabei offenbar nicht immer beliebt gemacht. Der Radiochemiker Georg Steinhauser hat Verständnis für die bayerischen Behörden, die den Ball vermutlich flach halten wollten.
"Das Thema Radioaktivität ist extrem emotional vorbelastet. Da gibt es wahrscheinlich kaum ein vergleichbares Thema, wo die Emotionen derart hoch gehen. Und das einzige, was dagegen helfen kann, ist letztlich die Vermittlung von Wissen und Bildung. Wenn wir die Leute entsprechend aufklären, dass selbst eine Überschreitung des Grenzwertes noch nicht das Schicksal des Krebstods besiegelt, dann wäre schon viel erreicht."
Wenn er sich zweimal im Jahr 200 Gramm Wildbret aus heimischen Wäldern gönnt, dann sei das Risiko für den Jäger vermutlich äußerst gering, sagt der Radiochemiker Georg Steinhauser.
"Ich würde auch nicht zögern, Wildschwein zu bestellen, weil selbst eine Grenzwertüberschreitung auf meinem Teller mir noch keine unzumutbare Strahlenbelastung verursacht. Das Ganze habe ich mit einem Flug nach Mallorca schon wieder drinnen, wenn die kosmische Höhenstrahlung auf mich trifft."
Sau problematisch
Was also folgt aus all dem für den richtigen Umgang mit dem Wildschwein? - Einem Wildtier, das sich verglichen mit Reh und Hirsch nur wenig um seine Jungen kümmert. Frischlinge, von denen früher im Winter viele verhungerten, die aber nun in den immer milderen Wintern überleben? Einem Kulturfolger des Menschen, der in unsere Städte vorrückt, in den Wäldern überhandnimmt und wegen der Seuchengefahr auf der Abschussliste steht?
"Wir rechnen beim Ansitz etwa 20 Stunden für eine erlegte Sau. Zum Vergleich: Beim Reh sind es etwa sieben Stunden."
Wildschweine passen ihr Verhalten den Jägern an, sagt Torsten Reinwald vom Deutschen Jagdverband. Und der Aufwand ist schon jetzt so groß wie bei keinem anderen heimischen Wildtier. Nicht nur deshalb rät Wildtierbiologe Oliver Keuling, nicht zu übertreiben mit der intensiven Bejagung:
"Ich bin selber kein großer Freund davon, dass das alles für die Ökonomie gemacht wird. Wir verkaufen Schweinefleisch in die ganze Welt und deswegen müssen wir jetzt die Wildschweine töten, das kann und darf so nicht sein."
Die Sorge des Verbrauchers vor radioaktiv belastetem Wildschweinfleisch ließe sich derweil leicht ausräumen: Wie in Baden-Württemberg könnten auch im am stärksten betroffenen Bundesland Bayern alle gesammelten Messwerte transparent veröffentlicht werden. Das jedenfalls könnte auch den zahlreichen Jägern in Bayern helfen, in deren Jagdrevieren überhaupt keine belasteten Tiere gefunden werden.
"Hier sehen Sie: Das war ein Reh, diese zwei, nein war gelogen: eine Sau. Hinten die Abdrücke und vorne. Da waren Blätter drüber. Das war eine kleine Sau. Die hatte vielleicht 20 Kilogramm gehabt. Das sehen Sie an der Größe der Fährte, des Trittsiegels."
"Wir folgen jetzt diesem Sauwechsel. Das ist ja fast wie eine Schneise in diesem jungen Wald."
Im Wald bei Tübingen kommen radioaktiv belastete Tiere so gut wie nie vor. Baden-Württemberg veröffentlicht dazu anders als Bayern jährlich mehrere tausend Messwerte – auch aus der sogenannten Eigenkontrolle der Jäger über die Messstellen des Jagdverbands.
"Wenn ich schon etwas tot mache, finde ich, dann verwerte ich das wirklich bis zum Letzten. Aus der Zunge mache ich dann Sülze, aus der Leber der Sau mache ich Leberwurst. Dann möchte ich es auch alles so verwerten, dass es nicht für den Müll geschossen ist. Es ist das naturnaheste Lebensmittel im Bereich Fleisch, was es überhaupt gibt. Das Biosiegel ist uns ja nicht erlaubt. Aber ich kenne nichts, was mehr bio ist als Wild!"
Michael Datz, der Tübinger Jäger, ist auf dem Rückweg zu seinem Auto. Unseren Weg haben an diesem Vormittag nur ein paar Rehe gekreuzt. Bei den Wildschweinen blieb es bei den Fährten der letzten Nacht.
"Manchmal kommt etwas komplett geräuschlos. Wir haben jetzt hier einen Keiler, ich habe ihn ein paar Mal schon gesehen – aber er war schlauer als ich – der hat bestimmt 80, 90 Kilogramm. Also, das ist ein richtiges Kerlchen. Aber der ist so schlau, der kommt geräuschlos. Da hören Sie gar nichts. Wenn eine Rotte Sauen kommt, das hören Sie. Sie unterhalten sich untereinander. Die machen auch Krach und zoffen sich untereinander, wie Kinder halt. Da quiekt mal einer. Das hört man dann schon von weitem. So einen alten Keiler hört man manchmal überhaupt nicht."
"Die älteren Wildschweine haben auch einfach Erfahrung?"
"Genau das ist es. Die sind deshalb so alt geworden, weil sie so clever sind."