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Radiohead-Doku bei Arte
Kein Sklave dieses einen Songs

Mehr als vierzig Millionen verkaufte Alben weltweit und eine Evolution vom Britpop und Rock-Sound zur Band mit experimentellem und konsequent eigenem Stil. In den internationalen Feuilletons sind Radiohead Kritikers Liebling. Auch Schriftsteller, Philosophen und Musikwissenschaftler sind hingerissen.

Von Peter Backof |
Radiohead-Frontmann Thom Yorke während eines Konzerts in Mexiko City im Oktober 2016.
Radiohead-Frontmann Thom Yorke während eines Konzerts in Mexiko City im Oktober 2016. (dpa / EFE / OCESA)
"Alles fing an der Abbington-Schule an, an der Privatschule, auf die sie alle gingen."
Abbington, das liegt bei Oxford, weiß Radiohead-Biograf Mac Randall, am Beginn der Doku "Die Welt, wie Radiohead sie sieht". Und eine konventionelle Bandbiografie könnte in Gang kommen: Auf diesem Schulhof trafen sie sich, nannten sich "On A Friday", weil sie immer freitags probten. Gut, das sind Trivia zur Band, die ich auch bei Wikipedia erfahre.
Und um das vorwegzunehmen: Radiohead, die Band mit dem kultigen, weil auf mich immer so schön verhärmt wirkenden Sänger Thom Yorke, bleibt während der 53 Minuten des Films von Benjamin Clavel – persönlich – fast abstrakt. Nur ab und zu sind Yorke oder Gitarrist Jonny Greenwood hinein montiert; Archivmaterial oder Fernsehauftritte in Talk Shows.
George A. Reisch : "Ich glaube, Thom Yorke hatte nach dem Erfolg von 'Creep' große Angst, von nun an Sklave dieses einen Songs zu sein."
Mutmaßt der Philosoph George A. Reisch, während Mac Randall sich festlegt:
Mac Randall : "Die Bedeutung, die 'Smells Like Teen Spirit' ein paar Jahre zuvor für Nirvana hatte, ähnelt dem, was 'Creep' für Radiohead bedeutete."
Man kann sich reiben
Sechs, sieben Jungs um die Fünfzig reden über die Bedeutung, die Radiohead für sie hatte und immer noch hat. Sie sezieren Songtexte, literaturwissenschaftlich beflissen, oder so, als wollten sie nochmal eine Seminararbeit über ihre Lieblingsband schreiben. Oder sie denken darüber nach, wie viel Erfolg eine Rockband überhaupt haben darf, ohne als angepasst zu gelten. Radiohead sind dafür eine sehr gute Projektionsfläche, denn die Band wechselte über die Jahrzehnte ihre Identität mehrfach, zwischen Stadionrock und elektronischen Experimenten. Immer etwas auf der Flucht vor den Geistern auf dem Album davor? Die Interpretationen der "Experten" sind: Durchaus unterhaltsam! Weil man sich so schön daran reiben kann. Über Thom Yorke heißt es:
"Dieser Archetypus geht bis zu Hamlet zurück. Er ist die große, existenziell depressive Figur, der launische Teenager, der mürrische Student, der auf Partys nicht tanzen will. Und ich denke, das hat eine gewisse philosophische Gültigkeit."
Was soll man auch sagen über Thom Yorke, der ein Interview für diese Doku womöglich ausschlug? - er gibt selten Interviews -, über seine Stimme, die in jeder Zeile mehrmals wegbricht und gleichzeitig so etwas wie lyrische Unendlichkeit anpeilt. Schade, dass die Doku musikjournalistisch wenig liefert. Zwischendurch wird Komponist Steve Reich herbeizitiert, der sich vage über den Zusammenhang von Mensch und Maschine in seiner eigenen Musik äußert, die er – ebenso vage – bei Radiohead gespiegelt sieht. Aber oft kommen Gemeinplätze wie:
"Colin Greenwood ist ein Musterbeispiel für einen Bassisten. Er zieht nicht viel Aufmerksamkeit auf sich, ist aber immer im Groove mit Phil Selway."
Etwas überinterpretiert
Dem Schlagzeuger. Dennoch. "Die Welt, wie Radiohead sie sieht" hat starke Momente. Wenn es etwa – wieder ganz literaturwissenschaftlich – um den Nachweis des Einflusses der kanadischen Autorin Naomi Klein auf Thom Yorkes Texte geht. Ihr Buch "No Logo" gilt als Bibel der Globalisierungskritiker. Und Radiohead haben daraus zum Beispiel die Konsequenz gezogen, nicht mehr mit dem Establishment der Musikindustrie, sprich dem Label EMI, zusammenarbeiten, sondern ihr Album "In Rainbows" zunächst nur zu streamen. Dafür konnte man sogar soviel bezahlen, wie man wollte. Der Erfolg war durchschlagend. "In Rainbows" spielte 2007 mehr Geld ein als alle Alben davor.
"Wie kaum eine andere mir bekannte Band, zumindest in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren, steht Radiohead für diese Zeit. Wenn sie sagen: 'Das ewige Eis schmilzt', oder: 'Der Präsident ist ein Lügner', hört man ihnen zu. Sie sind voll im Thema."
Unserer Zeit, argumentiert die Doku am Ende. Radiohead seien selber Medien der Digitalisierung und der Globalisierung. Manches wirkt etwas überinterpretiert. Doch "Die Welt, wie Radiohead sie sieht" bietet Mehrwert und ist empfehlenswert. Für Fans oder Zuschauer, die alles besser wüssten: Es gibt viel zu hören von dieser Stimme.