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Radiolexikon: Frühgeburt

In rund acht Prozent aller Fälle kommen Kinder zu früh zur Welt. Das muss nicht in jedem Fall schlimm sein. Problematisch wird es aber oftmals bei "Frühchen", die schon nach 32 Wochen oder noch früher geboren werden.

Von Justin Westhoff |
    So selten ist es nicht, dass die Freude über Schwangerschaft und Kindersegen getrübt wird. In rund acht Prozent der Fälle kommt das Baby zu früh zur Welt. Die Definition umfasst allerdings alle Geburten vor der 37. Woche – im Durchschnitt dauert eine Schwangerschaft 40 Wochen. Die größeren Probleme gibt es bei "Frühchen", die schon nach 32 Wochen oder gar noch früher geboren werden und sehr wenig wiegen. Dabei ist das Geburtsgewicht nicht einmal das Hauptproblem.

    "Es kommt viel mehr auf die Reife, das Tragzeitalter an als auf das Gewicht. Denn das Gewicht kann einen völlig in die falsche Richtung bringen – das wissen wir von Störungen des Stoffwechsels, wo das Gewicht viel höher ist als erwartet und die Unreife im Vordergrund steht",

    sagt Professor Klaus Vetter vom Vivantes-Klinikum Berlin-Neukölln, der eine der größten Geburtskliniken in Deutschland leitet. Immer wieder melden einzelne Kliniken, sie hätten ein Neugeborenes mit 300 Gramm oder weniger gerettet. Perinatalmediziner – Spezialisten für die Zeit vor, während und nach der Geburt – halten das für verantwortungslos. Auch der Elternverband "Das früh geborene Kind" verurteilt diese Art von Wettlauf – man solle stattdessen die Versorgung der Frühchen verbessern. Dr. Hannes Hammer, Neonatologe – also Neugeborenenmediziner – an der Berliner Charité:

    "Es gibt eine biologische Grenze, die etwa bei 24 Schwangerschaftswochen liegt; wenn man die unterschreitet, dann wissen wir, dass die Chancen der Kinder sehr, sehr schlecht sind, also unser Ziel ist es nicht, jetzt immer weiter 'runterzugehen, sondern mit den Möglichkeiten, die wir heute haben, sind die 24 Wochen eine Grenze, an der man schlecht vorbei kommt."

    Denn auch bei Babys, die zum Beispiel mit 1500 Gramm zur Welt kommen, ist die Belastung für die Eltern groß genug. Denn sie wissen um die Gefahr, dass ihr Kind Hirnschäden, Verzögerungen der motorischen und geistigen Entwicklung oder andere Behinderungen davonträgt. Die Ärzte versuchen, bleibenden Schäden möglichst vorzubeugen.

    "Wir behandeln bei den Frühgeborenen vor allem die Unreife der Lunge, und diese Lunge ist das unreifste Organ von der Entwicklung her, und da haben wir Möglichkeiten, die Lunge so zu behandeln, dass wir den Stoff, den die Lunge normalerweise selbst bildet, ersetzen und damit die Lungenunreife, die früher ein sehr großes Problem war, seit etwa Ende der 90er Jahre nicht mehr das Riesenproblem ist, seit wir dieses sogenannte Surfactant zur Verfügung haben."

    Aber andere Gefahren bestehen unverändert, so Dr. Hammer.

    "Bakterien, die normalerweise einem Kind nichts tun, auch einem normalen Neugeborenen nichts tun, sind für Frühgeborene aufgrund der verminderten Immunkapazität natürlich durchaus gefährlich. Frühgeborene haben mitunter Probleme auch anderer Organsysteme, der Magen-Darm-Trakt ist ein sehr empfindliches Organ, die Ernährung der Frühgeborenen ist zunehmend ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen, damit die Kinder einfach besser gedeihen und damit einen besseren Weg ins Leben finden."

    Leider klappt es bei "extremen" Frühchen auch nicht mit der Brusternährung.

    "Das Stillen setzt voraus, dass das Kind den Saugakt und Schluckakt koordinieren kann, das können die Frühgeborenen erst so ab 32 Wochen. Vorher werden sie mit einer Magensonde ernährt, aber bekommen durchaus Muttermilch, wir reichern auch die Muttermilch an, damit die Kinder besser wachsen."

    Die Ursachen der Frühgeburtlichkeit sind vielfältig, erklärt Professor Vetter.

    "Heute ist der größte Teil die künstlichen Frühgeburten, die man auslöst, weil die Schwangerschaft mit Gefahren verbunden ist. Da gibt es natürlich Gründe für. Die meisten sind eigentlich Frühgeburten im Sinne des Kindes, weil die Versorgung in der Gebärmutter nicht mehr ausreichen wird. Und andere Dinge sind mütterliche Erkrankungen, wo man der Mutter das nicht weiter zumuten kann und dann muss man so eine Gratwanderung begehen zwischen Mutter und Kind. Und dann bleibt die Unreife der Plazenta, und eben doch die Infektionen."

    Diese in die Gebärmutter aufsteigenden mütterlichen Infektionen scheinen also nicht mehr der häufigste Grund für Frühgeburten zu sein – ernst nehmen muss man sie dennoch. Durch regelmäßige Kontrollen des pH-Wertes in der Scheide kann die Infektion früh erkannt und behandelt werden, nötigenfalls mit Antibiotika. Schwangere sollten folglich lieber einmal zu oft als einmal zu wenig zum Arzt gehen. Weitere Ursachen für Frühgeburten sind zum Beispiel übermäßiger Stress und vor allem Rauchen während der Schwangerschaft.

    "Wir haben weniger problematische Frühgeburten als Andere, weil wir es schaffen, bei Patienten mit entsprechendem Risiko die Schwangerschaft zu verlängern"

    melden manche Geburtskliniken. Bei dieser Behauptung ist große Skepsis angezeigt. Denn es gibt leider nicht viele Möglichkeiten. Die "Tokolyse", die Behandlung mit wehenhemmenden Medikamenten, kann die Geburt allenfalls zwei Tage hinauszögern. Ansonsten gibt es die Möglichkeit, den Gebärmutterhals operativ zu verengen oder den Muttermund zu verschließen. Beides wird eigentlich nur bei Frauen angewendet, die schon zuvor Fehl- oder Frühgeburten hatten, beides ist recht ungefährlich, aber ohne Garantie. Ansonsten kann die Lungenreifung unter Umständen noch im Bauch der Mutter gefördert werden. Das Hauptgewicht aber liegt auf einer guten Behandlung durch Neonatologen, sagt Dr. Hannes Hammer von der Charité.

    "Wir haben in den letzten Jahrzehnten sehr, sehr vielen Kindern helfen können, die einen völlig normalen Lebensweg gehen; es ist natürlich so, je unreifer die Kinder werden, um so größer werden auch die Probleme, vor denen wir stehen, und die absolute Anzahl der Kinder, die schwerere Behinderungen davonträgt, die haben wir nicht beeinflussen können. Nur: Wir haben einer große Zahl von Kindern, die früher mit leichten und mittleren Schäden überlebt hätten – den können wir heute viel besser helfen."

    Und so hat sich insgesamt, wie Professor Vetter erläutert, die Zahl der Frühgeburten auch kaum verändert.

    "Sie hat einen Zuwachs nur dadurch bekommen, dass man Kinder, die ganz jung sind, früher als Aborte nicht weiter versorgt hat. Andererseits gibt es aus anderen Gründen weniger Frühgeburten, weil man die Infektionen versucht, auszuschließen, so bleibt eigentlich in der Bilanz die Zahl ungefähr gleich in den letzten 20 Jahren."

    Aber die Chancen, möglichst viele Frühchen mit möglichst wenigen bleibenden Behinderungen zu retten – sie könnten gerade auch in Deutschland höher sein. Internationale Studien zeigen, dass die Versorgungsqualität durch "Mindestmengen" gesteigert werden kann. Gemeint ist damit, dass ein Team aus unterschiedlichen Fachgebieten, das vor allem extrem unreife Frühgeborene häufig behandelt, bessere Möglichkeiten und mehr Erfahrungen hat als eine Klinik, die nur ganz wenige Fälle pro Jahr betreut. Dass sich jedoch solche Krankenhäuser sträuben, die Behandlung der problematischsten Frühchen ausschließlich den erfahrenen Zentren zu überlassen, hat einen banalen, aber beschämenden Grund: Diese Leistung bringt einer Klinik viel Geld ein, egal, wie gut sie auf diesem Gebiet ist.

    "Wir müssen uns orientieren auch an anderen Ländern, die diese Zentralisierung von Risikopatienten durchführen, damit die Leute, die notwendig sind, diese Kinder zu betreuen, auch wirklich in ausreichender Zahl an einem Ort zur Verfügung stehen, und die Wohnortnähe, das ist in Deutschland kein Problem, man muss eben überlegen, dass man hier lieber sein Geld dafür verwenden sollte, dann die Mütter für diese Zeit eben an der jeweiligen Klinik unterzubringen."

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