Mit Klingeln beginnt jeder Morgen im Zentrum für Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhauses Berlin. Ayurveda-Spezialist Elmar Stapelfeldt ruft so das Team zusammen für eine Übung namens "Störche". Alle stehen auf den Zehenspitzen, breiten die Arme wie die Zugvögel aus und klatschen sie über dem Kopf zusammen.
"Um uns zu dehnen und Luft ins System zu bekommen, die Muskulatur zu strecken, die Gelenke ein bisschen zu lockern."
Auch wenn diese Übung in vielen anderen indischen Traditionen genutzt wird: Eine ihrer Haupt-Wurzeln ist Ayurveda, neben der traditionellen chinesischen die bekannteste asiatische Volksmedizin, Tausende von Jahren alt.
"Dieses Medizinsystem hat eine alte Geschichte, aber nicht wirklich die wissenschaftliche Anerkennung, die Ayurveda verdient, in der Welt der westlichen Medizin."
Das aber habe sich in den letzten Jahren gebessert, sagte dann noch der Botschafter Indiens in Deutschland, Vijay Gokhale, bei einer Medizin-Konferenz in Berlin. Denn inzwischen wird Ayurveda an einigen deutschen Universitäten gelehrt, und es gibt mehrere Kliniken, wo diese Art der Naturheilkunde praktiziert wird.
Welche Verfahren hauptsächlich angewendet werden, erklärt der Leiter der Ayurveda-Gruppe am Immanuel-Krankenhaus, Dr. Christian Keßler:
"Dazu gehören zum Beispiel körpertherapeutische Verfahren, also Massagen, physiotherapeutische Elemente, dazu gehören bewegungstherapeutische Aspekte. Dazu gehört die Kräuterheilkunde. Dazu gehören sogenannte ausleitende Verfahren, dazu gehört ganz zentral auch die Ernährungstherapie, und dazu gehören auch Aspekte wie Lebensstil-Medizin, also wie strukturiere ich den Tagesablauf.
Die Vorteile sind vor allem im Bereich Prävention angesiedelt, und das finde ich einfach wahnsinnig toll, dass man seine Patientinnen und Patienten im Idealfall dazu befähigt, eigene Beiträge zu leisten, um Krankheit gar nicht erst entstehen zu lassen. "
Beliebt sind etwa spezielle Massagen. Etwa mit Kräuterstempeln: Dabei werden Pflanzenteile erwärmt und fest in ein Säckchen gewickelt, mit dem der Körper dann bearbeitet wird. Oder es wird reichlich Öl auf die Haut gegossen.
"Ich habe ein ganz spezielles Öl rausgesucht: Wacholder-Brennnessel. Das Öl hat die Eigenschaft zu nähren, es ist für den Bewegungsapparat, /mal gucken, wie sich das so anfühlt."
Besonders wirksam bei chronischen Erkrankungen
Selbstverständlich können nicht alle Krankheiten verhindert werden. Bei manchen ist Ayurveda aus Sicht von Naturheilkundlern besonders wirksam.
"Chronische Erkrankungen des Bewegungsapparates zum Beispiel, aber auch lebensstilassoziierte Erkrankungen wie chronische Erschöpfung, Stress, Erkrankung des Verdauungsapparates, insbesondere solche auch mit psychosomatischer Komponente, also das Reizdarmsyndrom oder Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten.
Im Grunde unterscheidet sich Ayurveda da jetzt auch nicht so wesentlich von zum Beispiel der chinesischen Medizin oder naturheilkundlichen Ansätzen, hat aber ein anderes Arsenal an therapeutischen Elementen zur Verfügung, die im Einzelfall eben für unsere Patienten besonders sinnvoll und wirksam sein könnten.
Ayurveda beansprucht für sich nicht für einzelne medizinische Fragestellungen zuständig zu sein, sondern für Gesundheit und Krankheit insgesamt."
Ayurveda ist keine Magie
Es gibt jedoch Skeptiker, die fernöstliche Heilmethoden eher für Hokuspokus halten. Dem setzt der Arzt und Indologe Dr. Keßler entgegen, er weise immer selbst auf die Grenzen hin.
"Ich bin völlig überzeugter Schulmediziner und völlig überzeugter Naturheilkundler zugleich, und Ayurveda kocht auch nur mit Wasser. Das heißt, Ayurveda ist keine Magie, mit der man schwerwiegende chronische Erkrankungen, für die die Schulmedizin keine Rezepte hat, auf einmal heilen kann. "
Womöglich liegt die Skepsis daran, dass mittlerweile jede Wellness-Oase etwas anbietet, dass sie "Ayurveda" nennt.
"Und das heißt nicht einfach nur, dass man einen Liter Sesamöl auf jemanden draufkippt und dann einmal von oben nach unten einreibt, dass man sich irgendwo in einem Luxushotel für viel Geld Synchronmassagen leistet, was einen Wellness-Effekt hat, aber es ist nicht im Kern das, was Ayurveda medizinisch zu bieten hat."
Ein Schnellkurs reicht nicht
Hinzu kommt, dass manche Heilpraktiker einen kurzen, aber teuren Kurs absolvieren und sich anschließend mit Ayurveda-Künsten brüsten.
"Das reicht aus, um einen Eindruck zu kriegen, aber mitnichten dafür, therapeutisch verantwortungsvoll mit Ayurveda arbeiten zu können. Vielleicht sei noch hinzugefügt, dass Ayurveda in Indien Staatsmedizin ist und ein Ayurvedastudium vier bis sechs Jahre dauert, und wer der Meinung ist, nach einem Wochenende Ayurvedakurs das an Patienten anwenden zu können, der befindet sich wirklich auf dem Holzweg."
Auch Ayurveda hat Nebenwirkungen
Auch die verbreitete Vorstellung, Naturheilkunde habe grundsätzlich keine Nebenwirkungen, lehnt der Arzt und Ayurveda-Experte ab.
"Das halte ich für völligen Quatsch, denn alles, was für sich beansprucht, sehr wirksam zu sein, hat auch potenziell Nebenwirkungen, und Ayurveda hat auch Nebenwirkungen, und die sind auch nicht immer alle positiv."
Über eine Nebenwirkung von Ayurveda-Arzneien wurde hierzulande mitunter berichtet, nämlich Vergiftungen mit Arsen, Blei oder Quecksilber. Zwar gibt es auch – selten – in Indien Ayurveda-Präparate, die bewusst Schwermetalle enthalten, die aber sind in Deutschland strikt verboten. Problematischer scheint, dass sich manche Menschen Präparate auf Umwegen besorgen, die schwer verunreinigt sein können.
"Ich rate meinen Patienten grundsätzlich davon ab, Sachen einfach im Internet zu bestellen, das Gleiche gilt auch für Präparate-Bezug im Urlaub irgendwo in Südasien, Indien, Sri Lanka. Es ist leider so, dass Menschen, wenn sie im Urlaub sind, häufig auch ihr rationales Denken runterfahren und das heißt ganz konkret, dass die Produkte über Apotheken bezogen werden und dass einfach hiermit verantwortungsvoll umgegangen wird."
Beflügelnde Wirkung
Wie gesagt, nicht nur Präparate, sondern Ayurveda insgesamt wird mittlerweile im Westen auf Sicherheit und Wirksamkeit hin mit modernen wissenschaftlichen Methoden erforscht. Einiges wird verworfen, anderes scheint verblüffend gut zu helfen. Jedenfalls im Hinblick auf das allgemeine Wohlbefinden kann die fernöstliche Heilkunde beflügeln und fließt in die Ausbildung ein.
"Wir machen jeden morgen hier in der Abteilung mit den Kollegen die Störche, die Übungen sind gespeist aus verschiedenen Traditionen wie Ayurveda und Yoga, für uns hat das einen schönen Effekt, und die sind auch sehr ansteckend. Wir machen das bei den Seminaren vorneweg auch öfter, und viele Leute haben das schon übernommen. "