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Radiolexikon Gesundheit: Off-Label-Use

Oftmals werden Medikamente für Krankheiten verschrieben, für die sie gar nicht zugelassen sind. Dann spricht man vom sogenannten Off-Label-Use. Das führt häufig zu neuen Erkenntnissen über Wirkungsmöglichkeiten, kann aber auch gefährlich für Patienten werden.

Von Justin Westhoff | 18.06.2013
    Ein Patient litt unter dem "Restless-Leg-Syndrom", einem sehr störenden nächtlichen Zittern und Zucken der Beine. Es gibt zwar kaum Heilung, aber manche Medikamente können helfen. Diese jedoch waren nur für andere Krankheiten wie Parkinson offiziell zugelassen. Der Arzt verschrieb sie dennoch - ein etwas älteres Beispiel für "Off-Label-Use".

    "Wenn man von Off-Label-Use spricht, spricht man im Prinzip von der Anwendung eines Arzneimittels außerhalb der im gesetzlichen Rahmen erteilten Zulassung durch die Arzneimittelbehörden."

    Jedes Medikament ist nur für die Behandlung einer oder mehrerer klar definierter Krankheiten erlaubt, und das auch nur in bestimmten Dosierungen. Aus guten Gründen, wie Josef Hecken erklärt. Er ist beim Gemeinsamen Bundesausschuss von Kassen und Leistungsanbietern der "unparteiische Vorsitzende" - so sein korrekter Titel. Der G-BA legt fest, welche Medikamente von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden müssen.

    "Verschreibungspflichtige Arzneimittel sind kein Brausepulver, das man einfach nach Belieben dem menschlichen Körper zuführen kann, sondern sie können natürlich auch mit schwerwiegenden Nebenwirkungen behaftet sein, und deshalb gibt es ein ganz formales Zulassungsverfahren, ich vergleiche das mal ganz banal mit dem TÜV-Verfahren, in dem zum Beispiel Kraftfahrzeuge eben auch auf ihre Sicherheit hin überprüft werden. Wenn man sagt, wir verlangen eine Zulassung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung, ist das nichts, um Geld zu sparen, sondern um Sicherheit zu erhöhen, ich rufe in Erinnerung den dramatischen Fall, den wir alle noch kennen: Contergan."

    Nach diesem Arzneiskandal Ende der Fünfzigerjahre wurden strengere Gesetze erlassen, vor allem die behördliche Prüfung vor der Zulassung. Neue Wirkstoffe werden dabei jedoch meist nur bei begrenzten Patientengruppen für bestimmte Anwendungen geprüft. Das liegt auch daran, dass Pharmafirmen ihre Mittel möglichst schnell auf den Markt bringen wollen. Aber unabhängig davon können seltene Nebenwirkungen meist erst nach der Zulassung entdeckt werden. Umgekehrt zeigt sich in der Praxis womöglich, dass das Medikament auch gegen andere Krankheiten hilft. Und dann werden sie eben "off-label" eingesetzt, was so viel heißt wie außerhalb der eigentlichen Bestimmung.

    Das kann in vielen Fällen sinnvoll oder sogar notwendig sein, sagt der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Professor Wolf-Dieter Ludwig:

    "Also sinnvoll ist ein Off-Label-Use immer dann natürlich, wenn es sich um eine schwere lebensbedrohliche Erkrankung handelt, wenn keine Alternativen da sind und wenn der medizinische Standard dafür spricht, dass das Medikament in dieser Indikation wirksam ist, obwohl es nicht zugelassen ist."

    So etwas ist besonders häufig bei seltenen Erkrankungen sowie in der Krebstherapie der Fall. Josef Hecken macht deutlich, warum:

    "Wenn man sich einfach vorstellt: Wir haben zwar das Gefühl, das Pillchen hilft Krebspatienten, wir können es aber für diese Leute nicht einsetzen, dann hätte das die Konsequenz, dass Menschen, die schwer krank sind, viele, viele Jahre auf eine Innovation warten müssen, und das ist ja unser aller Ziel: Wenn wirklich etwas Hilfreiches zustande gekommen ist, das auch so schnell wie möglich den Menschen zugutekommen zu lassen."

    Ein weiteres Beispiel ist die Kinderheilkunde. Klinische Prüfungen zur Arzneimittelzulassung können aus ethischen Gründen meist nicht mit Kindern gemacht werden. Aber Kinder sind keine "kleinen Erwachsenen". Die Testergebnisse lassen sich nicht einfach auf sie übertragen.

    "Man hat den Durchschnittsbürger in Studien einbezogen, man hat nicht überprüft, in welcher Form ein bestimmter Wirkstoff auf den kindlichen Organismus wirkt, und sehr häufig kommt es dann in verminderten Dosierungen zur Zulassung von Arzneimitteln im "Off-Label-Use"für Kinder zum Beispiel."

    Beim Off-Label-Use spielt allerdings in jedem Fall die Haftung für eventuell auftretende gesundheitliche Schäden eine große Rolle. Wenn ein Arzneimittel zugelassen ist, dann haftet der Hersteller für Nebenwirkungen. Außerhalb der offiziellen Anwendung haftet im Prinzip der behandelnde Arzt. Wenn allerdings mehrere Studien über eine gute Wirksamkeit vorliegen, können Ärzte sogar verpflichtet sein, dem Patienten ein solches Medikament anzubieten.

    Seit einigen Jahren erstellt eine Expertengruppe eine Art vorläufige Zulassung, um mehr rechtliche und finanzielle Klarheit herzustellen. Akzeptiert das Gremium, angesiedelt beim Bundesgesundheitsministerium, die Möglichkeit eines Off-Label-Use, bleibt dem Arzt jedoch immer noch eine verstärkte Pflicht zur Aufklärung. Wolf-Dieter Ludwig, Chef der Arzneimittelkommission:

    "Der Arzt ist verpflichtet bei einem Off-Label-Use von Arzneimitteln, den Patienten sehr genau darüber zu informieren, dass das Arzneimittel für dieses Anwendungsgebiet nicht zugelassen ist, gelegentlich auch, dass die Dosierung, die er verabreicht, nicht zugelassen ist, und diese Aufklärung muss schriftlich festgehalten werden. Und ich würde grundsätzlich auch empfehlen, dass der Patient diese Aufklärung unterschreibt, sodass dokumentiert ist, dass der Patient auch über die Risiken des Off-Label-Use adäquat informiert wurde."

    Insgesamt kommt Off-Label-Use von Medikamenten recht häufig vor. Zu häufig, kritisiert Professor Ludwig alle Beteiligten:

    "Zunächst auf der Seite der Ärzte, dass sie glauben, dass ein neues Arzneimittel ein besseres Arzneimittel ist, was in den meisten Fällen nicht zutrifft, und dass sie dann frühzeitig und ohne dass wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, Medikamente off label einsetzen. Die Industrie, dafür gibt es ganz klare Untersuchungen, machen mehr oder weniger direkt Werbung für Off-Label-Use. In Amerika, wo dieses consumer direct to advertising erlaubt ist, gibt es eine ganz große Bewegung, dass man auch den Off-Label-Use bewirbt, und vonseiten der Patienten ist es natürlich so, dass sie zum Teil auch instrumentalisiert werden durch die pharmazeutischen Unternehmen und neue Arzneimittel in Off-Label-Gebieten einfordern von dem Arzt, obwohl die Erkenntnisse nicht vorliegen."

    Deshalb lautet Ludwigs Rat aus seiner hauptberuflichen Erfahrung als Onkologe an Behandler und Patienten, insbesondere, wenn das Mittel noch nicht lange auf dem Markt ist:

    "Aus Sicht der Ärzte würde ich Zurückhaltung empfehlen. In den meisten Indikationen, bis auf wenige Ausnahmen in der Onkologie und natürlich in der Pädiatrie, gibt es ausreichend gut erprobte und auch sichere Alternativen, sodass ein Off-Label-Use nicht gerechtfertigt ist. In den seltenen Fällen, wo man über einen Off-Label-Use nachdenkt, sollte man sich immer die Fragen stellen: Gibt es wissenschaftliche Belege für den Einsatz? Handelt es sich um eine lebensgefährliche Erkrankung? Und ich würde generell Patienten empfehlen, dass sie den Arzt fragen, welche Erkenntnisse liegen für diesen Off-Label-Use vor? Wenn die Erkenntnisse sehr gering sind, sollte man auch möglicherweise nach Alternativen fragen, gleichzeitig würde ich den Patienten empfehlen, dass sie den Arzt fragen, wie lange ist dieses Arzneimittel zugelassen? Und Off-Label-Use bei neuen Arzneimitteln sollte der Patient immer skeptisch gegenüberstehen."